Название | Fern von hier |
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Автор произведения | Adelheid Duvanel |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038552208 |
Dann hatte sich noch etwas ereignet, das Luzia aufwühlte; sie war der Meinung gewesen, sie habe ihre Mutter nie geliebt. Gestern las sie in einem ihrer alten Aufsatzhefte, als Zehnjährige hatte sie dort unter dem Titel: «Meine liebe Mutter» erzählt, wie die Mutter mit der kleinen Luzia Tierchen und Männchen aus Kastanien gebastelt, ihr vorgelesen und für sie gar Spiele erfunden hatte; an all dies hatte sie sich nun als Vierzehnjährige nicht mehr erinnert; erst beim Lesen des Aufsatzes waren Bilder wie vom Ende des Himmels zu ihr gekommen, um sich wieder in ihr niederzulassen. War es möglich, dass sie viel später auch nicht mehr wusste, wie sie den Vater jetzt liebte? Luzia mochte Erinnerungen nicht; sie waren imstande, Schönes hässlich und Hässliches schön zu machen. Eigentlich wäre es ganz gut zu sterben, dachte sie, wenn noch keine neuen Bilder die alten zu stark verfälschen konnten; aber die Bilder durfte man ja nicht mitnehmen, wie man auch sich selber nicht mitnahm: Man blieb, auch als Erinnerung, die durch spätere Erlebnisse der Hinterbliebenen verändert werden konnte, in den Menschen zurück, die einen gekannt hatten. Und wenn sie über einen zu andern Menschen, die man nicht gekannt hatte, redeten, wurde das Bild des armen Toten, der man nun war, wieder anders; so veränderte man sich ständig, lebte weiter als Splitter in immer mehr Menschen, bis die Splitter kleiner und kleiner und sich so fremd wurden, dass sie sich selber nicht mehr entsinnen konnten, von welchem teuren Toten sie abstammten. Luzia seufzte. Bald würde Regine kommen, Vaters Schwester, die den Haushalt besorgte. Sie würde vor der Tür den Schnee vom Mantel klopfen, über Rheuma jammern und Milchkaffee kochen. Sie sah aus wie eine ständig schwangere Frau; Luzia konnte ihr aufgedunsenes, fleckiges Gesicht und die Art, wie sie sich mit gespreizten Beinen hinsetzte, nicht leiden. Luzia hatte einen Cousin, der erklärt hatte, er müsse erbrechen, wenn er Leute wie Regine sähe. Luzia war von ihm sehr beeindruckt, aber er war ein armer Junge, der von seinen Eltern oft geschlagen wurde. Er schrieb Gedichte, die niemand verstand, auch Luzia nicht.
Sie schaute in den Spiegel: «So wie ich es bestimme, so bin ich», dachte sie und betrachtete sich genau, doch verwirrte sie die Vorstellung, es blicke ihr da ein Gemisch von zurückgelassenen Erinnerungen an verstorbene Tanten, Onkel, Großtanten, Großväter und andere meerschweinähnliche Verwandte entgegen. Sie streckte sich die Zunge heraus und sagte laut: «Was kümmert mich das; ich, Luzia, werde mich schon durchsetzen.» Heute noch würde sie eine Liste aufstellen mit allen Eigenschaften, die momentan und vorläufig die Luzia, die da in den Spiegel guckte, auszeichneten. Sie würde alles, was sie hasste und liebte, samt ihren Plänen und Niederlagen niederschreiben und über das Ganze die Überschrift: «Luzia mit vierzehn Jahren» setzen. Aber vielleicht war sie weder so, wie sie sich, noch so, wie ihr Vater sie sah? Gab es Menschen, die ihr ganzes Leben lang niemand richtig kannte, nicht einmal sie selbst? Man bestand aus tausend Bildern; wenn einen ein Greis, die Mutter, der Geliebte, ein kleines Kind oder ein Hund betrachteten, wurde man zu fünf verschiedenen Personen; und wenn einen jemand aus der Höhe anschaute, oder aus der Ferne, oder durch ein riesiges Mikroskop … Und es gab Geisteskranke, die sich selber als Tier sahen, oder als eine Berühmtheit, oder als Gott, oder als Teufel. Waren sie es nicht? Für die andern nicht, aber für sich selber gewiss; wie ein Reicher, der sich einbildete, verarmt zu sein, tatsächlich arm war … Ihre Wangen wurden rot, ihre Augen glänzten; wenn sie «spintisierte», wie ihr Vater es nannte, fühlte sie sich frei, als wäre die Welt durchsichtig, als würden Vergangenheit und Zukunft zu wunderbaren, klaren Bildern verschmelzen, die in Eiern darauf warteten, dass ein freier Mensch sie erlöse; mit einem Stab in der Hand würde sie durch ein weißes Eierland schreiten und die Eier, die vor Verlangen, geöffnet zu werden, zu glühen begannen, erlösen; ein Bild nach dem andern würde ihr Stab hervorholen, hervorzaubern und auf den Eierschalen tanzen lassen. Sie würde singen mit ihrer zarten Stimme und dirigieren mit ihrem Stab; auch der Vater träte aus einem Ei und würde auf seinen steifen Beinen umherhopsen und sie wüsste alles über ihn: es gäbe ihn wirklich …
Als der Vater zögernd die Tür öffnete und sie sein ratlos lächelndes Gesicht über dem zerknitterten Kragen des Schlafanzugs sah, ertappte sie sich dabei, dass sie versuchte, ihn mit den Augen der jungen Frau im Flimmerkleid zu sehen; sie erschrak. Vaters Gesicht war weich und weißlich-grau. Als wen sah er sich wohl? Als Mörder seiner Frau? Ganz plötzlich klebte dieser Einfall wie ein breites Band auf ihrem Hirn, so dass sie Vaters Frage, ob sie gut geschlafen habe, nicht aufnehmen konnte; das Band verdeckte jeden Eingang und ließ auch keine andern Gedanken heraus als: «Vater, du bist schuld, dass meine Mutter tot ist.» Er starrte sie an. Hatte sie diesen Satz wirklich gesagt? Mit einer ganz harten, trockenen Stimme, die nicht aus ihm zu sprechen schien, nicht aus Luzias Vater, wie sie ihn kannte und liebte – vielleicht aus Mutters Mann? Oder aus dem Geliebten der Flitterfrau? Oder aus dem Vertreter für Kunstbücher? – antwortete er: «Du bist eifersüchtig. Kannst du nicht einsehen, dass ich es schwer habe? Bist du so auf dich selber konzentriert, dass du mir mein Glück nicht gönnen kannst? Meine Frau ist tot, meine Tochter ist ein Krüppel – das habe nicht ich verschuldet: den Ursprung dieser mysteriösen Krankheit wird der Arzt noch aufklären. Was kann mir Freude bereiten? Auch ohne deine Einwilligung werde ich Brigitte heiraten.»
