Название | Fern von hier |
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Автор произведения | Adelheid Duvanel |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038552208 |
Sie entgeht ihm nicht; wenn sie sich von ihm abwendet, holt er sie ein wie eben jetzt, und in der Nacht rollt er aus ihr als endloser Filmstreifen; anhand der Bilder kann sie seine schlaftrunkenen Seufzer und sein leises Aufschluchzen deuten.
Das Bild vor der für einige Augenblicke aufgelösten Wand ist in sie hineingesunken.
Hannes schläft im Esszimmer auf der Couch, wo er seine Welt, der ihren gegenüber, hütet. Wenn er die Puppe mit dem Stoffbauch schlägt oder liebkost, wenn er verträumt über den Bilderbüchern sitzt oder zornig sein sorgsam aufgebautes Schloss zerstört, möchte sie aufschreien; die Zärtlichkeit und das verzweifelte Sichwehren des einsamen kleinen Menschen tun ihr weh, die Bilder in den Büchern aber entführen ihn; fern von ihr hüllen sie ihn ein mit einer Liebe und Güte, wie sie vielleicht Engel kennen. Immer wieder erinnert sie sich an jenen Tag, als Hannes beinah zwei Jahre alt war und Robert am Telefon gesagt hatte: «Er oder ich. Gib den Bastard in ein Heim, dann wird alles gut. Wir werden heiraten, und du wirst von mir einen Sohn haben, mit dem sich dieser widerliche Balg nicht wird messen können.» Sie antwortete nicht und hängte den Hörer auf, doch einige Minuten später, als sie die Windeln des Kleinen in der Küche wusch, wurde sie von einem sonderbaren Krampf geschüttelt. Sie rannte mit tropfenden Händen ins Zimmer und sah den leeren Blick des Kindes, in dem sich Erstaunen, dann ein Lächeln ausbreitete, als sie ihr Entsetzen und ihre Wut hinausschleuderte, wie man einen Stein in ein ruhiges Wasser wirft. Hannes verstand den Sinn ihres zur Fratze verzerrten Gesichts noch nicht, hielt ihre Raserei vielleicht für Scherz und schmunzelte, wie er es beim Anblick eines unbekannten Tieres getan hätte. Eine unschuldige, ihr unverständliche Heiterkeit, ein fremdes Paradies leuchtete in seinen Augen. Außer sich schlug sie zu; sein Kopf stieß gegen den Türrahmen. Als er sich weinend an ihr Bein klammerte, riss sie ihn weg und warf ihn in eine Ecke, wo er wimmernd liegenblieb. Sie fühlte ihre Knochen wie zu einem Brei auseinanderfließen, und der Geruch und die grobe Wolle des Teppichs füllten ihren Kopf, dann wurden diese Empfindungen kleiner und verschwanden – als sie zu sich kam, lag sie auf dem Rücken und blickte in entsetzt aufgerissene Augen; das bleiche Gesicht des Kindes war nass von Tränen und aus seinem Haar sickerte Blut.
Hannes steht auf und geht leise zum Fenster. Der Wind hat die Wolke wieder zusammengefügt; sie kommt näher und verdunkelt die Straße. Hannes fröstelt und wendet sich um. Auf dem Tisch stehen die Schuhe der Mutter; das Leder ist alt und rissig, aber Hannes hat es heute eingefettet und mit einem Lappen so lange gerieben, bis es wunderbar glänzte. Er möchte der Mutter eine Freude machen. Plötzlich fährt er zusammen; die Mutter schreit: «Nimm die Schuhe vom Tisch!» Zitternd vor Wut steht sie unter der Tür; ihre rechte Hand, mit der sie sich leicht gegen den Türrahmen lehnt, zuckt. Dann starrt sie auf seinen von Schuhwichse verschmierten Pullover, sieht die geöffnete, fast leere Dose am Boden, kommt näher und packt das Kind, das sich duckt und schützend die Arme über den Kopf hält. Ohne den Blick zu heben, weiß Hannes, dass ihre Augen zustechen wie zwei Messer; sein Herz wird vor Angst kalt. Bevor die Schläge auf ihn niederprasseln, fällt ihm ein, dass durch die schwarze Wolke, in welche sich die Sonne hüllt wie in einen zottigen Pelz, eine goldene Naht läuft; dort schimmert ihr heißer Körper durch.
