Название | Wo Anders |
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Автор произведения | Inga Berg |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783742769596 |
„Nein“ schrie es in mir auf „nicht dieser olle Pullover und außerdem, es ist Sommer!“
Aber, als ob sie meine Gedanken gelesen hätte, hielt sie mir dieses Ding mit Nachdruck und einer Unerbittlichkeit in ihrem Blick entgegen, der jedem Widerspruch den Boden nahm. Ich zog ihn an. Türkisgrün blitzte es in mir auf. Ich wollte diese Hose nicht, nicht diesen hässlichen, hellblauen Pullover und schon gar nicht ins Sommerzeltlager. Ich spürte, wie es mir die Kehle zuzog, wie Tränen meinen Blick verschleierten und ich kämpfte - kämpfte um einen klaren Verstand, um Ideen, diesen Weg nicht gehen zu müssen. Ich wusste, dass meine Mutter in meiner Abschiebung nur die Anweisung meines Vaters befolgte, aber genauso gut wusste ich, dass ich meiner Mutter nicht kampflos nachgeben würde. Ohne Eile nahm ich meiner Mutter den dargebotenen Pullover aus der Hand und legte ihn neben mich aufs Bett. Meine Gedanken rasten. Dann nahm ich auch die Hose entgegen, die gleich darauf freundlich bestimmt angereicht wurde. Ich platzte beinahe vor Wut. Der grobe Stoff glitt durch meine Hände. Der Knopf am Bund saß bedenklich locker. Mit einem Ruck in einem unbeobachteten Moment und er war ab. Meinen Jubel wohlweißlich verbergend und mit einem unschuldigen Blick, gab ich meiner Mutter die marode Hose wieder zurück. Skeptisch musterte sie zuerst den Hosenbund und dann mich. Den Knopf hatte ich immer noch in der Hand. Langsam und unauffällig ließ ich meine geschlossene Faust unter der Bettdecke verschwinden. „Was hast du da in deiner Hand?!“ schnitt die Stimme meiner Mutter scharf in meine Engelsmiene.
„Nichts!“ beteuerte ich und ließ den Knopf los.
Ohne zu zögern griff sie nach meiner Daunendecke und warf diese zurück. Und da lag er, rund, verräterisch, roter Hosenknopf auf weißem Bettlacken. Wortlos ging meine Mutter zurück zum Schrank, holte eine zweite, genauso zerschlissene und geflickte Hose heraus, legte sie neben meinen Pullover und ging, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen aus dem Raum. Voller Wut nahm ich den Knopf und schoss ihn einmal quer durch mein Zimmer, an die gegenüberliegende Wand. Dann, noch immer in türkisgrün flackernder Ohnmacht, schlüpfte ich in meine mir vorgelegten Kleider. Doch in ihrem vermeidlichen Triumph hatte meine Mutter etwas Entscheidendes übersehen. Weder Schuhe noch Strümpfe zierten meine Füße als ich mein Zimmer verließ, schließlich hatte meine Mutter sie mir nicht hingelegt. Und jetzt lagen sie gut versteckt unter meinem Bett zwischen meinen Buntstiften und meinem Steifflöwen, hinter meiner mit Lehm verschmieren Latzhose und zwei Kartons mit allerlei Schulheften und selbst kreierten Kunstwerken, dessen Wert außer mir, keiner wirklich zu schätzen wusste. Bis ich die wieder finden würde, ich war ja so verträumt und unkonzentriert, würde es mindestens eine Ewigkeit dauern, wenn nicht sogar zwei!
Siegessicher schritt ich die alte, knarrende Holztreppe, die mit schwerem, dunkelroten Teppich ausgelegt war, hinunter in den Wohnbereich der Jugendstilvilla. Als meine nackten Füße den kalten, schwarz-weiß gefliesten Boden am Ende der Treppe berührten, lief mir ein leichtes Frösteln durch den Körper. Es war für Mitte Juli doch noch ziemlich frisch und unser Haus lag, von Bäumen umgeben, auch im Sommer immer im Schatten. Wie jeden Morgen schenkte ich dem kalten Steinboden nur kurze Beachtung und ging, das Wohnzimmer mit seiner hohen stuckverzierten Decke und seinen breiten, weißen Flügeltüren rechts neben mir lassend, in die Küche. Die Küche selbst war nicht ganz so groß, wie man es in diesem Haus erwartet hätte, verfügte jedoch über genug Platz einem massiven Eichentisch in der Mitte des Raumes Platz zu bieten. Mein allmorgendliches Marmeladenbrot und das tägliche Glas Milch waren bereits aufgetragen. Heute musste ich zum Glück nicht diesen braunen, schleimigen Saft trinken, der mir angeblich zu mehr Konzentration und damit zu besseren Noten verhelfen sollte, es waren ja Ferien und meine Denkleistung war nicht gefragt. Nur mein Gehorsam wurde heute vorausgesetzt. Den gab es aber nicht um sonst! Mit dem traurigsten und bedauernswertesten Blick, den ich mimen konnte, setzte ich mich an den Frühstückstisch. Wenn es die Situation verlangte, würde ich auch weinen. Doch zunächst würde ich mich auf schweigend leiden beschränken, so wie sie, wenn ich nicht tat, was sie wollte. Ich würde nie mehr auch nur ein Wort mit ihr wechseln, wenn sie es tatsächlich schaffte, mich in diesen unseligen Bus zu setzen.
