Название | Die Seele im Unterzucker |
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Автор произведения | Mica Scholten |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783991072393 |
Doch selbst nach dieser Spritze wurde ich nicht wieder wach. Die Unterzuckerung war bereits zu weit fortgeschritten, möglicherweise wurde auch einfach zu viel Insulin verabreicht. Keine Ahnung, an diesem Tage war es wohl einfach eine Verkettung unglücklicher Umstände. Schließlich wurde ein Krankenwagen alarmiert, welcher mich ins nahegelegene Krankenhaus in Bordeaux brachte. Da es sehr schnell gehen musste, wies man meinen Vater an, mit dem Wohnmobil hinter dem Krankenwagen herzufahren. In der regen Hektik blieb keine Zeit, eine genaue Anschrift zu hinterlegen. Auch Navis gab es damals noch nicht. Seline und ihre Familie fuhren mit ihrem Auto nach Hause, wie ursprünglich geplant. Mein Vater verfolgte den Krankenwagen, in welchem ich mich befand, verlor ihn jedoch irgendwann im turbulenten Stadtverkehr aus den Augen. Verzweifelt und hilflos fragte er sich durch, bis sich schließlich ein hilfsbereiter, ortskundiger Mann bereiterklärte, ihm den Weg zu zeigen.
Inzwischen war ich bereits schon im Krankenhaus eingetroffen, wo mir eine Infusion mit Glukose gesetzt wurde. Als ich erwachte, war mein Vater bereits bei mir und berichtete, was geschehen war. Ich konnte mich an rein gar nichts mehr erinnern. Weder an die Unterzuckerung direkt noch an die Fahrt im Krankenwagen quer durch Bordeaux. Das Letzte, an das ich mich erinnern konnte, waren die vergnügten Stunden in den Wellen. Die Tatsache, dass ich eine schwere Unterzuckerung erlitten hatte, schockte mich weniger als jene, dass meine geliebte Seline bereits ohne uns nach Hause gefahren war.
2 Tage sollte ich zur Beobachtung im Krankenhaus verbleiben, bis sich mein Zuckerspiegel wieder vollständig normalisiert hatte. Denn nun musste präzise darauf geachtet werden, dass durch die Injektion der Glukosespritze mein Pegel nicht „Ping Pong“ spielte. Dies ist in etwa so zu verstehen: Steigt der Blutzuckerspiegel zu weit und unkontrolliert nach oben, so muss mit mehr Insulin korrigiert werden als normal. Fällt er dagegen zu weit in den Keller und muss mit übermäßig viel Zucker wieder nach oben gepusht werden, so kann dies unter Umständen zur Folge haben, dass auch die nächsten Tage deutlich mehr oder weniger Insulin benötigt werden kann. Je nach Körper, Stoffwechsel, Situation, körperlicher Verfassung, gegessener Kohlenhydrate etc. muss hier nach einem schweren Hypo individuell gehandelt und aufgepasst werden. Nicht zu vergessen: In den Stunden der Bewusstlosigkeit ist der Körper einer erheblichen Stresssituation, Adrenalin und Entzugserscheinungen ausgesetzt. Nerven und Zellen werden geschädigt und sterben im schlimmsten Falle ab. Das beeinflusst die Werte ebenfalls. Darum ist es auch so wichtig, in einer Lage wie dieser schnellstmöglich zu handeln, so wie es mein Vater und Seline damals taten.
Nachdem so weit alles wieder in Ordnung war, wurde ich am zweiten Tage wieder entlassen. Mit meinem Lieblings-Teletubbie im Arm verließ ich freudestrahlend das Krankenhaus und konnte die Ankunft bei Seline und Co. kaum noch abwarten.
Gemeinsam verbrachten wir noch ein paar letzte schöne Urlaubstage, bevor es dann wieder nach Hause ging. Nach beidseitigem Abschiedsschmerz versprach mir mein Vater, dass wir ganz bestimmt mal wieder nach Frankreich fahren würden.
Ferner freute ich mich auf zuhause, meine baldige Einschulung und ganz besonders auf die lang ersehnte Ankunft meines Bruders!
Familienzuwachs
Zurück zuhause gab es eine weitere Veränderung. Meine Mutter und Onkel Beck hatten in meiner Abwesenheit bereits die neue Wohnung eingerichtet, welche wir nun gemeinsam bezogen. Sie lag sehr zentral in einem Reihenhaus, hatte vier große Zimmer und sogar einen kleinen Balkon. Alles in allem gefiel sie mir recht gut. Ich hatte ein eigenes Zimmer, welches ganz ähnlich wie mein altes eingerichtet wurde. Auch das Zimmer für meinen Bruder war bereits fertiggestellt, in wenigen Tagen sollte es so weit sein.
