Die Architektur des Knotens. Julia Jessen

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Название Die Architektur des Knotens
Автор произведения Julia Jessen
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783956142468



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folge ihren prüfenden Blicken. John nickt zwischendurch vor sich hin, als würde er etwas endgültig absegnen, seine Lippen sind dabei leicht gekräuselt.

      Was denken sie, was die Welt ist?

      In allen Häusern gibt es Tische. Und immer eine Familie. Eine Familie hat in ihrer Welt offensichtlich aus vier Leuten zu bestehen, so kennen sie es. In jedem Haus-Kasten vier.

      Auf den Tischen stehen Teller und Schüsseln, darauf liegen Fische, Brötchen und Miniaturobst. Schon wieder eine rot bekleidete Playmobilfrau. Sie balanciert einen Kuchen auf ihren ausgestreckten steifen Armen. Natürlich, denke ich. Da ist sie wieder.

      Ich denke, das ist doch die Gleiche, die auf dem Zebrastreifen liegt. Ist sie aber nicht, die Andere liegt noch immer auf der Straße.

      Hätte ja sein können, dass die mittlerweile nach Hause gekrochen ist und jetzt Kuchen serviert, einer muss es ja machen, denke ich.

      Seltsam, dass da überall gegessen wird. Seit die Kinder auf der Welt sind, scheint Essen so etwas Zentrales geworden zu sein. Was essen wir heute? Mama, ich hab Hungerdurstwilleis. Ich kaufe es ein, ich trage es nach Hause, ich schneide es klein, zerteile es, schmiere es auf Brote, brate und koche es, packe es in Brotdosen, stopfe es in Ausflugtaschen, schmeiße es weg, wische es vom Boden auf, trage es zum Müll, wir arbeiten, verdienen Geld, kaufen damit neues Essen. Ja, denke ich, vielleicht hat sich die rote Playmobilfrau auch einfach auf die Straße geschmissen. Vor die Autos. Oder sie wartet auf die Horde Neandertaler, die gerade so zivilisiert den Zebrastreifen überquert. Ein Angebot, sie einfach mitzunehmen.

      Ich möchte mich so gern hinschmeißen. Das war kein lauter Gedanke. Es war eine leise Stimme. Meine lauten Gedanken sitzen im Kopf. Vorn, hinter der Stirn. Das eben kam von unten, hat sich angefühlt, als wäre es aus der Brust aufgestiegen, wie der Atem, ganz ohne Ton. Ich möchte mich hinschmeißen. Ja, das möchte ich. Für einen Moment erahne ich die Möglichkeit, nach innen wegzukippen, in eine Tiefe, in der ich die Stimme vermute, aber sofort übernimmt der alte Reflex, es abzuschütteln, das Gefühl des Nachgebens. Richte meinen Blick wieder auf die Jungs.

      Ihre Stadt rührt mich. Dass meine Jungs die Tische in den Häusern gedeckt haben, Brot auf die Teller gelegt haben, rührt mich.

      Ich habe sie lange beobachtet. Ich denke, sie haben mich hier im Türrahmen vergessen.

      Als hätten sie einen Plan gehabt. Als hätten sie ein gemeinsames Bild im Kopf gehabt, so ungewohnt ruhig und zielstrebig wie sie gebaut haben, und das seit Stunden.

      »Was wird das?«, ist das Einzige, was ich vorhin mal gefragt habe.

      »Eine perfekte Stadt«, hat John geantwortet, ohne mich anzusehen. Beide scheinen zu wissen, was das ist. Eine perfekte Stadt.

      Mein Blick wandert durch den Zoo der Stadt, die Jungs haben die Flucht- und Raubtiere sorgsam voneinander getrennt. Sicher ist sicher. Und dann sehe ich den Turm.

      Sie haben ihn aus den schmalen Hölzern gebaut, die sie kreisförmig, quer übereinandergelegt haben. Der Turm ist bedenklich hoch. Was soll das sein? Wieso habe ich den bis eben nicht gesehen? Er ist so hoch. Ich hätte ihn eigentlich sehen müssen.

      Die Jungs sitzen und betrachten ihre Stadt, in atemloser Stille, keiner der beiden sagt was.

      Ich bin ein Riese. Ein Barfußriese. Auf Zehenspitzen laufe ich durch die Spielzeugstadt. Ich kann nicht anders. Lehne mich über den Turm und schaue hin ein. Oben, über der Öffnung liegt ein Netz, das Fußballnetz. Es liegt da wie ein Gitter, denke ich, also ist das ein Gefängnis, oder was? Die Jungs verfolgen mich mit ihren Blicken.

      Unten erkenne ich eine Feuerstelle und drum herum sitzt eine Ansammlung aus Superhelden, da sind auch die Ninja Turtles, Drachen sind auch dabei und Gummipiraten, überall an ihnen stecken und kleben Waffen, auch auf dem Boden liegen Waffen. Dynamit sehe ich auch. Und Mikas Zauberstab, er lehnt innen an der Turmwand. Er wirkt überdimensional in diesem Ensemble.

