Die Architektur des Knotens. Julia Jessen

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Название Die Architektur des Knotens
Автор произведения Julia Jessen
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783956142468



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begreife, warum es so sein muss. Und gleichzeitig weiß ich, dass ich nicht mehr die Freiheit besitze, es so sehen zu dürfen.

      Mika ist aufgestanden, eilt zum Turm und steht darübergebeugt, flüstert:

      »Jetzt John, sollen wir jetzt schon?«

      John beginnt, leise vor sich hinzumurmeln, in unterschiedlichen, ärgerlichen und lustvollen Stimmen, die Pläne schmieden, sich verbrüdern und ihren Ausbruch planen.

      Mika hebt den Kopf. »Mama, jetzt musst du aber mal rausgehen. Wir wollen doch jetzt alles kaputt machen …«

      Ich fühle mich erwischt. Sein Blick hat etwas Bittendes. Ich dachte, sie lassen mich zuschauen.

      Die Jungs gucken mich an, John legt den Kopf schief, ein Ruck in meinem Körper, als hätte mich jemand geschubst. Ich gehe raus, sage nichts, ziehe die Tür hinter mir zu und bleibe mit dem Rücken an die Tür gelehnt, denke gar nichts, warte einfach nur, warte, so wie man auf ein Gewitter wartet, das schon seit Stunden in der Luft liegt. Es ist wie eine Hitze, die sich in mir aufgestaut hat. Ich bewundere die Jungs für ihre Ausdauer.

      Die ungebremste Wucht, mit der die Teile gegen die Tür fliegen, das Holz der Tür, das in meinem Rücken wummert, das hörbare Durcheinander der Spielzeuge, die an Wänden und aneinander abprallen, zu Boden fallen, die satten Töne, das Lachen, das tief aus den kleinen Körpern zu kommen scheint, abgelöst von hohen lustvollen Schreien, erzeugt ein seltsam dumpfes Echo in meinem Körper und lässt mich kurz in die Knie sacken.

      Die Spannung bleibt in meinem Körper stecken, ich sacke weiter nach unten weg, es gibt keine Entladung für mich. Als ich tief Luft hole, endlich ausatme, kann ich spüren, wie Tränen in mir hochsteigen.

      Alles geht vorwärts, nichts hält, nichts bremst. Ich möchte mich hinlegen.

      Ich sollte die Jungs jetzt stoppen, denke ich, richte mich auf und ziehe mein T-Shirt nach unten, so halbwegs über die Unterhose, wofür schäme ich mich plötzlich? Habe ich einen Grund? Ich sollte sie davon abhalten, oder? Ich will es nicht aufräumen müssen, sie sollten die Sachen nicht kaputt machen, sollten sie wirklich nicht, schließe die Augen wieder, nur kurz, stelle mir vor, wie es sich anfühlen würde, etwas gegen die Wand zu schmeißen, mit aller Kraft. Ich möchte die Jungs nicht stoppen. Ich beneide sie.

      Vorhin hatte ich auf das Gefühl gewartet, das das »Fertigsein« begleitet, den Stolz, dachte, sie spielen mit der Stadt, zeigen sie her, zeigen sie uns, Jonas und mir, damit wir sie bewundern können. Warum bin ich davon ausgegangen?

      Jonas kommt die Treppe hoch und das Erste, was ich sehe ist, dass seine Hose offen ist, und ich denke, dass er wohl auf der Toilette war. Sein Tempo überfordert mich nach der ganzen Stille. Und kurz ist da ein Gefühl der Angst. Dass er alles kaputt macht.

      »Was ist denn hier los?« Seine Stimme klingt dunkel. Er kommt auf mich zu und seine Hand greift sofort nach der Türklinke. Ich fasse nach seiner Hand und halte sie fest. Ganz fest. Halt meine Hand fest, bitte.

      Mein Satz: »Lass sie doch, sie zerstören nur ihre Stadt …«, hängt sinnlos zwischen uns in der Luft.

      »Das hört sich aber an, als würden sie das ganze Zimmer zerstören. Ich kann diesen achtlosen Umgang mit den Dingen nicht ab, Yv!« Ich halte immer noch seine Hand fest und durch meinen Kopf schieben sich laute Gedanken. Auf der Suche nach einer Erklärung, nach dem, was ich sagen möchte, durchkreuzen sie sich gegenseitig, brechen mittendrin ab, zerfallen in ein unendliches Für und Wider, und das so schnell:

      … nichts davon war achtlos, Jonas (er wird das anders sehen), ganz im Gegenteil, es hatte was Liebevolles (ach wirklich?) … So viele Details, Häuser, gedeckte Tische, Menschen im Park, Hundekacke aus Wachsmalkreide, Jonas! (Warum zerstört man die ganze Arbeit, die man sich gemacht hat?) … weil Zerstörung auch eine Erlösung ist … (ich bitte Dich, Yv!) … die Luft im Zimmer war so … (Gewitter und Hitze sind zu abstrakt, kein Argument) … ist das denn nicht der Lauf der Dinge? Fertig ist fertig, muss dann nicht was Neues kommen … (und deshalb muss man es gleich kaputt hauen?) ja …vielleicht … Ordnung kann auch zerstörerisch sein, Jonas. Sie hält uns davon ab, etwas umzuschmeißen, hält uns fest, man erschlafft in ihren Armen, ermüdet in ihrer Umklammerung und dann kriecht einem das vermiedene Chaos in den Kopf (bist du bescheuert?).

