Schiffbruch. Andres Bruetsch

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Название Schiffbruch
Автор произведения Andres Bruetsch
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783724525196



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flüchtig das jeweilige Thema kurz aufzunehmen, das gerade beschwatzt wurde, äusserte sich salopp und überlegte gleichzeitig, ob sein Dauergrinsen nicht irritierend wirkte. Er beschloss, fortan eher ernst dreinzublicken. Der Autobahnzubringer, die sogenannte Na3b, war das Thema, das man jetzt, wie der Chef des Strassenamtes meinte, «schleunigst in Angriff nehmen müsse.» Patrick: «Wir sind mit Volldampf dran.» Auch das gute Abschneiden der Öko-Partei blieb nicht unerwähnt.

      Später fragte sich Patrick, ob er überhaupt etwas von den kleinen Tellern, die die jungen Damen unentwegt herumreichten, gegessen hatte. Dass die Frauen alle zumindest hübsch waren, wusste er von anderen Anlässen. Auch, dass zwei fehlten, war ihm erklärt worden. Sogar warum – «enorm tragisch», kommentierte er das.

      Patrick nässte eine Serviette in einem der Eiskübel und kühlte seinen heissen Nacken. Er bemerkte Lena, die in Jeans und T-Shirt, ein Glas Weisswein in der Hand, mit der Justiz- und Polizeidirektorin Dominique Höchli diskutierte.

      Aline, die sich für den Abend die Haare hochgesteckt hatte, tauschte sich mit Frau Herrmann aus, ging dann weiter zu Karloff, dem alten Charmeur und angepassten Künstler, der wohl nur gekommen war, weil er hoffte, jetzt dann endlich die renovierte Stadthalle ausmalen zu können.

      Patrick interessierte das alles nicht. Es interessierte ihn überhaupt nichts an diesem Abend, ausser, was Lena jetzt gerade mit der Polizeichefin Höchli beredete. So setzte er wieder sein Lächeln auf und ging zu den zwei Frauen. Höchli unterbrach das Gespräch mit Lena und meinte begeistert – für Patrick viel zu begeistert – was für eine tolle Tochter er habe, mit dieser faszinierenden Passion. «Ungehörte Töne» – grossartig fände sie das.

      Patrick bemerkte, dass Lena verwundert auf seine Hand schaute, in der er noch immer die nasse Serviette hielt. Mittlerweile war der rechte Hemdsärmel zur Hälfte dunkelblau vor Nässe. Alles nur, weil Aline Kurzarmhemden verabscheute, dachte er.

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      Aline liebte Blumen und sie hatte die natürliche Fähigkeit, sie in ungewohnter, überraschender Art zusammenzustellen. Und doch, wie sie dann so ungezähmt in ihren Vasen – den exakt richtigen – im Wasser standen, glaubte man, die Rosen, Wiesenblumen, Nelken, Sonnenblumen, Gräser und dergleichen hätten sich von alleine zusammengefunden. Aline war egal, dass kaum jemand diese Schönheit beachtete. «Den Blumen wohl auch», dachte sie. Lieber nicht beachten als beleidigen, wie das die Priska Staub einmal getan hatte: «Schön, die Blumenbouquets!» Blumenbouquets! Ein Reizwort für Aline. Blumenbouquets waren etwas für Hochzeitsautos, Trauungen und Beerdigungen.

      «Was mach’ ich mir auch für Gedanken», fragte sie sich mit einem Schmunzeln.

      Sie beobachtete Sabine Herrmann, wie sie ohne gehetzt zu wirken die Gäste mit kleinen, kunstvollen Gaumenfreuden verwöhnte. Sie fand mit stupender Sicherheit jederzeit die Balance zwischen Gastgeberin und Wirtin, verkörperte das Gegenteil einer servilen Person und spielte sich dennoch nicht in den Vordergrund.

      Hunderte von Tellern, Gabeln, Servietten, unzählige, liebevoll zubereitete Köstlichkeiten, literweise Wein und Wasser – all der Aufwand, weil ihr Mann auch für die nächsten vier Jahre als Regierungsrat seine Politik machen würde. Viel eher war es die Politik, die die wollten, die hier herumstanden und schwatzten. Die Politik und die Interessen, die er, ihr Mann Patrick, zu vertreten und bitte sehr umzusetzen hatte.

      Aline dachte zurück an die Einladung vor acht Jahren, damals war Patrick neu in den Regierungsrat gewählt worden. Es war kein rauschendes Fest gewesen, aber ein freudiger, geradezu begeisternder Anlass. Aline kam bei diesem Gedanken – sie wusste nicht, warum – eines dieser farbenfrohen Landschaftsbilder von Derain in den Sinn. Es schien ihr, dass seine Bilder genau das ausdrückten, was an dem heutigen Abend fehlte. Licht und Farben. Die Heiterkeit, die fehlte – das war es. Und dies, obwohl doch alles war wie vorgesehen. Vor allem waren sie alle erschienen, die «wichtigen Leute» aus Politik und Wirtschaft. Selbst der stets etwas zu parfümierte Kubli, der Kulturchef, hatte sich kurz gezeigt. Und Karloff, der alternde Womanizer, gehörte wie der Stern auf den Weihnachtsbaum, zu jedem halbwegs wichtigen Anlass. Blöd fand Aline diesen Viktor Zumbach, der sich, obwohl jede und jeder ihn vom Fernsehen her kannte, stets mit ganzem Namen vorstellte. Er stand seit mehr als einer Stunde neben Cecile Rub, Redaktorin bei der Internetzeitung, die jetzt der grosse Hype war. An lokalen Promis fehlte es nicht, sie waren da und bestätigten mit ihrer Anwesenheit die Wichtigkeit des Gastgebers.

