Fern von hier. Adelheid Duvanel

Читать онлайн.
Название Fern von hier
Автор произведения Adelheid Duvanel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038552208



Скачать книгу

      Misslungene Kopie

      Einmal sagte Herr Weinwild zu Otto, dem Lehrling: «Ich bin stolz auf dich», dann errötete er, was Otto bemerkte. Damals trank Otto noch nicht oder noch nicht so viel, und damals hätte sich niemand Ottos Verschwinden vorstellen können.

      Viel später brausten Winde über die Ebene vor der Stadt wie Geisterzüge heulend und pfeifend dahin, zerstampften die Schrebergärten und rammten die Fabrik. Herr Weinwild gab Otto, mitten im Atelier stehend, eine Ohrfeige, und Otto lallte: «Der Wurm, der Wurm …»; nach einer Pause fuhr er fort: «Nein, eine Blindenschleiche ist das.» Es verstimmte Herrn Weinwild, dass der Lehrling, für dessen Erziehung und Bildung er mehr als ein Vater getan hatte, «Blindenschlei­che» und nicht «Blindschleiche» sagte. Es war typisch für Otto, falsch zu sprechen, aber diesmal argwöhnte Herr Weinwild, Otto mache dies absichtlich. Der Lehrling übergab sich dann in der Toilette und schlief, auf der Schwelle des Ateliers liegend, ein. Herr Weinwild überdachte den Satz mit dem Wurm nur flüchtig, ohne einen Sinn zu entdecken. Er hatte Otto am frühen Morgen, als er seinen Wagen vor der «Textil AG» parkiert hatte, betrunken angetroffen und mitgenom­men. An Samstagen arbeitete Herr Weinwild stets allein im Atelier; der Stardessinateur, der nur hie und da in Erschei­nung trat, hatte für einen Gardinenstoff Hasen entworfen, die Herr Weinwild nun zu Ende pinseln musste. Einmal erhob sich Otto und ging schwankend hinaus; es fiel Herrn Weinwild nicht auf, dass er nicht zurückkehrte, sondern mit dem Lift ins Erdgeschoss fuhr. Später gestand er sich ein, dass er Ottos Anwesenheit vergessen hatte, da er ganz in den ­Anblick des Hasen vertieft gewesen war. Er musste aber seine Arbeit als misslungen betrachten, denn der Stardessinateur bemängelte später die Hasenohren, die ihm wie Eselsohren vorkamen.

      Da Otto am Montag nicht zur Arbeit erschien, telefonierte Herr Weinwild der Mutter des Lehrlings und erfuhr, dass Otto der Polizei als vermisst gemeldet worden war. Ottos Mutter, die ihren Kummer gewohnheitsmäßig im Alkohol ertränkte, erklärte, der missratene Sohn sei vermutlich mit seiner Freundin, einer geschiedenen Frau, durchgebrannt.

      Als Otto auch in der Woche vor den Lehrabschlussprü­fungen nicht zurückgekehrt war und also nicht beabsichtigte, seinem Lehrmeister durch glänzende Prüfungsnoten Ehre zu erweisen, begann Herr Weinwild, der allein lebte, an son­derbaren «Zeitverschiebungen», wie er es nannte, zu leiden. So sah er zwei schwarze Schwäne aus früherer Zeit, die sich auf dem spiegelnden Linoleumboden seines Schlafzimmers paarten, während er nach dem Bad mit dem in einem Pantoffel steckenden Fuß die abgeschnittenen Zehennägel unter sein Bett schob. Er konnte sich solche und ähnliche Störungen nicht erklären.

      Da er sich in den vergangenen drei Jahren stärker mit Otto als mit sich selber beschäftigt hatte, bemerkte er erst jetzt, dass der frühere Herr Weinwild abhandengekommen war. Das hieß, dass man ihn – wie Otto – als vermisst hätte betrach­ten müssen. Da er aber annahm, dass die Leute ununterbro­chen den Herrn Weinwild, den sie in Erinnerung hatten, erleben wollten, kopierte er jenen genau. Er erschien weiterhin einige Minuten früher als seine Arbeitskollegen im Atelier und verließ es einige Minuten später als sie, und er arbeitete wie gewohnt an den Samstagen. Es war aber nicht leicht, Herrn Weinwild so echt zu zeigen, wie sich die Schwäne ge­­­zeigt hatten. Es kamen immer wieder Fehler vor. So fiel es Herrn Weinwild auf, dass er in der letzten Zeit den Satz: «Aber ich habe gemeint …» öfter als sonst aussprach; er sagte deshalb zu sich selber mehrmals warnend, vielleicht drohend: «Du weißt, wer meint!» Einmal drehte er am Arbeitsplatz die Kurbel einer kleinen Spieldose, die er Otto nie zu schenken gewagt hatte, und rief: «Musik für schwungvolle Leute!» Die Arbeitskollegen lächelten.

      An einem Sonntagabend, als die Lichter des Hochkamins der städtischen Kehrichtverbrennungsanstalt merkwürdig hastig zum Wohnzimmerfenster hereinblinkten und ein Re­ genbogen wie ein schlanker, schillernder Blütenstengel unter dem schwarzen Himmel wuchs, hüpfte Otto plötzlich auf der Scheibe des Fernsehers als Eiskunstläufer. Herr Weinwild erkannte ihn sofort an den Augen, die den Blick eines verwundeten Äffchens hatten. Nach einigem Zögern wagte sich Herr Weinwild ebenfalls aufs Eis, sprang an Ottos Seite und drehte sich im Takt einer fremd klingenden Musik, doch der Applaus des Publikums blieb aus. Ob die Zuschauer ahnten, dass das Paar nur die misslungene Kopie eines früheren Paares war, das sich Herr Weinwild eine Zeitlang ausgedacht hatte?