      Hab ich dir von den Feuerkeimern erzählt? (Die Feuerkeimer! Ich wollte ihm davon erzählen … längst schon), den Samen, die tief in der Erde ruhen, dort schlafen, hundert Jahre manchmal, die erst nach einem Waldbrand zu keimen beginnen, erst wenn ein Höllenfeuer über sie gewandert ist, wenn der Wald in Schutt und Asche liegt, hast du von denen gehört? (Es ist einfach nicht der richtige Moment für die Feuerkeimer …) Unsere Welt ist so heil, so in Ordnung, aber sind wir nicht unerträglich unerschütterlich geworden? … wo sollen die Jungs Widerstand lernen, wenn sie nicht mal was schmeißen dürfen? … ich war ein Riese in barfuß (Was soll das sein?) … sie dürfen niemals Angst vor dem Chaos bekommen, Jonas … Die Haut der Kinder, vorhin habe ich daran denken müssen, an die Haut ihrer Fersen, wie weich die war, hat das nicht alles aufgewogen, darüber zu streichen? … … … sie schützen zu wollen, vor all dem Bösen in der Welt, wie sehr wir uns immer schützen wollen … (das dauert alles zu lange … was soll das jetzt Yv?) … Ich ersticke in diesem Stillstand … (worum geht es, Yv?) … mir sind eben die Knie weich geworden, als es in meinem Rücken vibriert hat, ich wollte auch was zerstören, schön, deine Hand zu halten (Fass mich an), kannst du die Hand jetzt von der Türklinke nehmen und mich anfassen. Bitte …

      Ich bin bei »Fass mich an« gelandet. Denn dort enden meine Gedanken. In dem Wunsch nach Unordnung. Und in diesem Moment verstehe ich, dass ich ihm keine verständliche Erklärung für das anzubieten habe, was im Kinderzimmer vor sich geht. Jonas und ich sind in verschiedenen Sprachen unterwegs und werden uns nicht verstehen. Und ich sage nichts, in diesen wenigen Sekunden, in denen zwischen uns nichts weiter entsteht als ein seltsam langer Moment der Stille, in dem sein Körper in Richtung Kinderzimmer drängt, während meiner sich dagegenstemmt. Leere.

      »Lass sie doch … sie wollen doch einfach nur Zerstörung spielen«, sage ich dann und der brüchige Klang meiner Stimme ist mir sofort zuwider.

      Ein Satz, der wie kraftloser, trockener Lehm zwischen uns in der Luft zerbröselt. Ich hab das Falsche gesagt. So unzureichend das alles.

      Und deshalb sage ich dann auch noch: »Warum schlafen wir nicht mehr zusammen?«

      Jonas ist sauer, dreht sich um und geht die Treppe runter.

      »Dafür arbeite ich mir doch nicht den Arsch ab, Yv, dass hier am Sonntag, wenn ich noch halb penne, alles zerkloppt wird!«, sagt er, während er nach unten geht.

      Hatte ich gedacht, ich könnte etwas heil machen? Jetzt hab ich’s kaputt gemacht.

      Vielleicht ist das der Grund, warum ich so lange schon meine Gedanken vorbeiziehen lasse, sie nicht mehr mitteile. Auch die Wünsche nicht. Wenn ich sie ausspreche, verwandeln sie sich, weil sie Enttäuschte sind, in Vorwürfe.

      Im Kinderzimmer ist es still. Die Stadt ist zerstört. Mit Hingabe.

      Ich höre sie auch nicht streiten. Warum ist es so still?

      Dann höre ich Mika durch die Tür: »Was machen wir jetzt?«

      »Wir bauen was Neues«, sagt John ungerührt.

      Danach wieder Stille.

      Ich knie im Chaos. Die Jungs duschen, das Wasser läuft, trotzdem kann ich sie reden hören, ich höre sogar das Radio in der Küche.

      Jemand im Radio sagt, dass selbst die Kühe unter der Zeitumstellung leiden und weniger Milch geben. Im Oktober stellen wir wieder auf Winterzeit um. »Die Zeitumstellung ist ein Relikt der Vergangenheit«, ruft der Mann im Radio aufgeregt, »nennen Sie mir doch einen Grund, die Zeit umzustellen! Warum muss ICH Ihnen denn beweisen, dass das unsinnig ist? SIE müssten mir doch beweisen, warum es sinnvoll sein soll, die Zeit ständig vor- und zurückzustellen, wenn jede wissenschaftliche Untersuchung dagegen spricht.«

      Meine Oberschenkel zittern leicht, während ich über den Boden rutsche. Sitze im Chaos und fange an,