Название | Wo Anders |
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Автор произведения | Inga Berg |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783742769596 |
Trotzig wandte ich mich ab. Der Fall Esther war für mich abgeschlossen.
Mit einer Leere im Kopf, die allmählich hinunter zu meinem knurrenden Magen wanderte, ihn zum Schweigen brachte und sich bis zu meinen zwiespältigen Emotionen ausbreitete, um mich in meine wohlvertraute, alles erstickende Dunkelheit zu hüllen, ging ich in Richtung Zwangsheimat - Zelt, als ich hartnäckig am Arm gezogen wurde.
Instinktiv wehrte ich mich gegen das Gefühl, festgehalten zu werden, riss mich aus dem unfreiwilligen Körperkontakt und ging weiter. Doch erneut wurde ich am Handgelenk umfasst und in meiner Bewegung aufgehalten. Kampfbereit drehte ich mich um.
„Ich mag den Fraß und den Tee auch nicht, “ mit einer abfälligen Handbewegung strahlte sie mich an, „den Tee…den können die selber trinken“. Unwillkürlich schlich sich eine Träne, schmerzhaft in meinen Blick. Schied wie ein dunkler Schatten aus meinen Gefühlen und lief mir über mein Gesicht. Durchdrungen von Sommersonnenhimmelblau löste sich das Schwarz in meiner Seele auf.
Was war das nur? Sie schien einen direkten Zugang zu meinem Sein zu haben. Konnte mich mit einem Blick in ihre Wirklichkeit aus unbeschwerter Kindheit führen. Und ich ging mit, folgte ihr in den hellen Sommertag einer heilen Welt. Den Rest des Tages verbrachten wir damit, im Schutz einer uralten Linde im warmen Gras zu sitzen und uns Geschichten von tanzenden Schatten, die in alten Bäumen wohnen, und seltsamen Nachbarn mit hübschen Töchtern zu erzählen.
Noch stand die Sonne golden am Himmel, als durch das ganze Lager eine Welle des Aufbruchs rollte. Dem trägen Dahindösen des Nachmittags folgte aufgeregte Bewegung. Hier und da wurden Rucksäcke gepackt, Decken zusammengelegt, Kostbarkeiten eingesammelt. Bis sich schließlich alle Kinder erneut vor dem steinernen Haupthaus versammelt hatten, um dann in genau dem bunten, lebendigen Strom aus den Toren hinaus zu den Bussen zu strömen wie sie am Morgen auf das Ferienfreizeitgelände geschwappt waren. Esther und ich mitten unter ihnen. Fröhlich schwatzend, hüpfend und lachend ging es zurück ins Tal. Und genau wie am morgen standen sie wieder da, die Mütter in ihren geordneten Verhältnissen zueinander. Ihre Sprösslinge erwartend. Wieder öffneten sich die Glastüren des Busses und wieder strömten die Zeltlagerentlassenen hinaus, um den Platz vor der Kirche mit tausend Stimmen und Lachen zu füllen. Schon bei der Auffahrt des Busses auf den mit erwartungsfrohen Eltern gefüllten Platz begannen die Gesichter um mich herum zu glänzen. Der Geräuschpegel wurde nahezu unerträglich und auch Esther neben mir hatte wohl einen ihrer Eltern entdeckt, denn sie begann, unvermittelt zu winken und auf ihrem Sitz hin- und herzuhüpfen.
Ich tauchte ab in den Hintergrund. Ich wusste, dass es für mich Niemanden gab, der auf mich wartete, der mich ungeduldig in Empfang nahm.
Als sich die Türen öffneten, gab es kein Halten mehr. Esther und auch all die anderen schienen geradezu aus dem Bus direkt in die Arme ihrer Lieben zu fliegen. Manch einer ein bisschen verhaltener, aber doch voller Ungeduld und voller Erlebnisse, die es auf der Stelle mitzuteilen galt.
Meine Erlebnisse wollte keiner wissen. Ich war gesund und kam so aus dem Transportgefährt, wie man mich am morgen hinein geschoben hatte. Sogar meinen Rucksack hatte ich wieder. Der Busfahrer hatte ihn mir auf der Rückfahrt gegeben. Man hatte ihn ihm gegeben und auf mich gedeutet. Er jedoch hatte mich und den superschicken, neuen Rucksack in dem ganzen Durcheinander völlig vergessen.
„Na auch egal, wirst schon nicht verhungert sein“ hatte er noch gebrummt. Nein, ich war nicht verhungert und so aussehen tat ich auch nicht. Groß, kräftig, in zu kurzer bunter Hose und hässlichem Pullover unter dem Arm stieg ich mit vollem Rucksack aus dem Bus und hielt Ausschau nach jemandem, der die Verantwortung, mich nach Hause zu bringen, übernommen hatte. Es gab mit Sicherheit jemanden, denn einem Dr. von Hochfelden und seiner reizenden, jungen Frau machte man doch gerne einen Gefallen. Auch wenn es darum ging, dieses verwöhnte Gör nach Hause zu bringen. Das nahm man gerne in Kauf für die Ehre einer Würdigung von Seiten meines Vaters. Aber darauf warteten die meisten vergeblich. Er war ja nie da. Aber vielleicht käme ihm ja zu Ohren, wie großzügig man gewesen war. Also immer schön lächeln und die Kleine nach Hause gebracht.
