Название | Virus |
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Автор произведения | Kristian Isringhaus |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738086386 |
„Was ist das?” flüsterte er kurz und knapp in sein Revers.
„Keine Ahnung. Wachsam bleiben!” war die prompte Antwort in seinem Ohr. Der Funk funktionierte also. Hier vorne war Hanke ganz alleine für die Sicherheit der Kanzlerin zuständig. Kein anderer Personenschützer oder Geheimdienstler war ihr so nah. Er musste sich ein Bild machen und im Zweifelsfall in Sekundenbruchteilen eine Entscheidung treffen. Er blickte zur Kanzlerin, die von dem Ton ebenso ergriffen war, wie jeder andere im Raum.
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Jo Somniak war einer der wenigen Wissenschaftsjournalisten, die eine Akkreditierung für den Gipfel erhalten hatten. Er saß in einer der hinteren Reihen. Obwohl er von seinem Platz aus nicht den besten Blick auf die Bühne hatte, wusste er, dass hier etwas Unglaubliches passierte.
Er legte seinen Laptop auf den Boden, richtete seine Nikon auf die Bühne und drückte auf den Auslöser.
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Professor Wang Dadong blickte in die in Verzückung und Schrecken zugleich erstarrten Gesichter seiner Zuhörer. Etwas lief hier schief. Gewaltig schief – dies hatte sein großer Auftritt sein sollen.
Und er wurde es. Urplötzlich schoss ein gigantischer Blitz aus der Metallkugel über seinem Kopf auf ihn nieder. 500.000 Volt strömten durch seinen Körper in den Boden. Wang Dadong war tot, bevor der Blitz vorbei war.
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Die durchschnittliche Reaktionszeit eines Menschen liegt bei etwa sieben zehntel Sekunden. Drei zehntel Sekunden nachdem der Blitz begonnen hatte, setzte Andreas Hanke mit einem gewaltigen Sprung über zwei Stuhlreihen hinweg, stieß dabei Menschen, zwischen denen er hindurch sprang, unsanft zur Seite, riss die Kanzlerin zu Boden und warf sich schützend auf sie. Halb sah, halb spürte er, wie neben ihm die anderen Regierungschefs von ihren Personenschützern auf gleiche Weise von dem Blitz abgeschirmt wurden. Dann wanderte sein Blick zur Bühne. Was er sah, ließ ihn zum ersten Mal in seinem Berufsleben für wenige Augenblicke seine Aufgabe vergessen.
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Debbie merkte, wie ihre Knie nachgaben. Etwas Schrecklicheres hatte sie noch nie gesehen. Sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wie lange ein Blitz dauern konnte. Normalerweise sah man Blitze nur aus weiter Ferne und normalerweise sah man niemanden, der von dem Blitz getroffen wurde. Dieser Blitz schien eine Ewigkeit zu dauern.
Er hielt den leblosen, in entsetzlichen Spasmen zuckenden Körper des Professors in seinem Bann gefangen. Sein teurer Maßanzug hatte sofort Feuer gefangen, unkontrollierte Nervenimpulse ließen sämtliche Muskeln seines Körpers wieder und wieder kontrahieren, sein Gesicht war zu einer widerlichen Fratze verzogen, seine heraustretenden Augen sendeten schon jetzt kein Leben mehr aus, und eine Nebelwolke schlagartig aus seinem Körper verdampfender Flüssigkeit stieg von ihm empor.
Doch all das war nicht einmal das Schlimmste an diesem Bild.
Mit dem ersten Auftreffen des Blitzes hatte sich eine Art Feuerspur entzündet und sich schnell und geradlinig zur rückwärtigen Wand durchgefressen. Die Wand brannte nun, allerdings nicht überall. Es wirkte fast wie ein Bild. Eine Schrift. Ganz eindeutig. Auf der Wand hinter dem Professor stand in flammenden Lettern der Schriftzug ‚A87’.
Debbie konnte die Schrift lesen, aber keinen klaren Gedanken dazu fassen. Zu schrecklich war das gesamte Szenario. Im Vordergrund der immer noch vom Blitz gefangene, entsetzlich zuckende und brennende Professor, im Hintergrund die flammende Schrift und dazu über allem dieser schreckliche Ton, der angesichts des Bilds, das er untermalte, jegliche Schönheit verloren hatte.
Dann hörte der Blitz ebenso plötzlich auf, wie er begonnen hatte, und mit ihm auch der Ton. Es hatte kaum drei Sekunden gedauert, doch Debbie war es vorgekommen wie eine Ewigkeit. Mit einem dumpfen Geräusch schlug der qualmende, brennende und bis zur Unkenntlichkeit verkohlte Leichnam des Professors auf den Bühnenboden auf. Hinter ihm brannte nun die gesamte Wand, und einzelne Zeichen waren nicht mehr zu erkennen. Doch das bemerkte Debbie in diesem Moment nicht mehr.
