Название | Wo Anders |
---|---|
Автор произведения | Inga Berg |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783742769596 |
So manch ein verirrter Wanderer habe dort Menschen angetroffen und seltsame Dinge erlebt aber nie ist ihnen irgendetwas zugestoßen, immer wurden sie dort freundlich aufgenommen und wieder auf den Weg gebracht.
Mein Vater schwieg. Zurück im Auto umfasste er die drei Kieselsteine, die er seit jenem Tag immer bei sich trug, nur um sicherzugehen, dass sie wirklich existierten, und wendete den Wagen. Noch einmal sah er den riesigen, alten Baum, der sich gegen den in Abendrot getauchten Himmel dunkel abhob, und erkannte nun deutlich das verkohlte Gebälk des ehemals herrschaftlichen Hauses mit seinem mächtigen strohgedeckten Dach. Und da war es ihm, als sehe er einen Lichtkegel zwischen den alten Obstbäumen auf und ab tanzen, so als wenn ein Traktor sich seinen Weg über holprige Feldwege bahnen würde. Er hielt den Wagen an, suchte nach dem Gefährt, das auf den Hof zugehalten hatte, doch da war nichts mehr. Alles lag still und verlassen vor ihm in der untergehenden Sonne. Nur die drei Kieselsteine in seiner Hand waren Zeugen seiner merkwürdigen Begegnung und Beweis dafür, dass er nicht geträumt hatte.“
Mit offenem Mund und gespitzten Ohren hatte ich Esthers Erzählung gelauscht. Jedes Wort hatte ich tief in mir aufgenommen und alles beinahe selbst erlebt. Und nun hielt sie mir die Steine hin. So unbedeutend sie auch aussehen mochten, waren sie doch etwas ganz Besonderes. Sie waren greifbar gewordene Vaterliebe, denn Esthers Vater hatte sie ihr für die Dauer des Zeltlagers anvertraut, zum Schutz – aus Liebe. „ Damit ich auf dem richtigen Weg bleibe!“ hallten ihre Worte in mir nach. So also sah Liebe aus. Vaterliebe.
Vertrauensvoll und mit wichtiger Miene ließ meine kleine Freundin die drei grauglitzernden Steine aus ihrer Hand in die Meine gleiten. Kühl fühlten sie sich an und doch brannten sie auf meiner Hand. Kaum traute ich mich, mich zu bewegen oder gar meine Finger um das kostbare Gut zu schließen, und noch ehe ich es mich versah, griff Esther wieder nach ihrem Schatz und verstaute ihn sicher in dem unscheinbaren Beutel.
Plötzlich kam Bewegung ins Zelt. Wellen des Aufbruchs schlugen bis zu uns in unsere Bettenburg und in der Ferne war ein eindringliches Läuten, eine Art Scheppern, so etwas wie eine verrostete, kleine Glocke zu hören.
Aus andächtiger Starre gelöst sammelte Esther hastig all ihre Kostbarkeiten zusammen und verstaute sie wieder in ihrem Rucksack. Auch ihre Steine wurde sorgfältig wieder zurückgeschoben.
Wie willenlose Schafe folgten wir dem Strom der Kinder aus den Zelten und allen Winkeln und Ecken des großzügig angelegten Feriengeländes zu dem einstöckigen, lang gestreckten Haupthaus, vor dem wir uns am morgen schon einmal alle versammelt hatten. Kühle und gedämpftes Licht umgaben mich, als ich aus dem warmen, gleißenden Sonnenlicht direkt in den mit kaltem Stein gefliesten Hauptraum trat. Überall klapperten Teller, plauderten Kinder und hallten unzählige Schritte wider. Der Geruch von Nudeln, Brühe und Pfefferminztee erfasste mich, hüllte mich ein, zog mich in den dunklen Raum. Sehen konnte ich für einen Moment nichts. Stand einfach nur da und ließ mich in diese Welt aus hallendem Getose und deftigem Geruch ziehen. Langsam, ganz langsam gewöhnten sich meine Augen an das dämmrige Licht des fensterlosen Raumes, dessen einzige Lichtquelle aus den weit geöffneten Flügeltüren bestand, die direkt wieder auf den gepflasterten Vorhof und die Wiese mit den Zelten führten. Am Pfosten einer jeden Tür stand ein großer silberfarbener Milchkübel, an dessen Außenseite eine verbeulte Kelle hing. Der Kübel selbst war bis zum Rand mit Tee, mal war es Pfefferminztee mal Früchtetee, gefüllt. Kinder standen in Reih und Glied vor den Kübeln und schöpften unermüdlich kühle Flüssigkeit in ihre Becher. Andere standen an der am Ende des Raumes befindlichen Kantine an, in der eine rundliche Frau, mit von Hitze errötetem und glänzendem Gesicht eifrig die ihr hingehaltenen Teller füllte.
Für mich gab es nichts. Keinen Becher - keinen Tee, keinen Teller - keine Nudelsuppe, keinen Rucksack - keine weiße Plüschdecke, keine Kieselsteine - keine Vaterliebe. Selbst Esther war nicht mehr da.
