Der tote Rottweiler. Heike Brandt

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Название Der tote Rottweiler
Автор произведения Heike Brandt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783948675721



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Gabriele da, wie immer in einem grellbunten Kostüm, sowie Opas ältester Freund und Ex-Kollege Klaus mit Frau Britta, die quasi zur Familie gehören. Sie wohnen auch gleich um die Ecke.

      Die Eltern von Julikas Vater sind nicht angereist, sie kommen nur zu runden Geburtstagen.

      Der ältere Bruder von Julikas Mutter, Opas und Omas Sohn Mark, kommt nie, weil er schon seit vielen Jahren mit seiner Familie in Australien lebt. Julika kennt sie nur vom Bildschirm.

      Und Uromi fehlt. Zum allerersten Mal, seit Julika denken kann. Uromi will nicht mehr aus dem Bett, auch nicht zum Geburtstag ihres geliebten Sohnes. Das will was heißen.

      Noch im letzten Jahr ist Uromi dabei gewesen. Julika sieht sie vor sich, wie sie sich in ihrem Rollstuhl strafft, wie ihre himmelblauen Augen aus dem zerknitterten Gesicht leuchten und wie sie – wie auf jedem der Geburtstage und mit fast immer identischen Worten – anhebt, die Geschichte von der komplizierten Geburt ihres Sohnes Gunter zu erzählen, im Jahr 1943, wie damals, als sie schon im Kreissaal voller Schmerzen in den Wehen lag, die Ärzte sie untersuchten und plötzlich laut zu lachen anfingen, weil sie schon sehen konnten, dass es ein Junge war. An der Stelle kicherte Uromi immer wie ein kleines Mädchen und Opa guckte peinlich berührt, bevor Uromi wieder ernst wurde und auf den Krieg zu sprechen kam. 1943 war ja schon Krieg, aber noch nicht in ihrem Städtchen, hier fielen die Bomben erst ein Jahr später; doch die Angst, die war natürlich da. Sie hatte immerhin das Glück, dass wenigstens ihr Mann zu Hause war, wegen seiner wichtigen Position im Werk. Die schwere Zeit, die kam erst nach dem Zusammenbruch, da hatten sie buchstäblich nichts, da wurde ihnen alles genommen. Aber zum Glück sei Gunter da ja schon aus dem Ärgsten raus gewesen.

      „Was war der für ein liebes Kind!“

      Das liebe Kind ist jetzt ein großer, fast kahlköpfiger Mann mit fleischigen Händen und einem dicken Bauch, bedeckt von einem straff anliegenden weißen Hemd, über das wie eine fette Raupe ein grüngelbgestreifter Schlips kriecht. Opa macht sich daran, die erste Flasche Wein des Tages zu öffnen.

      Dieser Wein, trötet er, ein Moselwein, sei ein ganz besonderer Jahrgang, den er extra aufgehoben habe für den heutigen Anlass. Schon während er die Weinkelche aus dem Schrank holt, fallen Worte wie Abgang und Bouquet, blumig und erdig, mit denen Julika nicht viel anfangen kann.

      Opa und sein Freund Klaus verstricken sich in eine lebhafte Debatte über die Preis- und Qualitätsunterschiede zwischen Aldi und Lidl, vor allem bei Champagner, Scampis und Schinken. Von dort aus gelangen sie problemlos zum Schützenverein, nun auch mit Beteiligung von Julikas Vater, der wie die beiden anderen Männer im Vorstand des Vereins ist, und sprechen über die bevorstehenden Wettkämpfe, überlegen, wer wohl die besten Chancen hat und wie die Zukunft von Christian aussieht, der so offenkundig begabt ist fürs Schießen – dabei gucken alle zu Christian hinüber, der immer noch mit seinem Handy beschäftigt ist und nichts hören kann, da er Kopfhörer übergestülpt hat. Sie streifen kurz und achselzuckend das Thema Bello, auch ihnen ist es ein Rätsel, wie ein so großer starker Hund einfach verschwinden kann, und sie einigen sich darauf, dass sie eben abwarten müssen. Ihre Stimmen werden leiser, Julika kann das Wort Mexiko heraushören, aber der Rest bleibt unverständliches Gemurmel.

      Die Frauen, die am anderen Ende des Kaffeetisches sitzen, haben inzwischen das Thema Chor am Wickel. Julikas Oma quetscht ihre Tochter nach dem Neuen aus, dem jungen Mann mit der begnadeten Baritonstimme, bei dem Astrid seit einiger Zeit Yogastunden nimmt, und Oma Barbara meint, sie überlege, ob sie nicht auch Yoga machen solle, sie werde ja nicht jünger und spüre langsam all ihre Gelenke, und vielleicht helfe Yoga da.