Gerade als ich zu schauspielerischer Hochform auflief, betrat mein Vater die Küche. Seine Persönlichkeit füllte das gesamte Hier und Jetzt. Nichts neben ihm hatte Bedeutung oder war auch nur einen kurzen Moment der Aufmerksamkeit wert. Sofort lag eine fast greifbare Spannung im Raum. Meine Mutter, die bis eben gedankenverloren ein kleines Vesper für mich gerichtet hatte und mit dem Rücken zur Tür stand, drehte sich um und sah ihn an.
Mit einem geringschätzigen Ausdruck in seinem braungebrannten, fast jugendlichen Gesicht musterte er sie. Sein imposantes Auftreten duldete keinen Widerspruch. Einen Moment lang sah sie ihm direkt in die Augen, kämpfte ihr Stolz in ihr gegen die Demütigung, doch sie war ihm um 25 Jahre Lebenserfahrung und Selbstbewusstsein unterlegen. Beschämt senkte sie den Blick.
„Der Bus fährt erst um halb zehn“ sagte sie leise, ohne aufzuschauen.
Es war so ungewöhnlich, meinen Vater hier in der Küche zu sehen, dass ich mich zwingen musste, ihn nicht anzustarren. Langsam kauend konzentrierte ich mich auf den süßen, fruchtigen Geschmack, der sich in meinem Mund ausbreitete, mich erfüllte, meinen Vater aus meinen Gedanken löschte. Wärme und dumpfe, watteweiche Dunkelheit stiegen in mir auf. Fast konnte ich wieder die Elfen tanzen sehen, als mich ein unsanfter Stoß aus meinem Zuckerrausch riss. Vorsichtig sah ich mich um. Er war weg und der Raum hatte seine gewohnte Vertrautheit wieder. Blass und nervös sah meine Mutter mich an.
„Träume nicht“, drängte sie verzweifelt „Komm lieber in die Puschen!“
Erst jetzt entdeckte sie meine bloßen Füße, die munter unter dem Tisch hin und her schaukelten. Entsetzt zog sie mich vom Stuhl und schob mich Richtung Foyer. Genau dahin, wo mein Vater vor wenigen Minuten entlang gegangen war. Unvermittelt standen wir uns gegenüber. Ich spürte seinen Blick auf mir. Spürte, wie der schwarz-weiß geflieste Boden seine zuverlässige Stabilität und Kälte verlor, direkt unter meinen nackten Füßen zu brennen begann.
„Auf, auf!“ vernahm ich die betont fröhliche Stimme meiner Mutter. Sie stand direkt hinter mir und schob mich an. Meine Rettung.
Ohne aufzuschauen huschte ich geschickt an ihm vorbei. Ich spürte, wie er mir abwartend und drohend hinterher sah, wie er mich in Gedanken verfolgte. Er wartete, das wusste ich. Er stand in der Eingangshalle und wartete. Sogar durch die Wand meines Zimmers spürte ich seine Aufmerksamkeit, seine Gegenwart. Vergessen war alle Rebellion. So schnell ich konnte, hatte ich meine Schuhe unter dem Bett hervorgeholt, Strümpfe aus der Schublade meiner Kommode am Fußende meines Bettes gekramt und angezogen. Dann hielt ich inne. Mein Herz raste, schlug mir bis zum Hals. Meine Knie wurden weich. Gleich würde er kommen, mich anschreien, mir seine Ablehnung ins Gesicht schleudern und ich würde mich auflösen, wie ein Windhauch durchs Zimmer schweben, um dann genau wie alle anderen Luftgestalten in den Zweigen des großen Baumes verloren zu gehen.
Statt meines Vaters kam meine Mutter. Sie drängte mich, schob mich, zupfte mich und zog mich, bis wir endlich zur vereinbarten Sammelstelle für ungewollte Kinder kamen.
Ein fröhliches Gewirr aus dutzenden Kinderstimmen umgab mich. Erstickte mich. Über den gesamten Platz verteilt standen kleine Grüppchen mit plaudernden Müttern inmitten ungeachtet abgelegter Taschen und Rucksäcke. Ein ganzes Volk quiekender Kinder in alten Hosen und unempfindlicher Oberbekleidung gaben dem Chaos Raum. Alle Spuren des Wohlstandes und der Herkunft wurden geschickt getarnt. Nur hier und da lugte an Hosen mit geflickten Knien und T-Shirts mit verblichenen Mustern ein Markenschild hervor.
Und bei genauerem Hinsehen gab es auch hier deutlich gezogene Grenzen. So standen Oshkosh- und Pre Natal-Mütter bei Gucci-Handtaschen- und Mercedesschlüssel-Trägerinnen und beäugten kritisch die Woolworth