Название | Fern von hier |
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Автор произведения | Adelheid Duvanel |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038552208 |
Als Taddea noch jünger gewesen war, glaubte sie, die Erwachsenen schenkten der Welt der Kinder Beachtung. Im Winter grub sie jeweils sonderbare Spuren in den Schnee, um die Passanten zu irritieren. Sie stellte sich vor, sie würden zueinander sagen: «Was für ein Tier ging hier wohl? Das war doch kein Hase, kein Reh, kein Fuchs, kein Hund?» Und am andern Tag würde in der Zeitung stehen: «Rätselhaftes Tier, ein Urtier vielleicht, ging durch unsere Stadt.» Doch nichts dergleichen geschah.
Übrigens schien das unstete Leben der Mutter, ihre Unruhe, ihr Jagen nach Abwechslung, nach Abenteuern, eine Flucht vor einer Last zu sein, eher das Vergessen dieser Last, die sie immer mit sich trug. Sie bestand aus Worten wie «Familie», «Verantwortung», «Stand», «Ehre», die plötzlich ihre Bedeutung für sie verloren hatten, denn ihr Vater, der letzte Spross einer vornehmen Familie, war ein Spieler, Trinker und Schürzenjäger gewesen und hatte das Vermögen verjubelt. (Sein Sohn, Onkel Theodor, den Taddea nie gesehen hatte, war Kommunist. Sie stellte sich diesen Beruf sehr schlimm vor.) Die Schwester der Mutter, Tante Sybill, die mit einer gerümpften Nase zur Welt gekommen war, lebte, ziemlich arm, für fremde Leute nähend, in einem Stübchen im Haus der verstorbenen Eltern und hütete das Klavier, die Familienfotos, gestickte Deckchen, verstaubte, dunkle Gemälde, schlecht gemalt, aber immerhin Onkel Alphons und Tante Lilly und Cousine Astrid darstellend, die alle längst tot waren. Die übrigen Räume hatte sie an ruhige, seriöse Leute vermietet. Taddea wollte, wenn sie einmal erwachsen sein würde, auch so leben wie Tante Sybill, die vor allem Widerwärtigen geschützt schien. Doch wenn sie sich im Spiegel betrachtete, konnte sie sich nicht vorstellen, wie dieses ruhige Leben, das nach Staub roch, nach Pfefferminz und Geranienblüten, zu ihr passen würde, denn ihre schrägstehenden Augen, die die Farbe von dunklem Bier hatten, blickten wild, sie war geschmeidig und dünn, obwohl sie viel aß, heimlich geradezu leidenschaftlich Zucker verschlang, Hafer, Butterbrote, Eier.
Oft stand Taddea minutenlang in der leeren Wohnung, in welcher kein Bild hing, keine gestickte Decke lag, ohne sich zu rühren, gelähmt, Angst im Herzen, und glaubte, ihre Gedanken würden wie Glaskügelchen von ihr abfallen und in alle vier Ecken des Zimmers rollen. Sie wollte ihnen nacheilen, sie einsammeln, um wieder sie selbst zu sein, doch sie konnte nicht. Manchmal schrie sie, und sie musste sich die Hand auf den Mund pressen, denn sie war, trotz ihrem verwegenen Äußeren, rücksichtsvoll. Eine ältere Dame, die nur Katzen besaß, strich ihr hie und da über den Kopf, was sie innerlich steif, mit einem falschen, demütigen, halben Lächeln geschehen ließ.
Taddea besaß viele Spielsachen, denn jeden Samstag, bevor die Mutter in ihrem Sportwagen wegfuhr, kaufte sie ihr etwas, eine kleine Welt, die sich in ihre Hand, an ihr Herz schmiegen sollte, doch am liebsten verbrachte das Mädchen die freien Stunden mit dem Schmücken eines Hydranten, der an der Straßenecke stand. Es zog ihm alte Wollmützen an und abgetragene Jacken seiner Mutter, verschiedene Halstücher, Schürzen, einen zerrissenen Vorhang, den es in einem Mistkübel fand und der ihm gefiel, weil er wie Seide schimmerte. Es taufte den Hydranten «Beethoven» oder «Chopin» und unternahm mit ihm Reisen nach Texas, nach Mexico, nach allen Ländern, die es kannte, weil ihre Namen in den Schlagern enthalten waren, die es am Radio hörte. Ältere Kinder, die seinem Treiben belustigt zusahen, versteckten jeweils die Kleider und lachten, wenn Taddea an ihrem nackten Freund lehnte und weinte.
Eines Nachts träumte Taddea, ihre Mutter wandere in einem langen Korridor, immerzu, aber ohne kleiner zu werden, immerzu gegenwärtig wie das ewige Licht in der Kirche, das dem kleinen Mädchen von jeher unheimlich vorgekommen war, und auf ihrem Kopf saß eine Katze, die fragte: «Du liebst mich?», nicht: «Liebst du mich?», woraus das Kind schloss, dass die Katze um seine Liebe zu ihr wusste und eigentlich nur der Form halber fragte. Das Tier war krank, und Taddea fühlte, dass es bald sterben würde, denn alle Blumen und Tiere, die in Mutters Obhut waren, starben über Nacht: Die Kakteen, der Kanarienvogel, die Schildkröte, der kleine Frosch. (Sehr zum Verdruss, aber, wie Taddea richtig empfand, auch zum Schmerz der Mutter, die nach diesen traurigen Erlebnissen vorgab, Pflanzen und Tiere zu verabscheuen, aber dralle, lebhafte Hunde mit eifersüchtigem Lächeln lobte.)