      Bestimmt, bestärkt sie Julikas Mutter und fügt fast schwärmerisch hinzu, ja, der Mann sei wirklich wunderbar, der habe so eine fröhliche, spielerische Art, dass man sich in seiner Gegenwart ganz leicht fühle. Dazu lächelt sie still.

      Julikas Vater, der ihrer Mutter gerade Wein nachschenken will, hält inne und fragt stirnrunzelnd:

      „Soll ich jetzt eifersüchtig werden oder was?“

      Opa Gunter hält ihm sein Glas hin, lacht glucksend auf und sagt:

      „Nein, lieber Schwiegersohn, das soll ein Ansporn sein, du weißt schon, auf Händen tragen und so. Das wollen die Frauen doch!“

      Worauf die Oma ihm ein schnippisches „Was weißt denn du schon von Frauen?“ hinwirft und einen kräftigen Schluck Wein nimmt.

      Betretenes Schweigen.

      Da denkt Julika: Jetzt. Jetzt ist der richtige Moment, jetzt sage ich es, und bevor sie es sich anders überlegen kann, spricht sie aus, was ihr die ganze Zeit durch den Kopf geht:

      „Ich habe auf dem Weg hierher ein Denkmal für Zwangsarbeiter gesehen, gleich hinterm Fluss.“

      Aller Köpfe wenden sich ihr zu. Die Gesichter sind verschlossen, abwartend.

      „Kennt ihr das?“, fährt Julika fort. „Hier, ich hab’s auf dem Handy?“

      Sie hält ihr Handy mit dem Bild hoch und zeigt es herum.

      „Wusstet ihr von den Zwangsarbeitern? Dass ganz viele von denen hier gestorben sind, sogar kleine Kinder?“

      Für einen Moment wird es noch stiller.

      Und dann reden alle auf einmal.

      „Mädchen, das Denkmal steht doch schon lange dort. Die Debatten haben wir hinter uns.“

      „Ach, du großer Gott, das Thema wieder! Ich dachte, damit sind wir durch.“

      „Mein Vater ist im Krieg gefallen. Ich kann mich gar nicht an ihn erinnern.“

      „Jetzt verdirb Opa doch nicht seinen Geburtstag.“

      „Hast du das Denkmal wirklich noch nie gesehen? Da sind wir doch schon so oft dran vorbeigefahren.“

      „Ach ja, das war wirklich eine schlimme Zeit damals. Gott sei Dank ist das lange her.“

      Opa setzt sich auf und trompetet:

      „Ach, Kind, du hast doch keine Ahnung, wie das damals war!“

      „Dann erzähl’s mir doch.“

      Er zieht beide Augenbrauen hoch und blickt sie erstaunt an.

      „Ja, habt ihr das denn nicht in der Schule gehabt? Die reden doch andauernd von der NS-Zeit, als gäb’s keine anderen Probleme!“

      „Schon. Aber mehr so allgemein. Nicht, wie das hier bei uns war“, antwortet Julika. „Mit den Zwangsarbeitern und so.“

      „Mein Kind, ich will dir mal eins sagen: Das waren damals ganz andere Zeiten, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Ohne die Arbeiter aus dem Osten wäre hier die Produktion zum Erliegen gekommen, wir hätten die Front nicht mit ausreichend Waffen und Munition versorgen können. Und dann? Hätten wir etwa Stalin und die Bolschewisten gewinnen lassen sollen? Wenn die Amerikaner uns damals nicht in den Rücken gefallen wären …“

      Opa winkt ärgerlich ab.

      „Aber hör mal“, fährt Julikas Vater auf. „So einfach kannst du dir das aber nicht machen. Die Amerikaner …“

      Opas Freund Klaus will sich einmischen, aber Oma Barbara legt beschwichtigend ihre Hand auf seinen Arm, klopft mit dem Löffel an ihr Glas und hebt energisch die Stimme:

      „Ich möchte keinen Streit an Opas Geburtstag. Lassen wir die alten Zeiten ruhen und stoßen wir auf Opas neues Lebensjahr an.“

      Sie hebt ihr Glas.

      „Denn es gibt noch etwas zu feiern.“

      Sie macht eine Pause, blickt in die Runde und verkündet dann strahlend:

      „Die Gewebeproben sind negativ. Opa hat keinen Krebs.“

      Alle greifen erleichtert nach ihren Gläsern und prosten Opa und Oma fröhlich zu. Außer Christian, der hat nichts gehört und daddelt weiter auf seinem Handy.

      Julika freut sich für ihren Opa wie alle anderen, auch wenn sie von dem Krebsverdacht