Im einfallenden Sonnenlicht der geöffneten Türen tanzten tausende von kleinen Staubkörnchen. Und jedes von ihnen entsprang einem Gedanken, einem Impuls und einer sich daraus entwickelnden Bewegung. Sie kamen nie zur Ruhe. Wirbelten um mich herum, in mich hinein, durch mich hindurch. Lösten mich auf und trugen mich mit sich hinaus in das helle Sonnenlicht.
Wieder hörte ich dieses höhnische Lachen, das durch mein Ich tobte. Aufbrausend, erniedrigend, demütigend. Mich wollte hier keiner. Ich gehörte einfach nicht dazu. Die Welt war in Ordnung. Alle zufrieden mit sich und dem, was geschah, warum sollte mich da irgendjemand beachten. Ich wurde nicht gebraucht. Vielleicht war es auch besser so. Wieder brach ein tosender Kampf zwischen türkisgrüner Wut und der dunklen, bewegungslosen Resignation in mir aus. Ich schrie, ich tobte, ich brach zusammen und heulte bitterlich – unsichtbar.
Noch immer stand ich in einem der Rundbögen neben einem der Tee-Kübel und anscheinend den durstigen Mit-Zeltlager-Bewohnern im Weg. Unsanft wurde ich in Richtung Essenstische, in Richtung Tellergeklapper und Löffelgeschöpfe, in Richtung wildes Geschnatter und fröhliches Miteinander geschubst. Und ehe ich es mich versah, stand ich neben Esther, die mir einen Platz an ihrer Seite frei gehalten hatte. Erwartungsfroh sah sie mich an und ich… kämpfte nicht mehr, setzte mich.
Da schob sie mir ihren Becher, vollgefüllt mit kaltem Pfefferminztee, hin und bot mir auch ihren Teller mit köstlich duftender Nudelsuppe an. Mein Magen krampfte sich zusammen und meine Kehle fühlte sich rau und trocken an. Wie gerne hätte ich den Tee angenommen, egal ob mein Becher oder ihrer, und den salzig, würzigen Geschmack der Suppe hatte ich bereits auf der Zunge, als ich mich dabei beobachtete, wie ich den Becher zurückschob und den mir hingehaltenen Löffel abwies. Wut stieg in mir auf. Was sollte das alles hier?
Ich wollte nicht hier sein, wollte keine Freundin haben, wozu auch?
Sollte Esther sich doch eigene Freunde suchen unter ihresgleichen und mich in Ruhe lassen mit ihrer ewigen Freundlichkeit und ihren drei Kieselsteinen. Ich jedenfalls wollte nicht ihre Freundin sein. Ich hatte meinen eigenen Teller, meinen eigenen Becher und sogar eine noch viel schönere Kuscheldecke als die schöne Katharina. Nur eben nicht hier.
Und das war es überhaupt. Esther war auf meine Sachen scharf. Meine Mutter hasste es, wenn ich so sprach, aber sie war ja nicht da!
„So eine Scheiße“ fauchte ich Esther an „behalt doch dein Essen für dich, ich bin nicht scharf darauf, diesen Fraß in mich `rein zu quälen“ - stand auf und ließ eine völlig verdutzte Esther zurück.
Ich spürte, wie sich mir während meines Temperamentausbruches sämtliche Blicke zugewandt hatten. Augenblicklich waren die Gespräche an den Tischen verstummt. Sogar Katharina vergaß einen Moment lang, wie wichtig sie war und schenkte mir ihre Aufmerksamkeit und ein bisschen Bewunderung lag in ihrem Blick!
Ich triumphierte und marschierte hoch erhobenen Hauptes hinaus in das helle Sonnenlicht!
Meine Würde war wieder hergestellt. Mein Status hervorgehoben. Ich war nicht käuflich.
So schnell, wie ich das Interesse aller auf mich gelenkt hatte, so schnell ging mein Stern auch wieder unter. Jedes der vielen Augenpaare, die mich gerade noch voller Neugier beobachtet hatten, wendete sich nun wieder ihrer vorherigen Aktivität zu. Aber mein Abgang war spektakulär gewesen, das musste man mir schon lassen.
Als die Geräuschkulisse im Speisesaal wieder anschwoll und ich mir gewiss war, dass mir keinerlei Beachtung mehr geschenkt wurde, drehte ich mich vorsichtig um.
Esther saß immer noch regungslos da und starrte mich an. Voller Unverständnis und tief getroffen, aber in keinster Weise anklagend oder gar zornig. Sie saß einfach nur da und sah mich an. Ja, ich hatte meine Stellung klar gemacht und mir die Anerkennung der Meinen zurückgeholt, aber anstatt zufrieden zu sein, fühlte ich mich elend und jetzt noch einsamer als auf dem Kirchplatz heute morgen. Jede Faser meines Seins zog mich zurück in den kühlen Raum, in dem Esther saß und mich noch immer erwartungsvoll ansah. Doch es gab kein Zurück. Wie würde das denn aussehen, wenn ich jetzt zurückging und sie um Verzeihung bitten würde? - Nein, so etwas war einer Maike von Hochfelden, Tochter eines in der Gesellschaft hoch angesehenen Rechtsanwaltes, nicht würdig!