Fern von hier. Adelheid Duvanel

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Название Fern von hier
Автор произведения Adelheid Duvanel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038552208



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sah hoch oben einen einzigen Stern, ein winziges Funkeln. Ob es Zeit war fürs Nachtessen? Vielleicht hatte die Großmutter das Rufen vergessen, dann war es besser, er ging nun leise ins Haus und zeigte auf der Treppe ein gleichgültiges Gesicht, damit niemand auf den Gedanken komme, er sei verzweifelt.

      Am nächsten Tag war es kalt. In einer Ecke lag Schnee wie nasser Zucker. Stephan stieß Steine in die Erde; er baute eine neue Stadt. In der Mitte hob er einen Graben aus; dort durften die Käfer wohnen. Äste teilten diesen Korridor in kleine Zimmer. Mit zwei Fingern wanderte er von einem Raum in den andern und plauderte, wobei ihm gar nicht bewusst wurde, dass er nicht stotterte: «Guten Tag, Großmutter. Sieh, wir wohnen nun hier mit den Käfern. Seit die Käfer eine eigene Wohnung haben, fällt es ihnen nicht mehr ein, in die Häuser zu steigen und die Mutter und den Vater und die neue Frau zu belästigen, und auch für uns ist es besser so; die hohen Häuser können umfallen, aber uns im Graben kann nichts geschehen. Die Tiere sind zwar widerlich, aber wir werden uns an sie gewöhnen.» Er erhob sich, klaubte einen Apfel aus der Hosentasche und aß, während er mit strengem Gesicht hin- und herschritt und seine Stadt im Auge behielt.

      Der Dornenbaum

      Iselin fühlte dringend die Notwendigkeit, sich in eine Geschichte zu begeben, sich vom Leben mitnehmen zu lassen, um sich ausweisen zu können. Er machte die notwendigen Schritte, arbeitete und sparte und kaufte ein verfallenes Haus auf unwegsamem Gelände, das er ausbesserte. Er nahm eine magere, blonde Frau mit schwarzem Haaransatz zu sich, die ihn «Iselin» nannte, obwohl er einen hübschen Vornamen hatte, und die alte Kleider umänderte, die Iselin auf dem Flohmarkt in der Stadt verkaufte.

      Iselin suchte erst einen Arzt auf, als die Schmerzen in seinem Körper sich zu einem Dornenbaum ausgewachsen hatten. Zwei Wochen musste er auf den Bescheid warten, dann begab er sich wieder in die Klinik. Er saß im weißen Untersuchungsraum auf einem Stuhl; seine langen Hände lagen auf den Knien, und die groben Schuhe waren schmutzig. Flüchtig dachte er an das merkwürdige Scharreisen neben seiner Haustür, das die Form einer Seejungfrau hatte, und an die Schwalben, die in der Garage nisteten. «Ihr Blut ist phan­tastisch!», rief plötzlich der Arzt und blätterte im Untersu­chungsbericht. «Es ist nicht nötig, dass Sie sich dem Messer ausliefern oder Pillen schlucken; ich verschreibe Ihnen eine Salbe gegen die Geschwulst am Hals. Sind Sie nicht froh?» – «Sehr froh», bestätigte Iselin und wartete, bis der Arzt sein hinterhältiges Kritzeln im Krankenbericht einstellen würde. Als er sich verabschiedete, erschrak er über den Blick der ältlichen Arztgehilfin, die stumm beobachtete, wie er die falsche Tür öffnete; hinter der Tür saß ein Kind in einem Laufgitter und zerriss Brot.

      Jeden Tag bedachte er von nun an, dass der Arzt sein Blut «phantastisch» genannt hatte; er versuchte sich einzureden, sein Blut sei der Retter, der die Krankheit wegspüle. Doch nach einiger Zeit wurde die Vorstellung, dass dieses Blut (rot plätschernd, hellrot lachend) ihn betrüge, zur Gewissheit. Noch später argwöhnte er, das Wort «phantastisch» sei überhaupt kein Grund zur Beruhigung, sondern sei im Gegenteil dem abgründigen Zynismus des Arztes, der einen Spitzbart trug, zuzuschreiben. Iselin war nun überzeugt, dass er nur zum Schein, nur versuchsweise (wie spielerisch) daran gezweifelt hatte, dass der Arzt ihn belog.

      Der Frau gegenüber erwähnte er den Besuch beim Arzt nicht. Ihr fiel auf, dass er an jenem Abend, als er später als sonst aus der Stadt zurückkehrte, gezielt auf eine Biene spuckte, die auf dem Weg vor dem Haus krabbelte; früher hatte er dergleichen nie getan.

      Eines Morgens riss die Haut auf Iselins geschwollenem Hals. Er fühlte sich schwach und legte sich oft mit den Schultern aufs Bett, was die Frau ärgerte, die nun die Kleider selber in der Stadt verkaufen musste. Einmal bewegte Iselin den kleinen, weißen Mund, der wie das Zeichen für «Schmerz» zwischen Nase und Kinn stand, und sagte mit der hohen, fliegenden Stimme, die ihm eigen war: «Lies mir etwas vor.» – «Lies selber», antwortete die Frau. Der Pfarrer des Dorfes besuchte ihn im roten Pullover und lachte: «Nicht so schlimm, mein Lieber; es gibt Schlimmeres! Heute beschäftigen uns: A – eine schwere Flugzeugkatastrophe in den USA, und B – eine Panne am Versuchsreaktor in München.» Iselins große Ohren am geschorenen Kopf zuckten, und der Pfarrer wartete einige Minuten, bevor er ihn verließ.

