Fern von hier. Adelheid Duvanel

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Название Fern von hier
Автор произведения Adelheid Duvanel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038552208



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irgendwohin?», und folgte Nero ins Haus. Sie setzte sich auf einen der niederen, geflochtenen Stühle an den Esstisch und zog die Knie herauf; so blieb sie, die angezogenen Beine mit den weißen Armen umklammernd. Nero sah erst jetzt, dass sie keine Schuhe trug, und musste beinah lachen, wenn er sich vorstellte, wie sie unter dem Schirm barfuß gewandert war. Er brachte auf den Tisch, was er an Esswaren und Getränken im Kühlschrank fand, doch Aglaia rührte nichts an. Sie sagte mit bedeutungsvoller Miene: «Ich finde es wichtig zu wissen, wo man sich befindet», und ihr Seerosenblick schaukelte im Raum. Sie war fast noch ein Kind mit Lippen, die aussahen, als ob sie sie blutig gebissen hätte. Einmal warf die Sonne ein goldenes Netz herein, das eine Zeitlang auf ihrem Haar lag. Nero war es bewusst, dass er dieses Bild – Aglaia am Tisch, er selber ihr gegenübersitzend, hinter dem Fenster Wolken, leicht wie ausgedrückte Schwämme – während Tagen, Wochen und Jahren als Bestandteil seiner Erin­nerungen betrachten würde, und ein großer Schrecken ergriff ihn vor seiner Einsamkeit. Er nahm wahr, dass Aglaia mit einer Stimme zu reden begann, die ihn an flockige Wolle erinnerte, die sofort reißt; die Stimme war aber angenehm – weder zu rau noch zu glatt. Sie sprach, wie sich eine Heuschrecke fortbewegt, ohne aber wahrscheinlich die Zu­sammenhanglosigkeit ihrer Sätze zu empfinden. Sie stellte Verbindungen zwischen weit auseinanderliegenden Bege­benheiten her, breitete ihre Gedanken wie in einem Taumel vor ihm aus, doch er konnte ihrer Rede nicht folgen, schweifte ab, fragte sich, ob es möglich sei, einen Menschen ganz auszuschöpfen, bis auf den Grund seiner Seele vorzustoßen und an seine Grenzen zu gelangen. Er war entschlossen, Aglaia, nötigenfalls mit Gewalt, bei sich zu behalten. Er nahm an, dass sie von zu Hause ausgerissen oder aus einem Heim geflüchtet wäre und von der Polizei gesucht würde, doch es schien ihm unwahrscheinlich, dass es ihm misslingen könne, sie vor aller Augen zu verbergen. Er beschloss, die Fensterläden zu schließen, die beiden Türen des Hauses zu verrie­geln, niemanden einzulassen und Aglaia zu bewachen, vielleicht sogar zu fesseln, denn er stellte sich vor, dass er, falls es ihr einfiele, um ihre Freiheit zu kämpfen, der Unterlegene sein würde.

      Er forderte sie mehrmals auf zu essen und zu trinken, wobei er sich flüchtig an eine Frau erinnerte, die eine kranke junge Katze in eine Kartonschachtel gebettet hatte. Sie stellte die Schachtel in einer schmalen Gasse an eine Hausmauer, schnalzte mit der Zunge, um die Aufmerksamkeit des Tieres zu erregen, und legte ihm ein Büschel Gras und ein Stückchen hartes Brot vor das trockene Maul. Die Szene hatte ihn damals seltsam berührt, schien ihm auch jetzt wie ein Rückblick in alte Zeiten, als man den Toten eine Wegzehrung für die Reise ins Jenseits mitgab. (Was sollte das Kätzchen mit dem Gras und dem harten Brot?) Er wollte aber nicht, dass Aglaia verhungerte und verdurstete, während sie ihn auf der Reise durch seine Welt begleitete, wo das Schauen unnötig ist, weil alle Bilder sich wunderbar unversehrt um einen drängen und wo man aufgenommen wird und genießen darf, ohne dass man etwas unterscheiden und benennen muss.

      Man erzählt noch heute im Dorf, dass Nero eine Woche später wegen Gewaltanwendung gegen zwei Beamte, die in sein Haus eindrangen, angeschossen und festgenommen ­worden sei; mildernde Umstände ließ man bei der Verur­teilung nicht gelten, denn er hatte einen der Polizisten getö­tet. Aglaia, für die er drei wunderschöne Lieder komponiert und auf der Klarinette gespielt hatte, stürzte sich aus dem obersten Fenster des Hauses und starb am gleichen Tag an inneren Verletzungen. Man beteuert, sie habe Nero sehr geliebt; alle Fenster des Hauses seien stets weit offen gestanden und man habe Aglaias Lachen im Dorf – und, wenn der Wind wehte, auch unten am See – gehört.

