Fern von hier. Adelheid Duvanel

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Название Fern von hier
Автор произведения Adelheid Duvanel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038552208



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ihn nur nicht noch ableckt», dachte ich und machte auf dem Absatz kehrt.

      Nun lag über der Straße ein Schatten und die Leute gingen gebückt, so dass ich nur ihre Scheitel und Hüte sah; ihre Zuversicht schien erloschen – ob sie nicht am liebsten geweint hätten wie kleine Kinder, die man an einem fremden Ort vergessen hat? Papiere, Tramkarten und Zigarettenschachteln flatterten um die Ecke. Meine Beine waren schwach wie nachlässig geknetetes und geformtes Plastilin; ich kam kaum vom Fleck und hätte mich am liebsten an den Straßenrand gesetzt. Ich hinkte stärker als vorher und meine Schulmappe war schwerer als die Aktentaschen der Herren, die in die Straßenbahnen sprangen. Sicher war Rolf ein ungewöhnlicher Junge; er würde ein berühmter Tänzer, ich aber endete als Krüppel. Mein Hals schien anzuschwellen von Tränen und ich sah die Welt auf dem Grund eines tiefen Wassers, zitternd, verschwommen und unscharf; ich mochte ihr gar nicht mehr angehören. Heute Abend im Bett würde ich so lange weinen, bis der Schlaf mich in tausend Decken gewickelt hatte und davontrug – wenn er mich wieder auswickelte, war ich in einer farbigeren, glanzvolleren Welt, in der den Kranken Flügel wuchsen und wo sie mit lächelnder Nachsicht empfangen wurden von den Schmetterlingen und Engeln, die sich manchmal auch in jenen Gegenden aufhielten.

      Französischstunden

      Die Herbstblätter vollführen auf dem Trottoir einen verrückten Reigen der Greise. Andreas weicht ihnen aus und geht weiter die lange Straße entlang, an deren Ende er wohnt. Im Vorgärtchen kleben vergilbte Blätter wie wertlose Briefmarken, ein Zigarettenstummel rollt über die unterste Stufe der Treppe, und ein älteres, angetrunkenes Ehepaar schwankt über den Platz, aus dessen Mitte eine verkümmerte Linde ragt. Das Zifferblatt einer Uhr blickt aus einem geöffneten Fenster und erinnert Andreas an seine Kindheit; er befand sich immer auf der Flucht: auf der Flucht vor dem Stundenruf der Standuhr mit dem pflichtbewussten Gesicht, das dem Gesicht seines Vaters ähnlich war. Im Uhrenbauch sah er eine kreisrunde Scheibe, durch die er jeweils neugierig starrte und wo ein Messingherz hin- und herschwang und an zwei Schnüren andere, abscheuliche Organe hingen.

      Andreas’ Herz benimmt sich auf eine peinliche Art und Weise anders, als man es von einem korrekten Herzen erwarten darf; er schämt sich seiner, und wenn er es schont, seinetwegen den Kaffeekonsum einschränkt und sich das Rauchen verbietet, ergreift ihn Unbehagen; er hasst und liebt sein Herz in einem, und sein verschwollenes Gesicht nimmt dabei einen strengen Ausdruck an; im Spiegel sieht er, dass er seinem Vater gleicht, und spürt ein ertrinkendes Untier, das seine Luftröhre umklammert und sich mit heftigen Klimmzügen nach oben arbeiten will; immer schluckt er es hinunter.

      Andreas schließt die Haustür auf und tritt in den Korridor. Sein Zimmer liegt zu ebener Erde; er hat die Wände wasserblau gestrichen, und in einem Blumenständer hocken Blattpflan­zen, die das Aussehen von erstarrten Riesenheu­schre­cken haben. Statt des üblichen Vorhangs verhüllt ein dunkelblaues Tuch aus zerschlissenem Samt das große Bogenfenster. Die Möbel sind hässlich und billig. Neben dem Bett steht der Plattenspieler. Andreas bevorzugt «tropfende» Musik, wie er sie bei sich nennt: keine Blas- und Streichinstrumente, sondern Harfe, Gitarre und Cembalo. Musik hüllt ihn in Regenschauer, plätschert in Gossen, sprudelt in Bechern, strömt durch resedagrüne Täler, singt in Dachtraufen. Dem Gasofen des Zimmers ist ein immerwährender Pfeifton eigen, so hoch, dass er durchs Ohr bis zur Schädeldecke sticht und sie durchbohren will. Andreas hat sich an den Ofen gewöhnt; er überhört und übersieht ihn beinah, begegnet überhaupt der Außenwelt übertrieben höflich und weicht ihr nach Möglichkeit aus. Wenn sie ihn zu stark beeindruckt oder erschreckt, scheint sein Inneres einstürzen zu wollen.

      Andreas war Lehrer, doch da die Kinder ihm jeden Tag fremder erschienen – sie veränderten sich jeweils über Nacht; selbst ihre Sprache wurde unverständlich, und sie missverstanden auch ihn öfter –, atmete er auf, als ihm gekündigt wurde. Er erteilt nun jeden zweiten Abend einem Fräulein, das er im geheimen «Blattlaus» nennt, da es sich mit Vorliebe grün kleidet, eine Französischstunde; es hat ein neugierig spähendes Gesicht und einen Körper, der nur mit dem Wort «dumm» treffend charakterisiert werden kann; er ist nicht nur plump, sondern wirkt steif und gefühllos.

