Straßenbahn kam. Es war so angenehm, ihn in meiner Nähe zu wissen. Als wir dann nach mehr als einer Stunde bei mir ankamen, liefen wir noch ein Stück. Wir verbrachten noch eine ganze Weile in der Kälte und wärmten einander eng umschlungen. „Komm morgen zu mir!“ „Ich weiß noch nicht einmal, was mich jetzt erwartet. Ich habe Angst, heimzugehen.“ „Aber warum gehst du dann heim, wenn du solche Angst hast und wie kann man überhaupt vor seinen eigenen Eltern Angst haben. Komm morgen.“ Wie war das wohl in Kuba? Durften da die Kinder machen, was sie wollten? Waren die Eltern dort so viel anders als in Deutschland? „Okay, kannst du mich nach der Schule um 15:30 Uhr abholen?“ „Gut ich hol dich ab. Wo ist deine Schule?“ Ich gab ihm die Adresse, wir verabschiedeten uns und ich ging heim. Noch eine Weile stand ich am Hauseingang und sah ihm nach. „Dreh dich doch noch mal um, nur noch einmal, ich will doch wissen, ob ich noch in deinen Gedanken bin.“ Endlich, er drehte sich noch einmal um und warf mir einen Kuss zu. Diese Leichtigkeit, es könnte doch alles so einfach sein. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Nur noch zwei, drei Sekunden trennten mich von der Türklinke zur Wohnung. „Ich muss, ich muss, ich muss!“ Und somit öffnete ich die Tür und trat ein. Es war so gegen 19:00 Uhr. Im Wohnzimmer sah ich Licht und ansonsten war es überall dunkel. Die müssten mich doch jetzt gehört haben, wieso sprang mir denn mein Vater nicht direkt entgegen, was war nur los hier? Diese Ruhe machte mich fast wahnsinnig und noch viel unsicherer, als ich es ohnehin schon war. „Okay“, dachte ich, „auf geht’s, wenn mir schon diese Ruhe entgegengebracht wird, dann bleibe ich eben auch ganz ruhig.“ Ich öffnete kurz die Wohnzimmertür und sagte nur schnell. „Ich bin da!“ Ich sah meinen Vater auf dem Sofa liegen und meine Mutter saß auf dem Sessel. Beide sahen fern, dachte ich jedenfalls. Mein Vater schlief, aber ich hörte meine Mutter zu ihm sagen: „Deine Tochter ist da.“ Oh mein Gott, es ging los, wie von einer Tarantel gestochen sprang mein Vater hoch und nichts war schlimmer bei ihm, als wenn man ihn aus einem kurzen Schläfchen weckte. Ich ging rückwärts raus und er kam auf mich zu, ständig zuckte ich zusammen. Er sah verschlafen aus und doch wütend. Er redete auf mich ein, fragte mich, wo ich mich die ganze Nacht rumgetrieben hätte und mit wem. Währenddessen prügelte er auf mich ein und ich hasste diese Ohrfeigen mit seinem Handrücken im Gesicht, es brannte und tat so weh. Natürlich heulte ich und hielt mir immer wieder die getroffenen Stellen zu. Er schaffte es sogar noch, meine Hand jedes Mal davon wegzureißen, bevor er erneut ausholte. „Ich habe bei Anna übernachtet, wir waren zusammen weg und es war schon spät.“ „Du lügst schon wieder, wir waren zweimal dort und niemand war da. Verschwinde in dein Zimmer und wage es ja nicht, da wieder rauszukommen.“ Nichts lieber als das, dachte ich. Nach einer Weile kam meine Mutter rein und sagt nur: „Wir haben uns Sorgen gemacht, es hätte ja was passiert sein können. Ich bin sehr enttäuscht von dir.