Diesmal war es die Bürohilfe meines Vaters, Silvia. Sie hatte bereits Feierabend und da ich auf dem Weg lag, na ja nicht so wirklich, aber für ihren Chef halt, fuhr sie mich in ihrem knatternden R4 auf die andere Neckarseite zu unserer Villa. Vor dem Gartentürchen entließ sie mich in den kühlen Schatten meines Geisterbaumes, der mich mit einem Raunen begrüßte. Als das Knarren des R4 schon längst nicht mehr zu hören war, stieg ich die weiße Freitreppe vor unserem Eingang empor und drückte die runde, mit zahlreichen Blumenornamenten verzierte, angelaufene Messingklingel. Ein sanftes Dreiklangläuten erfüllte daraufhin das Foyer des Hauses und verebbte unbeachtet. Noch einmal betätigte ich die Hausglocke, doch ich wusste, auch diesmal würde sie unbeantwortet bleiben. Es war niemand zu Hause. Ich wurde nicht erwartet. Das war nicht neu für mich und so setzte ich mich auf die Treppe vor unserem Haus und packte neugierig und hungrig die Dinge aus meiner Tasche, die ich so schmerzlich im Lager vermisst hatte.
Neben meinem Lieblingspicknickbecher, ich wusste doch, sie hatte ihn mir eingepackt, und dem dazugehörigen Teller, waren noch mein blassrotes Plüschkissen, eine Packung Tempo, natürlich die Originale, zwei Dosen Cola und eine große Tüte Gummibärchen darin zu finden. Wer brauchte schon eine halbe Tafel Schokolade und so ein blödes, besticktes Taschentuch, wenn man eine ganze Tüte Gummibärchen ganz für sich alleine haben konnte.
Ganz zu unterst fand ich dann noch zwei Marmeladenbrote. Hastig befreite ich sie von dem etwas angeweichten Butterbrotpapier und schob sie mir gierig in den Mund. Süß und verführerisch breitete sich die fruchtige Marmelade in meinem Mund aus. Ergoss einen warmen Strom aus tiefem Wohlbefinden durch mein Innerstes.
Schnell waren beide Brote verspeist, mein Magen aber noch lange nicht zur Ruhe gebracht. Im Gegenteil, wachgefüttert fing er jetzt erst recht an zu rebellieren, forderte sein Recht auf Befriedigung lautstark ein. Dem Marmeladenbrot folgten die beiden Coladosen. Und um mich dem sinneraubenden Traum aus watteweicher Verführung endgültig hinzugeben, zelebrierte ich das Gummibärchenköpfen mit ungeahntem Wohlgenuss.
Bemerkt hatte ich das Kommen meiner Mutter nicht. Plötzlich stand sie vor mir, schüttelte den Kopf und schalt mich der Träumerei. Schön und elegant, aufrecht und stolz ging sie an mir vorbei, schloss die Tür auf und trat ein. Sie sah mich nicht mehr, lies den Eingang einen Spalt weit offen, in der Gewissheit, ich würde folgen.
Hastig packte ich Butterbrotpapier, leere Dosen und halbleere Gummibärchentüte zusammen und stopfte sie in meinen Rucksack. Nahm diesen an einem der Träger auf und erhob mich. Zu meinem Unglück hatte ich den zweiten Träger nicht im Blick. Dieser hatte sich in der Eile des Zusammenpackens um mein rechtes Bein geschlungen und just in dem Augenblick, als ich mich aufrichtete und in einer der Haustür zugewandten Drehung den ersten Schritt nach vorne antrat, riss er mich aus meiner Balance und warf mich gefährlich nah an die Treppe zurück. Ich fiel schwer auf mein linkes Knie. Mein Gesicht kam dem Treppenabsatz bedrohlich nahe. Beinahe wäre ich, Kopf voran, die Stufen zum Vorgarten hinuntergefallen, hätte ich nicht instinktiv meine Hände nach vorn gestreckt und so den Sturz gerade noch abgefangen.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals und mein Knie schmerzte unerträglich. Tränen schossen mir in die Augen und meine Arme zitterten, als ich versuchte, mich auf sie zu stützen, um aufzustehen. Und dann stand er vor mir. Stand einen Moment lang da, sah mich geringschätzig an und wartete. Wartete, bis ich mich wieder auf meinen Beinen befand. Tränen gab es nicht mehr. Sie waren einfach versiegt. Schmerzen? Oh ja, die gab es schon, stechend und pochend signalisierten sie mir, dass mein Knie schwer in Mitleidenschaft gezogen worden war. Aber das durfte jetzt nicht sein.
„Ich bin stark, ich bin stark!“ toste es durch meinen Kopf. Und so stand ich vor meinem Vater. Mit gesenktem Haupt erwartete ich den Tadel, den ich verdient hatte. Ich hätte besser aufpassen müssen, war immer