Fern von hier. Adelheid Duvanel

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Название Fern von hier
Автор произведения Adelheid Duvanel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038552208



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Tiefe und ging durch den langen, unterirdischen Gang – dort im Dunkeln, mitten im Weg, lag ein Hut, der mit einem funkelnden Licht gekennzeichnet war. Der Besitzer des Hutes lehnte an der Wand; Nonnato wagte nicht, ihn genau anzublicken, sondern bewegte sich auf den Hut zu, verlangsamte den Schritt, bückte sich tief, kratzte mit der linken Hand an der Innenseite seines linken Stiefels und legte mit der rechten einen Geldschein zu den Münzen. Dann richtete er sich auf und hastete weiter. Er wagte nicht, umzukehren, da er nicht noch einmal am Sänger vorbeigehen wollte, der nun seine Finger über die Saiten einer Gitarre schleuderte und auf diese Art rhythmisch schnarrende Geräusche erzeugte; es schien, er wolle sich die gefrorenen Fingerbeeren aufkratzen.

      Als Nonnato am Ende der Fußgängerpassage die Treppe hochstieg, mischte er sich unter einige Schneeflocken, die sich in einem trüben Tanz drehten, wobei sie von einer Straßenlampe beleuchtet wurden. Ein kahler Strauch beugte sich über eine Mauer. Nonnato hatte den Eindruck, die Straße mit den stillen Häusern wachse aus seinem Gesicht; plötzlich warf sich jemand vorbei – wahrscheinlich ein junges Mädchen; er sah das rote, lange Haar, das über seinen Rücken hing und sachte und teilnahmslos auf das beim Gehen schaukelnde Gesäß klopfte. Sofort dachte er wieder an die tote Frau und gleichzeitig fiel ihm das Wort «Euphoranol» ein; oder war es «Euphoridon», das sie geschluckt hatte, um sich wegzuschneiden, sich zu entfernen aus der schmerzhaften Nähe der Geräusche und Berührungen? (Der Name der Pille verdrehte sich stets in seinem Kopf, drängte sich fratzenhaft und immer anders hervor, um ihn zu quälen. Nonnato zwang sich dann, an anderes zu denken, was ihm manchmal für kurze Zeit gelang.) Nur das Feuer hatte die Frau in ihren Schlaf verfolgt, hatte sie gefunden und verzehrt. Nonnato, der damals nach seiner Flucht wieder ins brennende Haus gestürzt war, hatte sie nicht retten können. Nun wusste er plötzlich, dass er das rothaarige Mädchen suchte. Er überließ sich weiterhin seinen Stiefeln, die den Stempel, das Zeichen für seine Person, in regelmäßigen Abständen auf den Schnee drückten, um zu beweisen, dass er die Jagd nicht aufgab.

      Die Seifenblase

      Das Schultor öffnete sich, die Klassen sprangen wie bunte Ketten heraus, kollerten über die beiden breiten Treppen und rollten über den geteerten Hof, als wären die Schnüre geris­sen, an denen die Perlen aufgereiht gewesen waren. Niemand dirigierte das wilde Hüpfen, das nun begann; die Schreie und Bewegungen der rennenden Kinder bildeten ein grelles, sich stets neu formendes Zackenmuster.

      Die nicht mehr ganz junge Aushilfslehrerin, die sich beim Rektor vorstellen sollte, wartete schon seit einigen Minuten in der Nähe des Schultores und dachte: «Langes Warten tötet den Helden.» Winkelried hätte die Speere nicht so freudvoll in seine Brust eindringen lassen, wenn er ihre langsame Annäherung, an einer Mauer stehend, hätte erwarten müssen. Die Aushilfslehrerin stellte sich im Pausenhof Signale vor, die verhindern sollten, dass die Kinder aus vorgezeichneten Bahnen fielen. Fette Kastanienbäume, die sich im Laufe des Tages aus der sonnigen Hälfte des Platzes in den Schatten wälzten, ruhten in den Nächten an den Grenzen; dann glänzten ihre Helme nicht.

      Als die Glocke schrillte, begab sich die Aushilfslehrerin, noch bevor die flinksten Kinder die Treppen erreichten, in das Gebäude. Sie klopfte leise an die Tür des Rektorats und trat ein. An den Wänden waren Mitteilungen befestigt. Die breiten oder schmalen Rücken der Ordner waren mit Worten wie WEISUNGEN, AUFNAHMEVERFAHREN und BEUR­TEILUNGEN beschriftet. Auf dem Arbeitstisch befanden sich zwei Stempel, ein Stempelkissen, ein Locher und ein Lineal.

      Der Rektor stand plötzlich im Zimmer; schwarze Augenschlitze ließen sein Gesicht maskenhaft erscheinen. Die Aushilfslehrerin betrachtete während des Gesprächs, das der Rektor nach der Begrüßung sofort einleitete, die Innenseite ihrer linken Hand. Dort riss sie, genau in der Mitte, ein Stückchen Haut weg. Sie hoffte, der Rektor würde den roten, brennenden, glänzenden Fleck, den sie «Wundmal» nannte, bemer­ken und sich darüber wie über etwas Verbotenes, Unerhörtes äußern, das ihre Tätigkeit an dieser Schule verunmöglichte. Ein unvorhergesehenes Ereignis störte die Sympathie, die die Aushilfslehrerin gegen ihren Willen für den unverständlich und schnell sprechenden Rektor empfand; eine sehr große Seifenblase schwebte zum offenen Fenster herein und glitt ruhig, wunderbar wie eine runde, sanfte Blüte, auf den Rektor zu; dieser warf seine rechte Hand, die der Klaue eines Raubvogels glich, nach ihr, als wolle er sie fangen; sie zerplatzte lautlos. Die Aushilfslehrerin hielt nach dem Junitag Ausschau, der die Fensteröffnung verklebte.