“ Das konnte ich jetzt auch nicht mehr ändern. Ich wollte doch einfach nur weg von zu Hause, für immer. Nie mehr nach Hause kommen. Am nächsten Morgen fuhren meine Mutter und ich wie immer mit derselben Straßenbahn, sie zur Arbeit und ich zur Berufsschule. „Mutti, ich habe jemanden kennengelernt. Er ist so lieb und so anständig, aber er ist kein Deutscher, er ist Kubaner und er ist 22 Jahre alt.“ „Das kommt überhaupt nicht in Frage, du spinnst wohl, ein Ausländer, der sicher schon eine Frau in Kuba hat. Der will sich doch hier die Zeit nur amüsant verkürzen.“ „Aber Kuba ist doch ein kommunistisches Land, das sind anständige Leute“, sagte ich. „Wenn du denkst, dass du dich weiter mit ihm treffen kannst, schlag dir das aus dem Kopf. Du kommst heute nach der Schule zu mir ins Büro und wartest dort auf mich, wir fahren zusammen nach Hause.“ Hätte ich doch bloß nichts gesagt, jetzt hatte ich auch noch meine Mutter gegen mich. Wer wusste, was sie sich alles hat anhören müssen von meinem Vater, als ich nicht da war. Tja ich konnte aber heute nicht zu ihr ins Büro kommen, ich war ja mit Raul verabredet. In der Schule erzählte ich alles Adele, sie konnte es kaum glauben. „Ich muss weg von zu Hause, jetzt ist Schluss. In der großen Pause fahre ich schnell heim und hole ein paar Sachen. Wenn jemand fragt, wo ich bin, sag einfach, ich musste zum Zahnarzt.“ „Aber Petra, du weißt, wenn du das machst, kannst du wahrscheinlich nie mehr nach Hause.“ „Das ist mir egal.“ Die Schule war pünktlich zu Ende und Raul stand draußen und wartete auf mich. Ich war so stolz auf ihn, alle konnten ihn sehen. Ein paar Sachen hatte ich in der Pause geholt und in einen Stoffbeutel gepackt. Wir fuhren nun gemeinsam zu ihm nach Hause. Was für ein schönes Gefühl, so frei und unbeschwert. Ich hatte mit zu Hause abgeschlossen. Nicht ein einziges Mal dachte ich mehr daran, keine Angst mehr, nichts mehr war davon übrig. Nur meine Mutter tat mir leid, sie wartete sicher auf mich und musste nun ihrem Mann sagen, dass ich nicht gekommen war, und ganz sicher machte er ihr nun die Hölle heiß, meine arme Mutter. Bei Raul angekommen, kochte er uns was, diesmal half ich ihm aber und es machte richtig Spaß. Er war so fürsorglich. Ich sagte ihm, dass ich bei ihm bleibe und nicht mehr nach Hause gehe. Er konnte es kaum glauben und für den ersten Moment machte er sich sogar Sorgen wegen meinen Eltern, ob ich mir da wirklich sicher sei. Das machte mich nun wieder unsicher. War es nun doch vielleicht zu viel für ihn? Was sollte das denn nun, er wollte es doch so? Ich erzählte ihm alles vom Vorabend und sagte ihm, dass ich mir ganz sicher wäre und nicht mehr nach Hause möchte. „Okay, dann bleibst du hier, wir kriegen das schon hin, Hauptsache, es geht dir gut.“ Das hatte er so schön gesagt. Er gab mir jeden Tag Geld, damit ich mir immer etwas zum Frühstück beim Bäcker kaufen konnte. Meistens aber brachte mir Adele etwas zu essen mit. Ihre Mutter wusste, dass ich nicht mehr zu Hause war, und sie machte ihr jeden Morgen ein riesiges Frühstückspaket für uns zwei. Raul und ich verbrachten fast jeden Nachmittag zusammen, wir kochten, gingen zusammen einkaufen, badeten zusammen und wuschen zusammen unsere Wäsche. Wir hörten immer die Bee Gees und Gloria Gaynor ‚I will survive’. So jedenfalls