Wo Anders. Inga Berg

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Название Wo Anders
Автор произведения Inga Berg
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742769596



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bereits Stunden(?), zugeschoben hatte, um meine Gefühle zu verstecken. Von ihrer Oma, sagte sie stolz, handbestickt und extra für sie. Meine Großmütter lebten nicht mehr, tot. Das war alles, was ich wusste und wissen musste, befand meine Mutter.

      Und sowieso, bei uns gab es Papiertaschentücher, hygienisch zum wegwerfen und keine Omas, die sie verzierten. Nur mein Vater besaß Stofftaschentücher. Einstecktücher aus feinster Seide, passend zur Krawatte und nicht zum Trösten oder Besticken gedacht und schon gar nicht zum Gebrauch in Kinderhände.

      Nachdem sie mir ihre Schätze dargebracht hatte schaute sie mir direkt in die Augen. Die unbeschwerte Fröhlichkeit in ihren Augen war einem ernsten mustern gewichen. Erst zögernd, der Wichtigkeit diese Augenblickes Geltung verschaffend, dann bestimmt zog sie aus einem einfachen Leinenbeutel drei unscheinbare, graue Kieselsteine. Nein, an und für sich waren sie nichts Auffälliges, nichts was man nicht an jedem Bachlauf finden könnte, doch diese Steine hatten eine besondere Geschichte.

      Drei Kieselsteine

      „Als mein Vater auf Geschäftsreise war“, begann Esther ihre Geschichte, „es war ein heißer Junitag im Jahre 1966 und meine Mutter hochschwanger mit mir, hatte er eine Panne mit seinem Auto mitten auf einer Landstraße im Schwarzwald. Er hatte es gerade noch zu einer kleinen Haltebucht rechts der schmalen Straße geschafft, bevor der Motor ausgegangen war. Da stand er nun, keinen Kontakt nach Hause, nicht ahnend, dass seine kleine Tochter, nämlich ich“, sagte Esther stolz, „bald zur Welt kommen würde…

      Die Sonne stand hoch und der Motor dampfte und zischte. Er war einfach zu heiß gelaufen und das Kühlerwasser übergekocht. Verzweifelt sah sich mein Vater nach allen Richtungen um, in der Hoffnung ein Haus, einen Brunnen oder irgendetwas dergleichen zu entdecken. Doch alles was er fand, war ein kleiner Pfad rechts der Straße, der direkt in den Wald führte. Noch zögerte er, ließ seinen Blick wiederholt die Straße hinauf und hinunter wandern, doch diese lag heiß flimmernd vor ihm, keine Bewegung, kein Leben, kein Auto, das kam, um ihn mitzunehmen. So entschied er, dem kleinen Weg in den Wald zu folgen, in der Hoffnung, eine Quelle oder einen Bachlauf zu finden. Als er eine kurze Strecke des Weges hinter sich gebracht hatte, wurde dieser immer ungemütlicher. Die dunklen, blaugrünen Tannen ließen kaum Licht durch und der Weg wurde immer mehr zum Trampelpfad. Dichter schlossen sich die Bäume um ihn. Es schien, als wolle der Wald ihn abwehren, wolle ihn nicht weiter lassen, verschloss sich vor ihm. Aber auch ein Zurück war nicht möglich. Der Weg hinter ihm löste sich im Dunkel auf war, sobald er den nächsten Schritt nach vorne wagte, hinter ihm einfach verschwunden. So ging er weiter. Bis er sich schließlich vor den Ästen, die ihm wütend ins Gesicht schlugen, mit Händen und Armen schützte. Bald kämpfte er sich einer Urwaldexpedition gleich durch das Unterholz. Immer wieder sah er seine Frau vor sich, das ungeborene Leben unter ihrem Herzen deutlich sichtbar, sein Kind. Das machte ihn stark. Ließ ihn unermüdlich weitergehen. Irgendwo würde er schon rauskommen.

      Und tatsächlich, nach schier unendlichem Kampf, wurde der Urwald wieder zu einem Trampelpfad und der Trampelpfad wieder zu einem kleinen Weg. Die Tannen mischten sich mit uralten Laubbäumen. Sonnenstrahlen tanzten durch das lichte Grün der Bäume, malten ein wildromantisches Bild aus Schatten und Licht auf den Waldboden und in seine Seele. Der Gedanke an seine Familie hielt ihn in Bewegung, bis er unerwartet stoppte. Direkt vor ihm gabelte sich der Weg. Rechts von ihm führte er hinaus aus dem Tann. Versprach menschliche Siedlungen, einen Bauernhof oder ein verschwiegenes schwarzwälder Dörfchen mitten im Nichts. Aber auch unerträgliche Hitze. Ein staubiger Weg durch gnadenlose Sommersonne.

