Fern von hier. Adelheid Duvanel

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Название Fern von hier
Автор произведения Adelheid Duvanel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038552208



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abgeschnitten hatte und die sich unter den Brücken versteckten.

      Reto schließt das Fenster und wendet sich um. Die Finger der Nacht schieben sich schon den Wänden entlang – bald werden sie sich schließen, und Reto wird sich im Dunkel dieser Faust auf dem Bett ausstrecken. Er hat das Zimmer noch für diese Nacht gemietet und genießt gespannt und ein wenig furchtsam wie ein Kind die ungewohnte Umgebung. Er schüttelt einige Male unwirsch den Kopf, denn er glaubt Hedwig zu sehen, wie sie vom Bettrand hüpft, ihr weites, weißes Kleid zurechtzupft und ihn anlächelt. Ihr Lächeln ist wie eine Zusammenfassung, eine Art Abkürzung, wie ein Zeichen, das für sie und ihr Leben auf einer sonst leeren Seite steht.

      Sie wurde nicht wie Reto in einem abgelegenen Haus am Rand eines schwarzen Waldes geboren; sie stammt aus einem jener Häuser, die sich wie ältliche Freundinnen irgendwo treffen und nun auf der Stelle festwachsen; mit tückischen, verhängten Blicken durchbohren sie jeden Fremdling, der es wagt, sich ihnen zu nähern, und mit lammfrommen, weißen Gesichtern und Blumen auf dem Hut grüßen sie ihn süß, doch plötzlich werden ihre Münder finster, fallen zu, schnellen wieder auf, fallen wieder zu – Versammlungen von solchen Häusern nennt man «Ortschaften», Reto fürchtet sie und ihre Bewohner.

      Er lauscht, als ob im Heulen des Windes Worte verständlich würden – gestern noch spielten auf jenem flachen Dach zwei Knaben in roten Pullovern, doch heute wirkt das Haus wie eine umgekehrte Trommel; überall liest er das Zeichen für «Hedwig». Wenn es stimmt, dass wir vor Menschen und Tieren, die unser Mitleid erregen, zugleich Ekel empfinden – zwischen Reto und Hedwig war das anders: Sie rührte ihn, und er fühlte sich angesichts ihrer Schüchternheit und ihres seltsamen Äußeren stark und selbstlos. Ohne Angst vor den befremdeten Blicken der Passanten hatte er sie durch die Stadt geführt, ohne Unbehagen ein Hotelzimmer für sie gemietet, wo sie sich vorläufig vor ihrem Bräutigam verstecken konnte, einem Menschen, der Buser oder Schranz hieß – der Name war ihm entfallen. Obwohl dieser Bräutigam sich als «Forscher der Kängurus» ausgab, musste er ein gemeiner, gewöhnlicher Kerl sein, ohne Sinn für die körperlichen und seelischen Eigenarten dieser Tiere. Er hatte es jedoch verstanden, seinen wahren Charakter zu verstecken und Hedwigs Eltern und ihre Verwandten für sich zu begeistern. Heute Morgen, als Reto zu seiner Mutter gelaufen war, um ihr sein merkwürdiges Abenteuer zu erzählen, war Schranz oder Buser, von zwei Polizisten begleitet, im Hotel erschienen und hatte Hedwig als sein Eigentum mitgenommen, denn die Hochzeitsgäste hatten alle ihr Jawort gehört; zwar leise, vom Weinen entstellt, aber doch gültig.

      Unschlüssig tritt Reto wieder zum Fenster; als erwarte er jemanden, presst er die Stirn gegen die heftig zitternde Scheibe. Ein schwarzer, hochgewachsener Baum dirigiert das Pfeifen des Windes; er beugt sich nach hinten, verwirft die Äste, neigt sich wieder nach vorn und schnellt zur Seite, während eine Laterne, die schon seit Tagen nicht mehr leuchtet, wie ein im Gebet versunkener Einsiedler vor dem Geburtshaus eines vergessenen Dichters steht. Die Schimpfworte eines Betrunkenen wollen von der Straße heraufdringen, doch ist es, als ob sie ins Wasser fielen; der Wind spült sie weg. Nun hüpft Hedwig um die Straßenecke; ihr Brautkleid schimmert durch das lärmende, tanzende Dunkel, in ihrem Beutel trägt sie ein kleines Känguru. Sie ruft: «Reto, Reto, Reto» und blickt zu seinem Fenster auf. Deutlich sieht er die kräftigen Hinterbeine und die kurzen Ärmchen; sie winkt mit einer langen Stange, mit welcher sie gewiss das Fenster einschlagen möchte. Er kauert nieder und legt die Arme über seinen Kopf.

      Verwundert spürt er die Angst und den Ekel, die wie ein ätzender Brei über seinen Körper fließen. Durch ein Klopfen an der Tür schreckt Reto vom Schlaf auf; die Stimme seiner Mutter bleibt nicht sofort in seinem Ohr haften, sondern rollt wie auf einer weiten Ebene an ihm vorbei, doch schließlich merkt er, dass Worte ins Zimmer gerufen werden, die ihm gelten: «Hedwig ist am Telefon!» Er setzt sich im Bett auf; die Wände sind sonnengelb, ein schwarzer Jazzpianist grinst neben einem fleckigen Wandschoner, über dem Ar­beitstisch hängt ein Kruzifix mit einem Heiland, dünn wie ein Insekt. Da weiß er es plötzlich: Morgen, Samstag, findet seine Hochzeit mit Hedwig, der kränklichen Tochter des Tierarztes Jakob Knüsel, statt. Er springt aus dem Bett, wo er ein Nachmittagsschläfchen gehalten hat, und bemüht sich, in Gedanken seine Füße zu begleiten, die auf eine ungewöhnliche Weise vielleicht schwebend in den Korridor gelangen.