      »Gut, dass ihr die da alle eingesperrt habt«, sage ich plötzlich und auch noch viel zu laut, weil sie mich beobachten, weil ich denke, ich müsste was sagen.

      »Da können sie der Stadt nichts mehr … ähm antun, oder?«, schiebe ich noch schnell hinterher.

      John schaut mich an, ohne erkennbare Regungen in seinem feinen Gesicht.

      Dann sagt er, dass die da ja alle nur warten, bis Mika und er mit der Stadt fertig sind, und dass sie die Stadt dann dem Erdboden gleichmachen.

      Mika gibt ein Geräusch von sich, das wie ein aufgeregter Seufzer aus einer körperlosen Tiefe kommt. »Ja, die machen gleich Terror«, sagt er dann und lächelt mich an und ich sehe, wie der Wunsch, die Aufregung darüber mit mir zu teilen, kurz durch sein Gesicht geistert, und ich kann sehen, wie ihm der Gedanke kommt, dass ich »kaputt machen« wahrscheinlich nicht so toll finde, und ich sehe, dass er sich von mir abwendet und wie sein Arm sich kurz über seine schmale Brust schiebt, besorgt, dass ich ihm das nehmen könnte, den großen Moment, auf den sie hingearbeitet haben. Darum ging es also.

      Ich will etwas sagen, was fragen, aber ich spüre die aufgeladene Spannung im Raum, die Luft, wie verdichtet, ein merklicher Widerstand, als wenn ich in Schlagsahne stehen würde, steifgeschlagene meine ich. Jede meiner Bewegungen scheint Abdrücke zu hinterlassen und das Bild zu stören. Empfindlich spürbar, dass ich da nicht durchlaufen kann, nicht reinreden kann, ohne die ganze Atmosphäre zu zerstören. Ich hätte gar nicht hier sein sollen.

      Ich sage nichts.

      Stehe nur weiter im Türrahmen.

      Meine Jungs haben eine Stadt gebaut.

      Eine perfekte, bis ins kleinste Detail ausgetüftelte Stadt, zusammengesetzt aus allem, was sich an Baumaterial, Figuren, Ideen und Vorstellungen über die Jahre in ihren Kisten und Köpfen angesammelt hat. Einzig und allein, um sie zu zerstören.

      Was bringen wir ihnen bei? Aufbauen, erhalten, bewahren, schützen, pflegen und in Ordnung halten. Zerstörung von Sachen ist nicht dabei. Nein, natürlich nicht. Wozu sich sonst die Mühe machen.

      Aber darauf haben die Jungs sich geeinigt. Nur dafür haben sie die Stadt überhaupt gebaut. Und jetzt ist sie fertig. Und jetzt muss sie weg.

      Ich beobachte, wie sie eine Weile damit spielen, die Autos über die Straße schieben, Mika lässt den Polizisten den Verkehr regeln, während John alle Holzampeln auf Rot stellt. Mika lacht.

      Ich warte geduldig, denn ich kann fühlen, wie sie sich an die Katastrophe herantasten. Unter ihren Stimmen vibriert eine Aufregung, die mir bis in die Zehenspitzen kriecht.

      Normalität, Alltag, etwas, das auf einen Abgrund zuzulaufen scheint. Es ist alles ein Spiel. Ein Experiment. Oder nicht? Eine rote Playmobilfrau steht im Supermarkt, sie trägt zwei Körbe und sieht aus, als würde sie auch gleich umfallen, die andere serviert immer noch Kuchen. Die roten Plastikfrauen haben hier ausschließlich Hausfrauenpflichten.

      Ich würde sie gern nehmen und schmeißen.

      »Darf ich bitte mal die Butter haben« (zuckersüße Stimme von John)

      »Natürlich, sofort, bitte schön.« (zuckersüße Antwort von Mika)

      »Dürfte ich die Butter auch gleich mal haben.« (andere Stimme von John, diesmal geflötet)

      Ein freundliches Frühstück in einem der Wohnhäuser, während ich die rote Playmobilfrau zertreten möchte, ich möchte sie vor den Augen meiner Jungs zertreten. Aber das ist nicht mein Spiel. Ich bin die, die zuschaut. Und da ist ein zögerlicher Gedanke, der sich ausbreitet, ob ich nicht vielleicht ein besseres Vorbild wäre, wenn ich die Kuchen und Körbe schleppenden Playmobilfrauen einfach wegtreten würde, vor ihren Augen. Ich sollte ihnen unbedingt sagen, dass Frauen auch noch andere Dinge machen, als Essen hin und her zu tragen. Dass ich mal mehr war als das. Bin. Warum sollte das für sie wichtig sein?

      Ich bin aufgewühlt. Ihr stillschweigendes Einverständnis, ihre gemeinsame Verabredung zum Befreiungsschlag, ihre Lust auf das Chaos der Zerstörung. Aufgewühlt, von dem Gedanken an ihre Hingabe, eine ganze Welt bis ins Kleinste zu erschaffen,