      Später sah Iselin hinter dem Fenster, an dem sein Bett stand, einen rosendunklen Wolkenstrauß lodern; der Nachtwind blies ihn aus, doch Iselin blickte noch immer hinauf. Als die Frau die Fensterläden mit heftigen Bewegungen schloss, klagte er, er könne sich nicht ausweisen. «Du hast einen Pass!», schrie sie. Er flüsterte auch, er habe Angst vor den Zöllnern, die die kalte Bettflasche in seinem Bett fänden (wobei ihn nicht die Tatsache, dass er eine Bettflasche unter der Decke versteckt hielt, beunruhigte; schlimm fand er, dass dieselbe kalt war), doch da war die Frau schon aus dem Zimmer gegangen, um nie mehr zurückzukehren. Um Mitternacht erwachte Iselin und hatte das deutliche Empfinden, der Dornenbaum in seinem Körper schlürfe sein Blut, schlucke es gierig bis zum letzten Tropfen. Iselin wunderte sich nicht, dass das Blut, das der Arzt «phantastisch» genannt hatte, dem durstigen Baum gut schmeckte, und er wartete mit aufmerksamer Freude, bis er ganz leergetrunken wäre und schlapp wie ein Schlauch daläge.

      Als der Pfarrer das abseitsstehende Haus aus einer Lau­ne heraus – oder weil ihm die junge, blonde Frau gefallen hatte – wieder aufsuchte, war Iselin seit fünf Tagen tot.

      Ekstase

      Nero entdeckte das Mädchen, das er Aglaia nannte, als er an einem Sommerabend im ersten Stock des leeren Hauses seiner schon seit einigen Jahren verstorbenen Eltern am Fenster stand. (Er war nicht bei seinen Eltern aufgewachsen, sondern auf dem Bauernhof eines Onkels, wo sich beim Kirschenpflücken die Kirschen in Noten verwandelt hatten, so dass er gezwungen gewesen war, zu komponieren; dunkelrote Kirschen ergaben tiefe Töne und hellrote hohe, doch vermochte er damals noch nicht, seine Kompositionen auf einem Instru­ment zu spielen.) Auf einer Wegbiegung in der Ferne, die plötzlich abzubrechen schien, weil sich dort blau geäderte, beinah durchsichtige Berge aufrichteten, bewegte sich eine Person mit einem aufgespannten Regenschirm. Sie näherte sich langsam, wurde dann durch einen Baum verdeckt und kroch wahrscheinlich später unter den Dächern durch. Unordentlich hingestellt wie nicht mehr brauchbare Öfen oder Herde schienen Nero die ziegelroten und ockergelben Häuser des Dorfes. Er hatte keinen Kontakt zu den Bewohnern, die ihn fremd und unbegreiflich dünkten und denen er fremd und unbegreiflich vorkam. Nun wartete er, obwohl es nicht wahrscheinlich war, dass die Frau oder das Mädchen den schmalen Weg zu ihm heraufsteigen würde. Ein dünner Regen rieselte aus dem leuchtenden Himmel, der höher und höher schwebte.

      Als Nero Schritte hörte, misstraute er seiner Wahrneh­mung und dachte, er vernehme das Prasseln eines großen Feuers jenseits der Sträucher, die am Weg standen; dort war aber kein Rauch: Ein Mädchen – er sah einen Augenblick lang seine nackten, geraden Beine, dann wurden sie von den Bäumen, die sich wie gestärkte Frauenkleider aufgebläht im Garten umhertrieben, verdeckt – ging dem Zaun entlang und näherte sich dem Gartentor. Wenn Nero die Augen halb zukniff, sah er deutlich dort hinten einen steil ansteigenden Friedhof. Doch nun blieben seine Augen weit offen, standen ganz ruhig, schwarz und rund wie Zielscheiben.

      Aglaia kam durch den Garten und schritt, den Schirm zuklappend, da es nicht mehr regnete, gegen das Haus. Nero versuchte, sich eines Wortes zu entsinnen, das eine Vorstel­lung ausdrückte, die ihn seit seiner Kindheit nicht losließ und die er einmal, nein, mehrere Male, hatte erleben, hatte auskosten wollen. Viele Worte fielen ihm ein: Traum, Trance, Ohnmacht, Leidenschaft, Wahnsinn, Sucht … Nein, das war es nicht; plötzlich wusste er es: Ekstase. Nero ärgerte sich, da in diesem Augenblick eine Kuh auf der Weide vor dem Haus muhte; der Klang befremdete ihn, da er nicht warm und satt war und nicht zum Bimmeln der Kuhglocken passte. Das Rufen des Tieres glich einem quälenden, leidvoll fragenden Trompetenton, der sich einige Male – auch als er ihn nicht mehr bewusst wahrnahm – wiederholte. Flüchtig fragte er sich, ob es wohl ein Stier sei, der da aus einer beängstigenden Unruhe heraus schrie, dann ging er durch das dunkle Haus die Steintreppe hinunter; seine Schritte hallten. Er öffnete die Haustür und hatte das Empfinden, er falle in die Augen des Mädchens, die unnatürlich weit und hell waren. Ihr kleiner Körper erinnerte ihn an den Körper des Mauerseglers, eines Vogels, der nicht mehr auffliegen kann, wenn er auf die Erde gefallen ist. Seltsam hilflos stand sie da und hielt