Hätte er in ergreifendem, weichem Ton zu ihr geredet, wäre sie in Tränen ausgebrochen, hätte die Arme nach ihm ausgestreckt, um Vergebung gebettelt und um Verständnis gebeten, doch als der Türrahmen leer war, als ob jemand Vaters Bild herausgebrochen hätte, schienen alle Farben dieses Morgens erloschen; wie in einem steinernen Gefängnis blickte sie sich um.
Neid
Am Radio wurde das Signalement meiner vermissten Schwester durchgegeben: trägt einen Regenbogenmantel; grün mit rotem Glanz oder rot mit grünem Glanz – bat jeden Tag, man möge ihr ein Schloss im Garten hinter dem Haus bauen; schleppte schließlich den rostigen, zerbrochenen Eisentisch aus dem Gestrüpp und behauptete, er sei ihr Palast – Trägt kleine, goldene Ohrringe – bewegt sich sonderbar ruckartig, wenn sie ins Innere einer Straßenbahn tritt; hält sich an einer Stange bei der Tür fest, schluckt krampfhaft und wirkt, als habe man sie in einen engen Kissenanzug gesteckt und sich schamlos auf sie gesetzt – hat die ganze Welt zum Katastrophengebiet erklärt und versucht, sich darin einzurichten – nagt blitzschnell an Äpfeln, Karotten und Seifen mit ihren merkwürdig halbkreisförmig gekrümmten Schneidezähnen –
Das Haus, in dem meine Schwester und ich eine Einzimmerwohnung gemietet haben, steht an einer Kreuzung; wenn Lastwagen oder die Straßenbahn vorbeifahren, zittert der Boden unseres Zimmers. Er ist vier Schritte breit und fünf Schritte lang und neigt sich; aus diesem Grund kann man die Tür nicht offen lassen; nach einer Weile schließt sie sich sachte. Dass sie es wagt, ungefragt und trotzdem höflich das Zimmer zu verschließen, ärgert mich; ich brauche den Ausblick in den Korridor, weil das Zimmer beengend wirkt und im Korridor der Kohlenofen steht, der es heizt. Als ich meine Schwester fragte, ob das Tun der Tür sie nicht störe, antwortete sie, sie sei kein Mensch. Ich schwankte zwischen Mitleid und Neid. Eines Nachts schoben sich die langen Vorhänge auseinander und meine Schwester stand auf, um sie zuzuziehen; kaum lag sie wieder im Bett, öffneten sie sich von neuem. Sie erzählte mir dieses Ereignis am Morgen und ich weinte beinah, weil ich nie etwas Ähnliches erlebt hatte.
An jenem Sonntag im Oktober erreichte der Lichtschirm, der über die Stadt sank, den Boden nicht. Meine Schwester und ich saßen im Zimmer und spielten Eile mit Weile; sie verlor und ging davon, ohne ein Wort zu sagen. Ich suchte sie im Keller und auf dem Dachboden und lief schließlich in den nahe gelegenen Park. Ich hörte Rufe und rannte in jene Richtung, doch dann setzte ich mich unter einen Baum, der von einer rotglühenden Kletterpflanze umwickelt war. Der Wind blies Blätter über den hohen Zaun. Die meisten Stühle standen verlassen. Eine Frau schob, sich verkleinernd, einen Kinderwagen gegen das offene Tor. Manche Bäume grimassierten, als seien sie gezwungen, unter Wasser zu lächeln, und die Nacht rollte einen schwarzen Teppich über den Rasen. Von weitem bemerkte ich ein großes, rattenähnliches Tier, das zwischen den Bäumen lief; als es mich erblickte, stellte es sich auf die Hinterbeine und pfiff; deutlich sah ich goldene Ringe in seinen Ohren. Als ich mich erhob, rannte das Tier davon.
Lange Zeit stand ich erstarrt und spürte die Kälte, die sich über meinen Körper tastete. Fern und klebrig wie der Staub, der Trauben und Schmetterlinge weiß pudert, füllte der Nebel alle Löcher und bedeckte die Augen der Menschen.