Wo Anders. Inga Berg

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Название Wo Anders
Автор произведения Inga Berg
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742769596



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hatte ich mich auf die Treppe gelümmelt und in aller Öffentlichkeit gierig Brot und Süßigkeiten verschlungen.

      Das gehört sich für ein Mädchen mit deiner Herkunft nicht, hörte ich ihn in Gedanken schon sagen. Doch als ich aufblickte, war er nicht mehr da. War genauso unvermittelt verschwunden, wie er gekommen war. Keine Reaktion, keine Beachtung, keine drei Kieselsteine und vielleicht auch besser so!

      Jetzt begann auch wieder mein Knie zu schmerzen, nur meine Tränen, die blieben weg.

      Humpelnd folgte ich dem Beispiel meiner Eltern und betrat das Foyer unseres Hauses. Besorgt kam mir meine Mutter entgegen, nahm mir meine verhängnisvolle Tasche ab und brachte mich an einem Arm stützend in die Küche. In der Küche angekommen hob sie mich unter Stöhnen auf den Tisch.

      Die Gummibärchen waren schuld. Hätte ich nur nicht so viele Gummibärchen und Marmeladenbrote gegessen, dann müsste meine Mutter jetzt nicht so schwer an mir heben. Aber Moment mal, da war ja auch noch die Schokolade von Esthers Schwester gewesen. Esther war Schuld und ich nur ein bisschen! Jäh wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als meine Mutter das inzwischen freigelegte Knie mit einem in Jod getränktem Wattebausch bearbeitete. Ein stechender Schmerz durchfuhr meinen Körper, ließ mich aufheulen und reflexartig stieß ich die verursachende Hand beiseite. Streng umfasste mich diese am Handgelenk und wieder wurde der Wattebausch auf die blutende Wunde gedrückt. Ich wehrte mich nun mit Händen und Füssen, zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen und ließ meiner Mutter keine Chance. Ich musste hier weg, runter vom Tisch, doch in dem Moment, als ich vom Tisch sprang, zwang mich ein erneuter Schmerz in die Knie. In das Knie. Ich knickte weg, direkt in die Arme meiner Mutter und ins Blickfeld meines Vaters, der, durch den Tumult aufmerksam geworden, die Küche betreten hatte. Schnell wurde ich wieder auf den Tisch gesetzt und weiter verarztet. Immer unter den kritischen Blicken des Mannes, den ich so sehr fürchtete.

      Diesmal machte ich keinen Mucks, hielt ganz still, auch wenn es mich innerlich fast zerriss. Auch meine Mutter schien hochkonzentriert bei der Sache, doch ihr leichtes Zittern und ihre kalten Hände verrieten ihre Unsicherheit. Mit desinfizierter Wunde und sauberem Verband wurde ich, vorbei an meinem Vater aus der Küche hinausgeschoben.

      Das Kummertier

      „Das Kind wird zu dick“, hörte ich meinen Vater noch sagen, bevor ich in meinem Zimmer verschwand. Also doch, ich war zu dick. Ich war zu groß, zu verträumt, zu dumm, und bestätigter Weise, zu dick.

      Mit angezogenen Beinen setzte ich mich auf mein Bett, das linke eben soweit es ging. Fest schloss ich mein Kummertier, einen kleinen Stoffesel mit treuen, großen, schwarzen Augen in die Arme und begann in sein graues, weiches Fell zu weinen. An manchen Stellen war sein Fell schon ganz verklebt von den Tränen, die er im Laufe seiner Zeit bei mir schon hatte auffangen müssen. Aber gerade dafür liebte ich ihn. Er war der Einzige, der mich wirklich weinen sah. Langsam glitten meine Hände über sein sich warm anfühlendes Plüschfell. Doch was war das? Er fühlte sich gleichmäßig und neu an. Sein Geruch war so künstlich, nach Plastik und Spielzeugladen. Erschrocken und skeptisch hielt ich ihn von mir weg, betrachtete ihn aufmerksam, untersuchte ihn gründlich und fand, was ich bereits ahnte. Die Waschanleitung an seinem linken Hinterlauf. Die hatte ich meinem Kummertier, schon längst entfernt, weil sie so kratzig gewesen war und mich gestört hatte. Dieser Esel aber hatte sie noch. Er sah genauso aus wie meiner, genauso grau, genauso groß, genauso weich, aber es war nicht meiner. Dieser hier war neu und kannte mich nicht. Er wusste nicht, wie es mir wirklich ging, kannte meine Geheimnisse nicht und noch dazu grinste er mich unverschämt an. Es schien, als lache er mich aus. Voller Wut schleuderte ich das Stofftier in die Ecke. Dunkle Ahnung beschlich mich. Mein Esel war entführt worden und ich wusste auch von wem. Ich würde ihn nie wieder sehen, ihn nie wieder in meine Arme schließen können, mich niemandem mehr anvertrauen können.

      Meinem ersten Impuls folgend sprang ich auf und wurde sofort wieder an mein schmerzendes Knie erinnert. Im Schwung gebremst, jedoch wild entschlossen ging ich hinunter in die Küche. Ich würde sie zur Rede stellen, ihr keine Chance lassen. Ich würde mein Stofftier zurückfordern. Diesmal war sie einfach zu weit gegangen.