      Der Weg links von ihm versprach angenehme Temperaturen und vielleicht doch die Quelle oder den Bachlauf, den er zu finden hoffte. Doch auch hier könnte es zu einem Irrweg werden, wie er ihn bereits hinter sich hatte. Verzweifelt stand er da. Wusste nicht, welchen Weg er nun gehen sollte. Tausend Argumente für und wider. Immer wieder abwägen. Wahrscheinlichkeiten erwägen. Keine Gewissheit finden. Hin und her gerissen gab er schließlich auf. Er fand keine Entscheidung. Erschöpft kniete er nieder, schloss die Augen, faltete die Hände und betete. Regungslos hockte er so da. Wortlos flehte er zu Gott. Da erschien vor seinem inneren Auge seine Frau. Sie lag unter Tränen auf einem Bett. Steril und kalt war alles um sie herum. Immer wieder bäumte sie sich unter Schmerzen, die sie in regelmäßigem Intervall zu zerreißen drohten, auf. Ihr Gesicht jedoch strahlte einen tiefen Frieden aus. Sie war völlig einverstanden mit dem, was da gerade mit ihr geschah. Und dann sah sie ihn an. Erfüllt von Liebe und so zärtlich, wie er sie noch nie gesehen hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben war er bei der Geburt eines seiner Kinder direkt dabei, und sie wusste es. Sah ihn an, bis sie von der nächste Wehe überrollt wurde. Schreiend bäumte sie sich ein letztes Mal auf. Sie kämpfte, schrie. Dann war alles ruhig. Es wurde dunkel um ihn. Er verlor sie. Eine Träne verlor sich durch seine geschlossenen Augen, rann über sein heißes Gesicht. Zog eine Spur der Verzweiflung. Da brach es aus ihm heraus. Laut, mit all seiner Kraft schrie er, hier mitten im Wald, an einer alles entscheidenden Kreuzung, zu seinem Schöpfer. Als er innerlich wieder zur Ruhe kam, sein Schreien verebbte, sich im Wald verlor, wurde es wieder still. Das Schweigen war erdrückend. Selbst die Vögel hatten ihren Gesang unterbrochen, als würden sie gespannt auf seine Entscheidung warten. Doch noch immer wusste er nicht, welchen Weg er gehen musste. Er wusste es einfach nicht. Da traf ihn, durch die geschlossenen Lider ein seltsamer Glanz. Tanzte durch seine Gedanken, nahm ihn gefangen und ließ ihn neugierig die Augen öffnen. Geblendet hielt er sich zum Schutz die Hände vor. Langsam, ganz langsam gewöhnte er sich an das Licht. Immer noch trieb der tanzende Lichtreflex sein Spiel mit seinen Sinnen. Instinktiv wandte er sich in die Richtung, aus der das Licht kam.

      Ein leichter Windhauch liebkoste sein erhitztes Gemüt. Der Himmel war nicht mehr so himmelblau und strahlend hell. Es zogen Schatten spendende, bauschige Wolkengebilde ihre Bahn über das Sommerhimmelblau. Plusterten sich auf, zerfielen, um dann wieder aus dem Nichts zu entstehen. Er suchte nach der Quelle des Lichts und fand schließlich drei Kieselsteine, die immer, wenn eine Wolke den Weg zum Himmel frei gab, in der Sonne funkelten und mit den Lichtstrahlen spielten wie der Wind mit den Wolken. Sie lagen am Rand des Weges, der aufs offene Land führte, sich durch goldgelbe Weizenfelder wand, um sich dann auf buntgetupften Wiesen zu verlieren.

      War das die Antwort auf sein Gebet? Lag hier der Grundstein seines Vertrauens, seines Glaubens?

      Ein wirklich gläubiger Mensch war er nicht! Ja schon, er hatte oft von Gott gehört und gelesen. War in einer streng katholischen Familie erzogen worden. Doch so wirklich, richtig konnte er nie glauben. Immer war Gott sein Richter gewesen. Er war nach dem Tod seines Vaters bei seinem Onkel aufgewachsen. Der, der schmerzhafte Prügelstrafen ausgeführt hatte, im Namen Gottes und all der Heiligen; Jeder Hieb ein Heiliger. Und die katholische Kirche hat viele davon. Wurde nicht sogar im Namen Gottes getötet? Seine Frau?! Ja, die glaubte.

      Anders, so frei und einfach wie ein Kind, das die Hand des Vaters sucht, wenn es droht, verloren zu gehen. Voller Vertrauen auf eine bessere Welt, erfüllt von Wärme und Güte. Immer wieder betete sie. Hatte eine Verbindung zu ihrem Vater, wie sie Gott auch zärtlich nannte, die ihn manchmal richtig eifersüchtig machte. Geh mir weg mit diesem Gott, hatte er ihr oft an den Kopf geworfen, wenn sie wieder mit ihren Bekehrungsversuchen kam. Sollte er ihr Unrecht getan haben?

      Wie auch immer. Da lagen nun diese drei Kieselsteine, direkt nach seinem Notruf, und forderten ihn auf, den rechten Weg zu gehen. Wie im Traum folgte er seinem Lauf, der sich langsam zu einem breiten Feldweg öffnete, um am Ende zu einem großen Gehöft zu führen.

      Der Hof lag einsam, umrahmt von saftigen, grünen Wiesen und alten Obstbäumen, unter denen Kühe zufrieden grasten. Die Eine oder Andere hatte sich satt am Fuße der knorrigen Obstbäume niedergelassen, um dem Ende des Tages entgegenzudösen.

      Die Sonne stand inzwischen tief am Himmel und tauchte die Welt in ein tiefrotes, glühendes Licht. Die Hitze des Tages wich dem kühlen Lufthauch, der die kommende Nacht ankündigte. Die Natur atmete auf, sog die klare Luft tief auf, um sie in Vogelgezwitscher und Blätterrauschen aus dem nahen Wald wiederzugeben. Auch seine Gedanken wurden mit jedem Schritt, den er auf das tief gegen das Sonnenlicht der untergehenden Sonne gebeugte Haus zuging, immer klarer.

      Die Hitze seiner innerlichen Kämpfe wich der