      Mein Schweigen

      Ich heiße Mirjam, bin dreizehn Jahre alt und lebe im Erziehungsheim «Zuversicht». Die Erzieherinnen Schmidt, Schmidli und Schmidheini streiten verstohlen und hartnäckig wegen meiner Erziehung; es ist, als nähme eine der andern die Türfalle aus der Hand, aber ich zöge die Tür von innen mit aller Kraft zu, so dass sie niemand öffnen könne. Fräulein Schmidt rüttelt nur; Fräulein Schmidli will die Tür eindrücken oder einschlagen, und Fräulein Schmidheini versucht, die andern zu übertrumpfen und zu überlisten, indem sie heimlich verschiedene Schlüssel ausprobiert. Der Heimleiter und die Psychologin mischen sich manchmal auch ein. Ich fühle mich wie ein leerer Handschuh, in den jeder seinen dicken Finger zwängt. Fräulein Schmidli hat neulich zu mir gesagt, ich lebte nach dem «frühkindlichen Lustprinzip». Ich finde es frech, so etwas zu einer Dreizehnjährigen zu sagen, die das gar nicht versteht; aus Wut habe ich wie ein böser Hund in ihren überlangen Arm gebissen. Gestern ging ich mit Fräulein Schmidt in die Stadt, weil sie mir Schuhe kaufen musste. Auf den Windschutzscheiben der Autos, auf den Brunnenröhren und auf den Tauben hüpften silberne Feuerchen; auch meine Fingernägel, die dumm und rund aussehen, glitzerten. Wie immer, wenn der Wind weht, konzentrierte er sich vor allem auf mich; meine Kleider flatterten wild, während die Kleider der andern Leute kaum zitterten. Es ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass die Nacht nie ganz weicht; Reste von ihr kleben in den Winkeln und schleichen heraus und wachsen.

      Ich flüsterte beim Gehen, aber ohne Worte; nur meine Lippen öffneten und schlossen sich, während die Zungenspitze gegen den Gaumen und die Zähne tupfte. Dabei hörte ich das Dröhnen der Automotoren, das Kreischen der Straßenbahn und die Stimme, die manchmal meinen Namen ruft. Vor einem Warenhaus war eine große Plastikrakete aufgestellt; die Menschenmenge, die sich angesammelt hatte, erwartete Wunder, wenn sich die Rakete alle zehn Minuten wackelnd aufrichtete, wobei sich eine Luke öffnete und schloss. Fräulein Schmidt fragte, was ich flüstere, obwohl sie weiß, dass ich nie antworte. Nun bin ich in meinem Zimmer, das ich mit Ruth teile, die älter ist als ich, aber nur noch zwei Gesichter hat; die meisten Menschen haben mehr, und sie gehören ihnen nicht, weil sie sie nicht kennen. Ich zeige nur ein einziges Gesicht, und um dieses Gesicht zu besitzen, brauche ich meine ganze Kraft. Mich dünkt, meine Erzieher brechen den Mut, der mich wie einen Regenschirm aufspannt, aus mir heraus, Stück um Stück.

      Ich nehme mein Aufsatzheft und schreibe «Der», «Die» und «Das» in Spiegelschrift auf eine leere Seite, dann zeichne ich ein Kreuz aus Blumen, das mich begeistert; es ist erstaunlich regelmäßig geraten, nur der linke Balken bleibt unvollständig, weil er sich zu weit außen befindet; der Papier­rand hindert mich daran, den Balken fertig zu zeichnen. «Es ist ein Gebinde», denke ich. Ich rahme das Kreuz mit vier schwarzen, dicken Strichen ein und schraffiere die Fläche; nun scheint das Kreuz auf einem Sarg zu liegen. Ich bedaure, dass die sich öffnenden Arme des «Gebindes» nicht gleich lang sind; da der linke Arm verstümmelt ist, kann es mich nicht richtig, das heißt fest, in die Arme schließen.

      Die Tür öffnet sich und Fräulein Schmidheini tritt rasch ein, als wolle sie mich ertappen. Ihr Atem bewegt mein ­dünnes Haar. Wie ich erwartet habe, erkundigt sie sich nach meiner Tätigkeit; ich habe das Heft schnell unter eine illustrierte Zeitschrift geschoben, wende den Kopf nach ihr um und betrachte ihre Nase. Das rechte Nasenloch ist kleiner als das linke. Der Satz «Das Schweigen steht wie eine Wand», den ich einmal irgendwo gelesen habe, passt nicht; mein Schweigen gleicht einem elektrisch geladenen Drahtgeflecht, in dem ich gefangen bin.

Das Brillenmuseum

      Verfolgung

      Nonnato schlief in kurzen Etappen, sprang wenige Zentimeter hoch über seinem Körper und neidete, wieder wach geworden, andern Schläfern die weiten, zügellosen Reisen. Beim leisesten Geräusch fiel er. Eines Nachts weckte ihn der Mieter vom obern Stock, der versuchte, seinen defekten Ölofen anzuzünden. Der Mann geriet dabei in maßlose Wut und zuletzt schien es, er demoliere seine ganze Inneneinrichtung. Nonnato knipste die schirmlose Lampe auf seinem Nachttisch an und glaubte, er höre die merkwürdige Melodie, die auf dem Gleis der Nacht dahinfährt. Er dachte an die junge Frau, die in tiefem Schlaf lag, als ihr Haus brannte. Sie hatte ein Herzkirschengesicht und trug keine Brille, obwohl sie beinah blind war, da sie den verschwommenen Zustand, in den ihre Augenkrankheit sie versetzte, genoss – dies wenigstens erzählte sie Nonnato kurz vor ihrem Feuertod. Wenn er jeweils neben ihr lag und die Hand auf ihren Rücken legte, spürte er, dass sie wie eine Katze schnurrte.

      Nonnato stülpte sich die Perücke über den Schädel, weil er fror, und setzte die dunkle Brille auf, um das Fehlen der Brauen und Wimpern zu verbergen. Dann schlüpfte er in einen seiner zu wuchtigen Mäntel und zog Gummistiefel an. Er trat aus dem Haus und schritt über den Schnee in der Erwartung, einzusinken, sich in den Bauch der weiß blühenden Stadt zu bohren; ihr Duft –