      In einer Vase auf dem Tisch befindet sich ein Geschenk der Blattlaus: Plastiktulpen. Als trüge sie ein in eine Decke gewickeltes, frierendes Kind, versuchte sie das zu kleine Sei­denpapier während des Gehens durch den weißen Novembernebel immer wieder über den leblosen, grellfarbenen Blumenstrauß zu ziehen.

      Andreas knipst die Ständerlampe an, lässt den Rollladen herunter, zieht die Schuhe aus und stellt sich unter die Gipsscheibe, die, in der Mitte der Zimmerdecke, eine Sonne darstellt. Er wartet, dass Segen auf ihn fiele wie Manna, wie der Heilige Geist, wie Schneeflocken, wie Samen, den der Wind in die sich öffnende Erde streut. Bald wird die Hausglocke schrillen, und die Blattlaus wird ihren stumpfen, fremden Körper in seine Einsamkeit schieben und sich am Tisch nie­derlassen und dort wie die Plastiktulpen thronen. Während sie französische Sätze herunterleiert, fließen die wasserblauen Wände auseinander, die Blattpflanzen, die sich vor der Blattlaus fürchten, richten sich auf, schlenkern ihre langen Arme und Beine und galoppieren davon auf einem schmalen, weißen Weg zwischen den Wassern.

      Taddea

      Man nannte die kleine Taddea eine Lügnerin, weil sie sich nicht viel aus Gedanken machte, die sich wie Blumen oder Früchte entwickelt hatten. Sie spickte die ihren, die Samenkörnchen glichen, munter umher. Wohin sie fielen, wusste sie nicht, glaubte aber bestimmt, dass der Wind sie auf die höchsten Berge, auf die größte Meereswoge, ins tiefste Tal trug, und wer weiß, vielleicht wuchsen daraus Vögel, Schlangen, schillernde Käfer oder Ungeahntes? Taddea liebte Wörter, deren Bedeutung sie kaum kannte, die sie aber jeweils, wenn sie traurig und einsam war, vor sich hinsagte: «Zarewitsch» war eines, dann gab es noch «Ignatius von Loyola» und «raffsüchtig». Sie liebte auch Leute, die sie gar nie gesehen und von welchen sie auch nie gehört hatte, die sie sich nur zu ihrem eigenen Vergnügen ausdachte.

      Am Abend, wenn die Mutter glaubte, ihre kleine Tochter löse Schulaufgaben, lag Taddea mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Bett in ihrem Zimmer. Das Fenster rahmte Häuser ein, die an einem sanft leuchtenden Himmel lehnten und sich von Bäumen, die aussahen, als wären sie aus Licht und Schatten gestrickt, streicheln ließen. Sie sah Fernsehantennen auf den Dächern, bunte Wäsche auf den Balkonen, sie hörte Geschirrgeklapper aus den Küchen, irgendwo, gedämpft, Gemurmel aus dem Radio, in der Ferne das Klingeln der Straßenbahn.

      Taddea hatte keinen Vater, und die Mutter kümmerte sich kaum um sie, denn abends ging sie meist ins Kino. Sie sagte, weil sie den ganzen Tag im Büro arbeite, brauche sie diesen Ausgleich, doch Taddea befürchtete, dass dieser Ausgleich anders beschaffen sei, als die Mutter vorgab. Ihre Schulkameradinnen sagten: «Deine Mutter ist eine Hure», und sie sagten, als wäre dies ebenso schlimm: «Deine Mutter hat das Haar gefärbt.» Seit Taddea ahnte, dass eine Hure mit dem sechsten Gebot in Zusammenhang stand, das sie während längerer Zeit nicht ganz begriffen hatte, das sich aber um Schlimmes drehte, um Dinge, die man im Kino sah, um Dinge, die der Pfarrer im Religionsunterricht verschwieg, war sie immer bedrückt. Einigen Schulkameradinnen war dieses Gebiet nicht fremd; sie tuschelten unverschämt lachend darüber, doch Taddea, die log, wie wir wissen, auch stahl, hielt sich da lieber fern; es genügte schon, wenn sich die Mutter damit befasste, die übrigens aus «gutem Haus» stammte, wie eine Tante erklärte, und daran hielt sich das Mädchen. Die Mutter selbst sprach nie davon. Taddea wusste nicht, ob die Mutter schön war, sie kümmerte sich nicht darum, nur ihr rotes Haar betrachtete sie jeweils argwöhnisch, als sei es das Symbol ihres sündhaften Lebens, und ihre Brüste, die ihr viel zu mächtig schienen, kamen ihr unangenehm vor. Überhaupt roch sie aufdringlich nach «Frau». Sie war noch sehr schlank, ihre Kleiderausschnitte waren zu groß, ihre Haut welk und gepudert, ihre Stimme rau, manchmal weckte sie Sehnsucht, Erinnerungen nach entschwundener Wärme, Geborgenheit, Vertrautheit, und das Mädchen starrte ihr in die Augen, als suche es dort etwas, doch ihr Blick wich immer aus. Einmal sah Taddea sie mit einem Mann, einem jener Männer wahrscheinlich, mit denen sie Verbotenes tat. Sie betrachtete die beiden genau, konnte aber nichts Besonderes entdecken: Sie waren ungezwungen, wie Erwachsene sind, kalt, böse lächelnd, arrogant, geheimnisvoll. Vielleicht war die Stimmung, die Taddea zu spüren glaubte, tatsächlich anders als die Stimmung, die gewöhnliche