      Silvia Nussbaumer, die Leiterin der Musikschule, riss Aline aus ihren Gedanken. Im aufkommenden Gespräch ging es um die Schule und die Bibliothek, eine mögliche nähere Zusammenarbeit der beiden Institutionen und um Marius, der im Herbst als Gesangslehrer hätte anfangen sollen. Sie kenne keinen Marius, erklärte Aline, ob der eine bessere Stelle gefunden habe? Nein, Marius sei der junge Mann, der gestern Nacht bei diesem Bootsunfall schwer verletzt wurde.

      «Der Freund von Grazia», kombinierte Aline betroffen, sie habe erst heute Nachmittag von diesem Unfall erfahren. Ob sie wisse, wie es dem Mann gehe, erkundigte sich Aline.

      «Besorgniserregend …», sagte Frau Nussbaumer, «jedenfalls kann er, wie man befürchte, die Stelle in zwei Wochen nicht antreten.»

      Lenas Gespräch mit Dominique Höchli fand keine Fortsetzung, nachdem ihr Vater zu ihnen gestossen war. Und weil er der eleganten Dominique – wie er charmierte – unbedingt den neuen Direktor der Wasserwerke vorstellen wollte, stand Lena jetzt alleine herum. Man hätte sie für eine der Serviererinnen gehalten, hätte sie ebenfalls eine weisse Bluse getragen. In Jeans und T-Shirt gehörte sie jedoch nicht zu denen, und auch nicht zu all den andern, den Bedeutenden, den Engagierten und Informierten. Viel lieber als herumzustehen hätte sie was getan, die Tische abgeräumt, die Gläser gefüllt. Noch lieber wäre sie gegangen, doch sie hatte ihrer Mutter versprochen, zu bleiben.

      Die helle Stimme von Sabine Herrmann holte sie aus ihren Gedanken.

      «Lena – komm, lass uns anstossen.»

      Sie gab Lena eines der zwei Gläser, die sie mitgebracht hatte und meinte:

      «Ich denke, bevor ich dir Frau Girard sage, sagst du mir Sabine … Ist endlich an der Zeit.» Tatsächlich war sie für Lena noch immer die «Frau Herrmann». Da sie Sabine, wie sie ihr jetzt sagen durfte, seit Kindheit kannte und äusserst sympathisch fand, freute sie ihre Geste umso mehr. Sabine erkundigte sich interessiert nach ihrem bevorstehenden Studium. Und obwohl sie aufmerksam zuhörte, sah sie gleichzeitig, dass da einer ein leeres Glas hatte, oder dort ein schmutziger Teller herumstand. Ihre Anweisungen waren klar und dezent – keine Spur von aufgeregt.

      «Hast du die zwei herbestellt?», fragte Sabine lachend und deutete mit dem Kopf auf eine junge Frau und einen nicht viel älteren Mann.

      Die zwei standen plötzlich inmitten der eingeladenen Menschen und doch erkannte man sie als «ganz sicher nicht Eingeladene». Sie hatten zu tun, das vor allem unterschied sie von allen anderen. Lena ging auf die junge Frau zu, die sie noch von der Mittelschule her kannte. Sie hielt ein Clipboard und ein Mikrofon in der Hand und sah aus, als müsste sie gleich vor eine Kamera treten. Und das war auch ihre Aufgabe. Der Mann mit der Kamera erinnerte Lena an Fotos, die sie von ihrem Vater kannte. Dreissig oder mehr Jahre früher, als er mit langen Haaren gegen AKWs demonstrierte.

      «Hast du uns angerufen?», fragte die Frau mit dem Mikrofon. «Petra», stellte sie sich vor, «Ah, wir kennen uns ja von der Schule», haspelte sie, «ich arbeite zurzeit für ‹Schnell und aktuell›.»

      Sie hätten nicht viel Zeit, schien ihr wichtig zu erwähnen. Um zehn müssten sie auf dem «Raten» sein, wegen dem «Jazz-Singer of the Year».

      «Welcher ist dein Vater?»

      Eigentlich wusste sie es, denn Petra steuerte ohne Lenas Antwort abzuwarten auf Patrick zu und deutete dem Kameramann, mitzukommen.

      Für Patrick fühlte es sich an, als hätte ein Blitz die Taucherglocke zerstört, die ihn während der letzten Stunden sicher geschützt hatte. Fast schrill hörte sich an, was die junge Frau ihm entgegenrief:

      «Herr Regierungsrat – als Erstes herzliche