      Aus der halboffenen Küchentür strömt ein Duft von Kaffee und Apfelkuchen, auf dem Telefonbuch steht das kleine rote Feuerwehrauto seines Bruders. Während er – schwankend, als ob er Fieber hätte – zum Hörer greift, hat er das deutliche Empfinden, ein Känguru wünsche ihn zu sprechen; nur zögernd nennt er seinen Namen.

      Die Käferwohnung

      Stephan wohnte erst wenige Tage bei der Großmutter. Als er vor ihrem Haus aus dem Auto gestiegen war, sang der Schnee eine weiße Melodie und tanzte dazu wie die Tontupfen in seinem Notenbuch, so dass Stephan nicht hörte, was die Großmutter zur Begrüßung sagte. Auch ihre Miene konnte er nicht deuten, denn der Kälte wegen verhüllte ein Tuch ihr Kinn und die Stirn. Als er dann im stickigen Zimmer am Fenster stand – jenseits der Straße strich ein Eisenzaun seinen Schatten durch, der rückwärts in den Schnee gesunken war –, verstand er wiederum nicht, was die Großmutter über den Tisch hinweg seiner weinenden Mutter erklärte. Die Mutter trug einen neuen Hut mit gelben Kugeln darauf, die sich wie Küken aneinanderdrängten. Im Fenster sah er die Großmutter doppelt, verschwommen, als ob sie versuchen würde, aus sich selbst zu steigen. Eine blaue, verzeichnete Lampe beleuchtete ihre zitternde Hand, die vielleicht Angst hatte, jemand komme und tadle sie, verhafte sie, drohe ihr mit Folterung. Ihre Füße hielten sich unter dem Tisch umschlungen wie zwei schlafende Katzen.

      Stephan spielte jeden Tag im Hof hinter dem Haus; als ob die Brille seiner Großmutter sich vervielfältigt hätte, blinkten Hunderte von Fenstern. Am Abend sah er dahinter gelbe, weiße und rötliche Lichter, dann wurde er zum Nachtessen gerufen. Um den Hals trug die Großmutter die Maria und den Antonius, und Stephan musste die beiden vor dem Zubettgehen küssen; das ekelte ihn, als ob er den Kaugummi, aus dem jemand den Pfefferminzgeschmack längst hinausgebissen und hinausgesogen hatte, mit der Zunge hätte berühren müssen. Da er nun der Großmutter gehörte, musste er jeden Tag auf der Blockflöte «Komm heiliger Geist» und andere fromme Lieder spielen. Sein Vater war Schauspieler und Sänger; er bewunderte ihn heimlich, da die Mutter und die Großmutter ihn vor einem Leben, wie es der Vater führte, warnten. Stephan konnte nicht singen; er stotterte, und dieses Gebrechen war schuld, dass er die Hoffnung aufgegeben hatte, einst ein Mann wie sein Vater zu werden. Im Traum sah er die Großmutter mit rotem, braunem oder blondem Haar in Korridoren, in Konditoreien und vor Kirchentüren. Sie kicherte am Telefon, atmete an des Knaben Ohr, rutschte auf den Knien durch die Küche und leckte an einer weißen Taube. Am Morgen erwachte er, wenn sie ihren Nachttopf in die Toilette leerte. Sie trug stets eine große Ärmelschürze, und die Mieter grüßten mit furchtsamem Lächeln, wenn sie Staub auf der Treppe fand oder lärmende Kinder zurechtwies.

      An einem langen Nachmittag hielt sich Stephan im Keller verborgen, da er Angst hatte, die Großmutter würde ihn des milden Wetters wegen vom Balkon aus beim Spielen beobachten. Es tropfte vom Dach, und die Lampen schaukelten über der Straße. Als es dunkel wurde, trat er in den Hof und sah ein Mädchen, das rote Gummistiefel trug und die Stadt verwüstete, die er aus Steinen erbaut hatte. Die Erregung darüber empfand er wie ein Flattern, ein Ausschlagen von starken Fäden, die sich dann schnell zu einem Knäuel drehten und in seinem Hinterkopf steckenblieben; erst jetzt begann er zu schreien und lief auf das fremde Kind zu, das ihn anstarrte. Es hatte Augen wie aus Glas und ein langes Kinn. Während Stephan weinte, wurde ihm bewusst, dass der Knäuel im Kopf nach vorn rutschte, sich auflöste und mit langen Armen über sein Gesicht hing; er fühlte sich gelähmt, als gehöre er diesem Kind, als habe es ein Recht, ihn zu bestrafen oder zu verlangen, dass er vor ihm niederknie. «Weshalb hast du das getan?», fragte er, doch die Frage klang, als versuche sie, sich selbst auszulöschen. Während er auf den Boden kauerte und mit seinen Fingern suchend umherglitt, ging das Mädchen fort.

      Hier auf diesem flachen Stein hatte Stephans Mutter gewohnt – dort auf dem gewölbten, fast schwarzen Stein der Vater mit der neuen Frau; beide Steine waren umgefallen, und zu Stephans Entsetzen liefen kleine Tiere darüber. Auf dem spitzen Stein, der nun schief stand, hauste die Großmutter mit ihrem Enkel und schälte Kartoffeln, griff mit