      Schon oft hatte sie Spielsachen und Plüschtiere an meinen Neffen Tristan verschenkt. Oft kam er nach der Schule mit zu uns, damit Carla in Ruhe arbeiten konnte, was auch immer es in diesem Fall heißen mochte, denn eigentlich war sie den ganzen Tag zu Hause und machte sich nur für wohltätige Zwecke und nur in aller Öffentlichkeit die Finger schmutzig. Ihr Mann, ein etablierter Kinderarzt, holte ihr die Sterne vom Himmel und eine Putzfrau nebst Haushälterin ins Haus. Tristan jedoch wuchs nahezu bei uns auf, das war der Wunsch meines Vaters und was er wünschte, wurde gemacht. Dass er bei uns kein eigenes Zimmer hatte, lag an der Tatsache, dass mein Vater mich für zu verwöhnt hielt und der Meinung war, dass teilen mir gut täte. Und so teilte ich. Meine Spielsachen, die ständig durch Neue ersetzt wurden, mein Zimmer, das ich abends immer wieder aufräumen musste, eigentlich.

      Meinen Esel wollte ich nicht teilen! Also ging ich sicheren Mutes aus der Küche, nachdem ich dort meine Mutter nicht gefunden hatte, und steuerte das Wohnzimmer an. Gerade als ich eine der beiden Türen öffnen wollte, erstarrte ich mitten in der Bewegung, hielt die Luft an und wünschte mich unsichtbar. Regungslos harrte ich aus und lauschte auf die Stimmen, die durch die geschlossene Flügeltür an mein Ohr drangen. Der Fernseher lief, wurde jedoch von der tiefen, sonoren Stimme meines Vaters übertönt. All mein Mut war einer Art Panik gewichen, hatte sich aufgelöst in Schuldgefühl und Hilflosigkeit. Es ging um mich, meinen Esel. Meine Mutter hatte ihn tatsächlich an Tristan verschenkt und war dann losgefahren, mir einen Neuen zu kaufen. Das sei nicht Sinn der Sache, brüllte mein Vater.

      „Hätte ich ihr Stofftier ohne Ersatz weggeben sollen“, widersprach meine Mutter.

      „Sie hat alles, was sie braucht, das Kind ist zu verwöhnt“, konterte mein Vater. „Sie muss lernen zu verzichten“, fuhr er in immer aufdringlicherem und unerbittlichem Ton fort.

      „Wir hatten damals im Krieg auch nichts, nicht einmal genug zu Essen war da. Ich weiß, was es heißt zu hungern, das bisschen Magenknurren, das ihr als Hunger bezeichnet, ist weit davon entfernt von dem, was wir durchmachen mussten!“

      Sag jetzt nichts, sag einfach nichts mehr, schrie es in mir auf, flehte es in mir, doch meine Mutter hörte meine Gedanken nicht. Tapfer gab sie Kontra, verteidigte ihr Handeln, verteidigte mich. Lauter, immer lauter wurde mein Vater, schrie, brüllte, bis sich seine Stimme überschlug. Dann war es schlagartig still. „Er hat sie umgebracht!“ hämmerte es durch meine Starre.

      Schritte näherten sich der Tür. Mein Magen krampfte sich zusammen. Mir wurde übel und schwindlig. Ich schloss die Augen, wollte nicht sehen, was sich vor meinem inneren Auge abbildete, was ich erwartete. Die Türen zum Salon wurden geöffnet. Immer noch hatte ich meine Augen fest geschlossen, kniff sie so stark zusammen, bis ich anfing, Sternchen zu sehen, die blitzartig aufleuchteten und durch Lichtimpulse im Takt meines Herzschlages, der wild und rasend durch meinen Kopf tobte, ersetzt wurden.

      „Was soll das“ raunte mich mein Vater an und wankte an mir vorbei.

      „Was machst du da?“ hörte ich die entsetzte Stimme meiner Mutter.

      „Sie lebt!“, die Faust, die sich fest um meinen Magen geschlossen hatte, löste sich, der Boden unter meinen Füssen schwankte nicht mehr und die Blitze im Kopf hörten auf. Nur mein Puls raste ungebremst durch meinen angespannten Körper. Langsam öffnete ich die Augen und sah meine Mutter vor mir. Mit hochrotem Gesicht stand sie vor mir, sah mich erschrocken und besorgt an und wartete geduldig, bis ich mich aus meiner Starre gelöst hatte. Erleichterung, warme, alles überflutende Erlösung ergriff von mir Besitz.

      „Ich hab dich ja so lieb“ heulte ich in ihren Armen und nahm mir in diesem Moment vor, sie nie mehr los zu lassen. Sollte doch Tristan meinen Esel behalten, ich würde ihn nicht wieder haben wollen. Und der Neue, der würde einen Ehrenplatz zwischen dem ausgetauschten MonChhichi, dem meine Mutter einen dunkelgrünen Pullover gestrickt hatte, und meiner Schlümpfesammlung, in meinem Regal bekommen, schließlich war meine Mutter für ihn gestorben, beinahe.

      Nach einer kleinen Ewigkeit, die