Taddea erwachte. Die Uhr im Nebenzimmer schlug Mitternacht. In der Ferne sangen einige Italiener, Taddea stellte sie sich wie gigantische Engel vor, die singend Wolken kneten. Sie schlüpfte aus dem Bett und ging leise ins Schlafzimmer ihrer Mutter, sah jedoch, dass das Bett leer war. (Die Mutter brachte ihre Männer nie nach Hause. Vielleicht aus Rücksicht?) Sie trat ans Fenster. Die Nacht lag weich und warm wie Samt in den Gassen. Taddea beugte sich weit hinaus, um nach der Mutter Ausschau zu halten, die vielleicht mit der letzten Straßenbahn zurückgekehrt war (das Auto war zu jener Zeit zur Reparatur in einer Werkstatt) und nun allein durch die Straße ging, mit abwesendem Blick, ihr unglückliches, ein wenig slawisches Gesicht wie eine zerfetzte Fahne vor sich hertragend. Sie roch nach Wein, schien aber nie betrunken, und sie trug immer neue Kleider wie der Hydrant, ihre Augen waren schwarz glimmende Scherben, ihre Lippen geschabte Rüben, ihre Hände Krallen, die für Taddea Geld auf die Bank trugen, mechanisch, wie einem inneren Zwang gehorchend. Sie schien stets müde und doch gespannt, hie und da schrie sie ohne Grund, dann weinte sie und schenkte ihrer Tochter Schokolade.
Taddea beugte sich weiter hinaus. War es nicht die Mutter, die dort um die Ecke bog? Aber weshalb kam sie nicht hierher, wo ihre Wohnung war, weshalb verschwand sie in einer anderen Straße? Plötzlich verlor das Mädchen, das aufs Fenstersims gestiegen war, das Gleichgewicht und stürzte hinunter; schnell, lautlos flatterte es auf die Nacht zu. Der Tod nahm sein Herz in die Hände und flog mit ihm in jene Welt, von der wir träumen, wenn der Schlaf mit uns in die Tiefen taucht, wo silberne Flüsse leise wie Katzen zwischen blauen Wolken gehen, wo Männer und Frauen heulend wie hungrige Wölfe auf hohe Türme steigen und stattliche Kröten lachend über Sommerwiesen eilen.
Leo
Jeden Schritt, jede Bewegung schien der kleine Leo zu kosten. Wenn er irgendwo saß, das Kinn auf die Hand gestützt, die Zehen betrachtend, die er spielerisch bewegte, die braunen Augen mit dem verschwommenen Blick halb geschlossen, scharf durch die schmale Nase atmend, dann schien er nicht nur das Atmen, das Spiel der Zehen, das Ruhen des Kinns auf der Hand zu genießen, sondern er schien sich gleichzeitig erfreut seine braunroten Locken vorzustellen, seine kleinen Ohren, die oben spitz zuliefen, seine hübschen Hüften, die blassen, herzförmigen Lippen, die er mit der Zunge streichelte. Diese Trägheit und das verträumte Wesen gefielen seinem Onkel, erregten jedoch den Zorn seiner Tante. «Es soll einmal ein Mann aus ihm werden, vergiss es nicht, Paul!», schrie sie jeweils, doch Onkel Paul betrachtete seinen Pflegesohn als eine teils freundlich, teils bizarr schimmernde Pflanze, sie sich hegen und pflegen ließ und von der fremden Welt träumte, von wo ihr Same aus Versehen auf die Erde gefallen war und nun staunend sich verwandelte, staunend das Dasein genoss und staunend verwelkte.
Tante Elise hätte man sich gut mit einem roten, flatternden Kopftuch auf einem Traktor sitzend vorstellen können, in einem kommunistischen Propagandafilm beispielsweise, entschlossen eine Fahne schwenkend, während Onkel Paul, der vierblättrige Kleeblätter sammelte, Kaugummi kaute und deshalb immer nach Pfefferminz roch, eher einem Landpfarrer oder Landarzt glich; man umfing seine Gestalt mit einem einzigen Blick, nahm sie sozusagen mit einem Schluck wie einen guten, herben Wein, während Tante Elise mit den harten Augen, der geröteten Nase, den breiten, abfallenden Schultern mit einer zähen, schwer verdaulichen Wurst Ähnlichkeit hatte, die sich nicht gut häuten lässt, die beim Kochen aufspringt oder pappig wird, kurzum: die einen vor Probleme stellt. Das Einzige, was an Onkel Paul befremdete, war seine Angewohnheit, die Hände immer zur Faust geschlossen zu halten, wobei er die Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger gefangen hielt, als wären sie die Verkörperung des Bösen.
Onkel Paul war der Sohn eines Kleinbauern, hatte mit Stipendien studiert und durfte sich Herr Doktor nennen, obwohl er orthografische Fehler machte. Seine Arbeit, Zähne flicken, tat er genau, die Patienten liebten ihn, denn er war stets heiter, wenn auch schweigsam. Er besaß eine moderne Praxis in der Stadt und bewohnte ein Haus in der Vorstadt, dessen vorderes Gesicht auf eine Fabrikstraße blickte (einige staubbedeckte Bäume waren zu sehen, rumpelnde Lastwagen, im Hintergrund ein Heer von rauchenden Schornsteinen), dessen hinteres Gesicht aber den Strom betrachtete, auf welchem sich am Sonntag rotweißbeflaggte Ruder- und Motorboote tummelten. Am Samstagabend, wenn die Glocken