      In der Falle

      Fern liegt wie ein milchblauer Leib die Landschaft hinter einem rostroten Gitter, wie es kahle Bäume bilden. Der Journalist, der keine Artikel mehr schreibt, weil er sich vor Journa­listen ekelt, die Artikel schreiben, betrachtet die Landschaft vom Berg aus, auf dem er ein Haus gebaut hat. Eigentlich gehört das Haus seiner Frau. In den Zimmern sieht man Beton, Backsteinwände, Holzdecken und viele große Fenster. Wenn ein Regen übers Land huscht oder wenn der Nebel her­unterhängt, wirken die Innenräume nass. Bei Gefahr kann der Journalist auf einen Knopf drücken, dann werden die Fassaden von Scheinwerfern angestrahlt, alle Außentüren und Fenster schließen sich und eine Sirene heult.

      Die Kühe und Schafe auf den Hängen seines Berges erscheinen dem Journalisten riesengroß. Die Wiesen glänzen, und am Bach wachsen Sumpfdotterblumen. Der Frühling kommt hier spät, aber schon bedeckt Grün die Rücken der tierhaft neben- und übereinanderliegenden Hügel, und Vögel rufen sich aus ihren Verstecken zu.

      Der Journalist wundert sich schon seit einiger Zeit, dass es Wirte gibt, die wie Wirte, und Briefträger, die tatsächlich wie Briefträger aussehen; er war auf Maskeraden gefasst und musste erleben, dass Menschen ihr Inneres wirklich nach außen stülpen und dass ihr Inneres sich im Außen bewährt. Der Journalist kennt auch mindestens drei Krankenschwes­tern, die das Aussehen von Krankenschwestern haben. Auch viele Lehrer erfüllen die Erwartungen, die man in sie setzt. Der Journalist selber hat diesbezüglich Schwierigkeiten, denn wenn er sein Inneres nach außen stülpte, hüpften wir, seine Mitmenschen, vor Entsetzen in großen Sprüngen da­von. Es ist nun überhaupt eine mühselige Zeit für den Journalisten, weil er sich nicht anmerken lassen will, dass manche der ihm im Laufe der Jahre liebgewordenen «Sachen», wie er sie nennt, ihre Bedeutung geändert haben; er kann nicht mehr über sie bestimmen, weil er sie nicht erkennt. (Unter «Sachen» versteht der Journalist zum Beispiel Geigen und Heißluftballone, Vorwürfe und Spott, Bücher und Scherenschnitte.) Die meisten Sachen bleiben für ihn zwar wie von jeher beinah bedeutungslos, aber jene, die ihm früher vertraut waren, zu denen er einen engen, freundschaftlichen Kontakt herstellen konnte, verweigern und verschließen sich, indem sie ihren Ausdruck ändern. Auch die Möglichkeiten, die sie immerhin offenließen, sind jetzt in Frage gestellt. Vor allem befremdet es den Journalisten, dass zwischen ihnen Übereinstimmung herrscht. Eine Frauenstimme singt zum Beispiel im Radio einen Schlager mit dem Refrain «Der Mann mit Pfiff», während der Journalist ein Zitat Hitlers liest, der in seiner Sehnsucht nach einem neuen Reich geschrieben hat: «In den Anfängen unserer Geschichte ist es Brauch gewesen, dass germanische Frauen jeden zurückweichenden Krieger erschlugen. Diesen feigen Deserteuren gebührt der Hass, die Verachtung und die Wut der deutschen Frau. Das soll jede Frau wissen, danach soll sie sich auch richten.» Noch vor einem Jahr wäre es unmöglich gewesen, dass Hitler sich mit der Schlagersängerin in Verbindung gesetzt hätte. Jetzt fühlt sich der Journalist übergangen und machtlos, weil Hitler sogar mit dem Texter des Schlagers und mit dem Regie führenden Mann beim Radio ein Komplott gebildet hat. Hitler nähert sich dem Journalisten auf eine neue Art und Weise, gegen die er nicht ankämpfen kann. Auch der Psychiater, den der Journalist wegen seiner Angst aufsuchte, ist an einem Komplott beteiligt, über das der Journalist nichts Genaues weiß. Der Psychiater fragte nämlich: «Weshalb sprechen Sie nicht mit Ihrer Frau darüber?» und zwang so den Journalisten, mit dem Bekenntnis eines ihm unbekannten Schriftstellers zu antworten, das er im Wartezimmer zehn Minuten vorher in einer illustrierten Zeitschrift gelesen hatte: «Viel Arroganz und eine Art, die Dinge halb ausge­spro­chen zu lassen, machen mich unsympathisch.»

      Der Journalist fühlt sich gedrängt, seine Ohnmacht zuzugeben: An einem trüben Tag lässt er das Haus – die Falle, in der er sitzt – anstrahlen, und die Sirene jault fürchterlich. Die Frau des Journalisten aber, die sehr gut kocht, ohne je Köchin gewesen zu sein, begibt sich auf eine lange Wanderung auf lehmigem Boden im Nebel.