Wie lange dauert ein Blitz? war ihr letzter Gedanke, bevor ihr schwarz vor Augen wurde und sie in sich zusammen sank.
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Andreas Hanke verlor keine Sekunde. In dem Moment, als der Blitz vorüber war, riss er die Kanzlerin unsanft hoch und schob sie eilenden Schritts zum ausschließlich für die Regierungschefs vorgesehenen Fluchtweg rechts von der Bühne. Sie würde von seinem Griff vielleicht ein paar blaue Flecken am Oberarm als Erinnerung behalten, doch das störte ihn nicht. Bereits nach wenigen Schritten waren sie umringt von vier weiteren Personenschützern des BKA. 28 Sekunden, nachdem der Blitz aufgehört hatte, saß die Kanzlerin in ihrer gepanzerten Mercedes-Benz Limousine in der Tiefgarage und verließ den Ort des Geschehens.
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Jo Somniak war kein gefühlloser Mensch. Das Schicksal des Professors ließ ihn nicht unberührt. Aber in diesem Moment hatte er wichtigere Gedanken. Er hatte im richtigen Augenblick auf den Auslöser gedrückt. Er hatte ein unglaubliches Foto geschossen. Die Zufriedenheit hierüber überwog jetzt über das Mitgefühl mit dem Professor.
Dieses Foto war der Grundstein zu seinem Moment des Ruhms. Er entnahm seiner Kamera die Speicherkarte, steckte sie in einen kleinen, extra dafür eingerichteten Schlitz in seiner Schuhsohle, und legte eine neue Karte in die Kamera ein.
4.
Holger Petersen schnarchte. Er wusste es nicht, und wenn es ihm jemand erzählt hätte, wäre es ihm egal gewesen, wie ihm fast alles egal war. Zudem schlief er alleine, aber wahrscheinlich hätte es ihn auch nicht gestört, wenn jemand neben ihm gelegen hätte, denn Rücksichtnahme gehörte schon lange nicht mehr zu Holgers Tugenden.
Das Telefon klingelte, vermochte Holger aber höchstens halb zu wecken. Nach dem fünften Klingeln meldete sich der Anrufbeantworter, doch der Anrufer legte auf. Dann klingelte das Telefon erneut. Diesmal wachte Holger ganz auf und Wut überkam ihn. Wer wagte es, seinen Mittagsschlaf zu stören? Wer nahm sich das Recht? Erneut legte der Anrufer auf, als sich der AB meldete, und versuchte es erneut. Holger würde das aussitzen müssen.
Er öffnete ein Auge und blickte auf den digitalen Radiowecker neben seinem Bett. 17:04 Uhr. Als der Anrufer es um 17:09 zum siebten Mal versuchte, griff Holger entnervt nach dem drahtlosen Telefon auf seinem Nachttischchen und nahm ab.
Er versuchte seinen Namen zu nennen und scheiterte kläglich. Ein heiseres Grunzen war alles, was aus seiner Kehle drang. Wann hatte er seine Stimmbänder das letzte Mal benutzt? Gestern? Vorgestern? Er wusste es nicht mehr.
„Holger, bist du das?” fragte der Anrufer. Es war Lars Metzger, Holgers ältester und inzwischen einziger Freund. Lars war bei der Kripo.
„Müsste ich für in den Spiegel gucken, keine Ahnung.” Holgers Stimme war ein kleines bisschen besser. Noch immer heiser und eingerostet, aber mit Wohlwollen und Konzentration durchaus verstehbar.
„Hör auf mit dem Scheiß und beweg deinen Arsch zum Kongresszentrum. Hier hat der Blitz eingeschlagen.”
„Na und?”
„Während eines Vortrags, Mann. Zweihundert Menschen waren in dem Saal und es gibt einen Toten. Die Umstände sind mehr als dubios.”
„Und was habe ich damit zu tun?” Holger versuchte, sich seine eingerosteten Stimmbänder zunutze zu machen und versoffen zu klingen. Vielleicht wollten sie ihn nicht da haben, wenn er zu unrasiert klang.
„Du bist in einer halben Stunde hier, das hast du damit zu tun!” Damit legte Lars auf. Er war der Einzige, der sich traute, so mit Holger zu sprechen. Erstens waren die beiden seit Kindergartenzeiten miteinander befreundet und zweitens konnte Holger es sich nicht leisten, ihn auch