Doch noch vor seiner Ankunft wurde ich in der neuen Stadt in den Bergen eingeschult. Mit Schultüte in der Hand ging ich gemeinsam mit meinen Eltern in die neue Grundschule, welche von meinem neuen Zuhause einige Busstationen entfernt lag. Ein weiterer Schritt in die Selbstständigkeit für mich. Dort wurden alle neuen Schüler willkommen geheißen, den verschiedenen Klassen der 1. Jahrgangsstufe zugeteilt und die künftigen Klassenlehrer vorgestellt. Mein Lehrer war sehr freundlich und kompetent. Allerdings noch ein wenig vom alten Schlag. So mussten wir uns beispielsweise noch gelegentlich in die Ecke stellen, wenn wir frech oder unaufmerksam waren. Da ich schon vor Schulbeginn ein bisschen lesen konnte, erlernte ich auch recht schnell das Schreiben. Mein Vater erzählte mir einige Zeit später, dass er am Tage meiner Einschulung nur mit Mühe und Not die Fassung behalten konnte. Als er mich bei seiner Ankunft im Hof mit der Schultüte in der Hand stehen sah, hätte er am liebsten geweint. Ich vollkommen allein in einer fremden Stadt unter lauter fremden Menschen. Das machte ihm zu schaffen.
Weil wir in einem Reihenhaus wohnten und auch dementsprechend von einer großen Nachbarschaft umgeben waren, dauerte es nicht lange, bis ich die ersten Freundschaften geschlossen hatte. Ich spielte mitunter mit dem netten Jungen, welcher im Erdgeschoss wohnte, und mit einem netten Mädchen aus dem Nebengebäude, welches auch in meiner Klasse bald meine beste Freundin wurde. Wir alle mochten Disney Filme und spielten mit den Sammelfiguren von McDonalds. Hinter unserem Haus befand sich ein großer Spielplatz, welcher ebenfalls einen beliebten Treffpunkt darstellte. Im Winter fuhren wir auf einem aufgeschütteten Schneehaufen mit unseren Plastikschlitten abwärts. Das machte großen Spaß.
Schließlich war es so weit. Die Geburt meines Bruders stand unmittelbar bevor und ich wurde zu meinem Vater gebracht. Ich protestierte, da ich bei der Geburt so gerne mit dabei gewesen wäre. Doch das war alles andere als angebracht.
Mein Vater hatte zum damaligen Zeitpunkt gerade Besuch von einer alten Freundin, mit welcher er früher bereits einmal zusammen war. Inzwischen führten sie eine erneute Art der Beziehung. Ob es sich dabei nur um eine Ablenkung von meiner Mutter handelte, kann ich nicht beurteilen. Ihr Name war Heidi, sie war sehr nett und offen. Gemeinsam spielten wir mit meinen Spielfiguren amüsante Geschichten, um mir die lange Wartezeit auf meinen Bruder zu verkürzen. Heidi und mein Vater waren noch einige Zeit in gewisser Weise zusammen. Allerdings nicht für lange. Später einmal machte er deutlich, dass jene Heidi, mit welcher er über einen längeren Zeitraum vor meiner Mutter in einer Beziehung war, im Grunde seine ganz große Liebe gewesen war. Ob das tatsächlich stimmte, oder ob das seine persönliche Art der Verdrängung darstellte, wusste wohl nur er allein.
Schließlich erhielten wir Meldung, dass die Geburt erfolgreich verlaufen und mein Bruder heil und wohlbehalten das Licht der Welt erblickt hatte. Im Vergleich zu mir erfolgte die Geburt auf natürlichem Wege. Ich dagegen war ein Kaiserschnitt, weil ich mich im Bauch gedreht hatte. Womit er mir gegenüber ebenfalls im Vorteil war: sein Zungenbändchen war wie meines ebenfalls verkürzt. Jedoch wurde es bei ihm rechtzeitig entdeckt und direkt nach seiner Geburt durchtrennt, so dass es keine große Sache darstellte. Bei mir blieb dies als Baby dagegen unbemerkt.
Zum ersten Mal konnte ich die Rückreise vom Wochenende bei meinem Vater kaum erwarten. Während ich ansonsten beinahe bei jeder Rückfahrt jammerte und bettelte, noch etwas länger bei meinem Vater bleiben zu dürfen, war ich dieses Mal so aufgeregt und voller Vorfreude auf meinen kleinen Bruder. Die Nacht zuvor hatte ich bereits von ihm geträumt.
Der Abschied von meinem Vater verlief kurz und knackig. Euphorisch stürmte ich die Stufen hinauf und fragte voller Eifer: „Wo ist mein Bruder, wo ist mein Bruder?“
Meine Mutter nahm mich an die Hand und führte mich leise in sein Kinderzimmer. Und dort lag er. Mein kleiner Bruder Finn. Tief schlafend in seinem Kinderbettchen. Mit hochrotem Köpfchen, nicht viel größer als eine Puppe. Er sah so winzig und zerbrechlich aus. Irgendwie ein komisches Gefühl, auf einmal ein Brüderchen zu haben. Aber meine Freude war grenzenlos und ich war voller Stolz.