verliefen unsere ersten Wochen. Von meinen Eltern hatte ich nichts mehr gehört. Von meinem Lehrausbilder erfuhr ich nur, dass meine Mutter in der Schule war. Maria hatte ich telefonisch darüber informiert, wo ich war, obwohl ich ihr so von Raul vorschwärmte, konnte und wollte sie mein Verschwinden nicht gutheißen. In der Woche, als Raul Nachtschicht hatte, fing das erste große Problem für mich an. Die Nachmittage konnten wir zwar zusammen verbringen, aber am Abend musste Raul zur Arbeit. Ich konnte mir nicht vorstellen, ohne ihn die Nacht in dem Wohnheim zu verbringen. Das Zimmer, in welchem wir schliefen, war für zwei Bewohner und wir hatten unseren Teil nur mit zwei Kleiderschränken und einem Vorhang abgetrennt. Es war für mich eigenartig, dass Raul nicht wollte, dass ich das Zimmer verlasse, wenn er weg war. „Du bleibst im Zimmer, wenn ich nicht da bin, ich möchte nicht, dass du rausgehst oder sonst irgendwo anders hin und auch nicht mit jemand sprichst oder ins Zimmer lässt.“ „Aber wo soll ich denn hingehen? Und wenn ich zur Toilette muss?“ „Dann geh jetzt, es ist besser so.“ Er hatte dabei so einen komischen Gesichtsausdruck, das gefiel mir gar nicht. Was waren denn das plötzlich für Töne, wieso verhielt er sich so, was hatte das zu bedeuten? Er brachte mir alles, was ich hätte brauchen können, etwas zum Essen oder Trinken. Als er ging, fühlte ich mich fürchterlich einsam, ich sehnte mich nach Maria, nach Anna nach einer gewohnten Umgebung. Plötzlich war mir alles fremd in diesem Zimmer. Die Geräusche von draußen, die Stimmen der anderen Kubaner, die wie immer laut waren. Das machte mir Angst. Ich hockte auf dem Bett, die Beine angewinkelt und mein Kopf fiel mir auf die Knie und ich trug ein Hemd von Raul. So blieb ich mindestens zwei Stunden regungslos sitzen. Ich hatte Sehnsucht nach einem Zuhause, nicht nach meinem Zuhause, aber nach irgendeinem guten Zuhause. Eine vertraute Umgebung ohne fremde Leute und Geräusche, wo ich mich frei bewegen konnte. Es war kaum zum Aushalten, als Raul weg war. Es fiel mir sehr schwer, einzuschlafen. Am Morgen, als Raul kam, stand ich auf und ging selbst zur Arbeit. Jedes Mal fragte er mich, ob ich auch wirklich die ganze Nacht im Zimmer war. „Natürlich war ich im Zimmer, wo soll ich denn sonst gewesen sein?“ „Sei nicht so frech!“, sagte er. Ich konnte das alles nicht verstehen. Aber die Freizeit, die wir dann gemeinsam verbrachten, war trotzdem schön, obwohl ich immer wieder merkte, dass er sehr eifersüchtig war. Bei jedem Jungen oder einem Kubaner, der uns begegnete, sagte er ständig, ich solle sie doch nicht so anschauen. Egal wo es war, ob in der Straßenbahn oder im Bus oder einfach nur auf der Straße, immer wieder machte er mir eine Szene. „Ich habe ihn nicht angeschaut.“ „Doch ich habe es genau gesehen, du hast ihn angelacht.“ „Das habe ich nicht, jetzt hör doch auf, warum sollte ich denn, ich bin doch mit dir zusammen und was ist schon dabei, wenn man mal jemanden ganz normal anschaut, das kann doch überall passieren. Soll ich immer nur auf den Boden schauen? Du musst doch Vertrauen haben, das ist doch das Mindeste, wenn man zusammen ist.“ „Ich lasse mich nicht verarschen, ich