Die Wünsche des Heiratsschwindlers
Die Dame, die einige Wochen vor Weihnachten in eine der Wohnungen im neuen, noch leeren Miethaus am Fluss eingezogen ist, bittet den Heiratsschwindler, ihr bei der Arbeitssuche behilflich zu sein. «Ich bin nicht verschuldet», glaubt sie erklären zu müssen, «und ich habe ein wenig Vermögen. Ich tippe außerordentlich schnell, fülle stundenlang und pausenlos viele Blätter mit vielen Sätzen; auch mit unbegreiflichen. Die Kopfschmerzen am Abend …» Sie verschweigt, dass sie schon seit zwei Tagen nichts gegessen hat; der Hunger gräbt ihr Inneres um, als suche er den Schatz, der auf jedem Grunde glänzt. Sie erzählt einige Male, sie zürne ihrem Freund, einem Schriftsteller, der ihre Person gestohlen und entstellt habe und auf dreihundertdreiundfünfzig Buchseiten gefangen halte. Sie zürnt auch ihrem alten Vater, der sich jeder Verantwortung entzieht und behauptete, dem Tee, den sie ihm dreimal täglich ans Bett brachte, entströme Menschengeruch. «Er spricht sonst nichts mehr», beklagt sie sich, «und ich schenkte ihm von meiner Zeit so viel; er hätte sich endlich rechtfertigen können. Aber er zog es vor, zu meckern, statt zu lachen, und zu meckern, statt zu weinen.» Der Heiratsschwindler macht sie darauf aufmerksam, dass die Zeit, die sie dem Vater anbot, nicht ihre Zeit gewesen sei; sie gehöre – um Beispiele zu nennen – auch dem Föhn, dem Rosmarinstrauch und den Katzen. Die Dame sieht ein, dass sie sich den Teil nimmt, den sie zu benötigen glaubt. «Ich stecke mir auch den Raum ab», sagt sie, «den aber jedermann ungestraft überqueren kann. Mein Herz ist trotz vielem Ungemach nicht eng geworden; im Gegenteil. Aber man bedrängt mich. Man will, so glaube ich, meinen Tod.»
Während der Wind die Dame und den Heiratsschwindler in undisziplinierter Art und Weise über die Brücke stößt, schweben Möwen wie weiße Ballone vor der schwarzen Himmelshöhle auf und nieder. Die Dame lässt auf der anderen Seite des Flusses zwei Neujahrskarten in einen Briefkasten fallen. Der Heiratsschwindler steht neben ihr und bewundert ihr starkes, verschnörkeltes, schwarzes Haar mit dem rostigen Schimmer; es scheint aus Eisen geschmiedet. Ihr Kinn ist aber vom Alter schon leicht verformt. Sie bindet jetzt den Kopf mit einem grauen Tuch, das sie aus ihrer Manteltasche zieht, am Hals fest, damit der Wind ihn nicht abreißt. Sie erklärt, sie lebe nun für immer allein, ohne Vater und ohne Freund. «Das neue Leben, das ich mir erträumt habe, stellt sich nicht ein», klagt sie; ihre bläulichen Lippen ziehen sich nach unten. Während sie auf der Brücke geduckt zurückschwanken, sich in die lebendige Wand des Windes hineindrücken, haucht der Heiratsschwindler in seine in Handschuhen steckenden Hände. «Ich wünsche Dir neue Bedrängnisse, da Du glaubst, Dich den alten entziehen zu müssen», denkt er lächelnd.
«Luzia mit vierzehn Jahren»
Luzia erwachte und setzte sich im Bett auf; ihre Augen zwängten sich wie neugierige, schwarze Köpfchen durch zu kleine Fenster, wo sie stecken blieben. Sie bürstete ihr wirbliges, blassrotes Haar; als sie noch gehen konnte und die Schule besuchte, hatten die Kinder sie «Meerschweinchen» genannt. Nicht nur ihr Haar, vor allem ihr Gesicht erinnerte an diese kleinen Tiere; wenn sie aß, zog sie die Oberlippe hoch, auch schien sie immer zu schnüffeln. Seit einem Jahr war sie krank; zum Geburtstag hatten ihr die Schulkameradinnen einen Rollstuhl gekauft; sie hatte geweint.
Es schneite; wie tote Schmetterlinge fielen die Flocken zur Erde. Ob der Vater noch schlief? Er kam nie, wie Luzia, in Verlegenheit, ob man «Institution» oder «Instutition» sagte. Luzia stellte sich vor, es gebe Blumen-, Stängel- und Wurzelmenschen. Wenn sie die Blume war, war der Vater der Stängel; sie brauchte ihn, aber es beunruhigte sie, dass er sie nicht wirklich nötig hatte; er schien ganz zufrieden zu sein als grüner, schmuckloser Halm. Doch gestern hatte er ihr eine junge Frau in einem glitzernden Kleid vorgestellt; Luzia war zumute wie damals, als sie zum ersten Mal jene Bahn sah, die man «Roter Pfeil» nannte, und entdecken musste, dass sie die Geschwindigkeit dieses Pfeils überschätzt hatte – ihre kindliche Phantasie hatte ihr vorgegaukelt, er würde engelschnell davonrasen, in der Weise, dass das Auge ihn gar nicht mehr erkennen konnte. Oder wie damals, als sie sechs Jahre alt war und ihrer Mutter entgegenlief, als die von einem Spitalaufenthalt zurückkehrte; statt ihr Kind zu umarmen und zu küssen, hatte sie barsch gefragt: «Wie siehst du auch aus? Ungekämmt, und diese schmutzigen Hände!» Einige Wochen später war die Mutter im Auto tödlich verunglückt; der Vater, der zu schnell auf der regennassen Straße gefahren war, hatte nur geringfügige Verletzungen erlitten. Luzia hatte die Freundin des Vaters nicht begrüßt, nur mit starrem Gesicht Unverständliches gemurmelt und in ihrem Tierbuch weitergelesen. Für Tiere interessierte sie sich; sie hätte gern einen Hund besessen, doch der Vater liebte Hunde nicht. Die Frau sah bleich und böse aus, als ob sie «aus der Fremde» käme, wo Männer kleinen Mädchen übelwollten, alle Leute nur ans Geldverdienen dachten und man ausgelacht wurde, wenn man nicht war wie sie. «Die Fremde» war auch unpraktisch! Wer garantierte,