      August, Außenseiter

      Bruder August machte früh den Eindruck, als hätten wir ihn uns nur geliehen. Nichts, was er tat, schien er aus einer Gewohnheit heraus zu tun. Er hatte in nichts Übung: weder im Klettern oder Rechnen noch im Lachen. Das Gefühl, nur irr­tümlicherweise unter uns zu weilen, schien ihn ganz zu beherrschen; er bemühte sich nicht, angenehm zu wirken, und so waren wir der Überzeugung, er mache sich nichts aus uns und unserer Welt.

      In geschlossenen Räumen erwartete August Befehle, Drohungen und Tadel; die Angst trieb ihn hinaus. Er umhüpfte unser Haus in immer größerem Bogen, flatterte durch Außenquartiere, huschte mit Raben und Möwen über Felder, bestieg eines Morgens ein Flugzeug und flog in den unbegreiflichen Himmel hinein – niemand wusste, wohin. Ich vermute, dass er ein Flugzeug nahm, um den Wind nicht zu spüren, der in jenen Tagen an allem rüttelte. Als das Telefon schrillte, hielt ich den Hörer nicht nah ans Ohr, begriff aber, dass eine Stimme mich knapp über Augusts Flucht unterrichtete. Ich teilte den Eltern das Vorgefallene mit und bemerkte, dass Mutter die Uhr vom Handgelenk nahm und die Brille von der Nase hob, als kümmerten sie Zeiten und Bilder nicht mehr. Die Dunkelheit verdichtete sich; vielleicht umlager­ten doch ziemlich hohe Schneewälle die Stadt, und ich sah durchs Fenster Blätter gekrümmt über den Asphalt kriechen. Vater erklärte beschämt: «Er war schon immer anders.» Befremdet blickte ich auf die Löwenfüße eines Sessels, der sprungbereit in der Zimmerecke stand. Ich dachte an Mutter, wie sie von ihrer Mutter erzählt hatte: «Sie hat bei einem Antiquar einen Großvaterstuhl gesehen und nicht gekauft, weil Großvater tot war, und dann doch gekauft und ihren Mann hineingesetzt.»

      Ich erinnere mich, dass August als Junge hie und da zu mir kam und versuchte, etwas mitzuteilen. Einmal sagte er: «Ich spüre es genau: Diesmal ist die Nacht innen.» Ein andermal stand er neben mir im Vestibül unserer Wohnung und betrachtete ein Theaterplakat, das ich über die vier Glasschei­ben der Tür geklebt hatte, die ins Treppenhaus führte; zaghaft strich er mit dem Zeigefinger über die weiße Tänzerin. Unerwartet wurde der Hintergrund weggerissen; jemand hatte im Treppenhaus das Licht angeknipst. Entsetzt wies August auf den schwarzen Rahmen in Kreuzesform, der nun hinter dem leuchtenden Bild sichtbar wurde.

      Seitdem ich erwachsen bin, erzähle ich den Leuten, August wohne in einem Schloss mitten im Wald – «Mischwald», füge ich, das Genaue liebend, hinzu. Ein Diener staube die weißen Heizkörper in den hohen Räumen ab und August esse vornehm hinter gerafften Vorhängen. Der Diener streue eine Pri­se Salz aus einem Gefäß, das in Zierschrift mit «Sucre» beschrieben sei, in die Waldbeerensuppe seines Herrn. August sei umgeben von Kakteen und lustwandle oft in einem gedeckten Innenhof; durch eine Luke im Glasdach wachse ein Baum, der sowohl mit den Wurzeln als auch mit der Krone denken könne.

      Je ausführlicher ich berichte, desto steiler wächst mein Stolz auf den Bruder. Ich habe mir August geliehen, um ihm Gewohnheiten anzudichten und um ihn mir angenehm zu machen. Aber wenn ich am Abend von der Arbeit komme, wende ich mich ständig um. Kürzlich sah ich, um nur ein Beispiel zu nennen, einen Herrn, der in einiger Entfernung stand und mir den Kopf zuwandte, wobei er den Mund öffnete und schloss. Heute entdeckte ich einen Mann, der die Straße herunterrannte und schrill durch die Finger pfiff. Ich wollte rufen: «Ich habe nichts getan!», doch dann beschleu­nigte ich meine Schritte, trat hastig ins Haus und warf die Tür ins Schloss.

      Seit Martins Tod

      Wenn Fränzi sich nach trockenem Holz und Pinienzapfen bückte, ließ sie sich vom Wind überrollen. Sie suchte das Meer, das an stillen Tagen wie eine Mauer in der Ferne stand und einen Berg trug; jetzt verbarg es sich hinter einem kleinen Nebel. Zerzauste Schafe zitterten, wenn die wie Nonnen gekleideten Bäuerinnen breitbeinig und böse krächzend über die steinigen Felder liefen, und die Mutter sagte: «Der Wind quält.»

      Auch in den Nächten knatterte der Wind pausenlos über unsichtbare Straßen; die Vorhänge vor den geschlossenen Fenstern