Schiffbruch. Andres Bruetsch

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Название Schiffbruch
Автор произведения Andres Bruetsch
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783724525196



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er sein Verhalten ihr gegenüber veränderte. Plötzlich, fiel ihr auf, sprach er kaum mehr mit ihr. Wenn er mit ihr sprach, kritisierte er sie für ihr Aussehen, ihre Kleider und mehr und mehr zog er ihre Ansichten ins Lächerliche.

      Auch berührte er sie kaum mehr – kein Küsschen, keine Umarmung. Darüber war sie allerdings froh, denn sie hatte seit Langem angefangen, sich gegen seine Umarmungen zu wehren. Auf seinem Schoss hatte sie sich seit jeher unwohl gefühlt und sie konnte es nicht ausstehen, wenn er sie auf die Lippen küsste.

      «Was hast du auch? Ich bin doch dein Vater!», sagte er dann verletzt.

      Es tat selbst Lena leid, dass sie ihm auswich. Doch je älter sie wurde, desto heftiger war ihre Ablehnung. Schliesslich begann sie sich für ihr Verhalten zu schämen, empfand es als «nicht normal». So sehr, dass sie ihre innersten Gefühle ihrer Mutter anvertraute.

      Das hätte mit ihrer Entwicklung zur jungen Frau zu tun, meinte sie, und sei durchaus normal.

      Sie hätte es doch schon als kleines Kind nie gemocht, wenn er sie anfasste, erwiderte Lena.

      «Mach’ dir keine Sorgen. Nicht alle Menschen mögen das, das ist nicht so besonders …»

      Das Thema war somit erledigt, zumindest für ihre Mutter. Lena fühlte sich in diesem für sie wichtigen Empfinden von ihr alleine gelassen.

      Umso mehr suchte sie bei ihr die körperliche Nähe.

      Es gab eine Phase, da war sie geradezu süchtig nach der Wärme, die sie bei ihrer Mutter fand. Obwohl sie damals schon siebzehn Jahre alt war, liebte es Lena, zu ihr ins Bett zu schlüpfen, während ihre Mutter in einem ihrer unzähligen Bücher las und ihr Vater bis spät abends an politischen Veranstaltungen unterwegs war. Kurz bevor er nach Hause kam, schickte die Mutter sie jeweils zurück in ihr Zimmer. Doch einmal waren sie beide eingeschlafen und erwachten erst, als er schon im Zimmer stand. Im Halbschlaf sah sie die Silhouette ihres Vaters und wie er gerade hastig die Krawatte unter dem Hemdkragen hervorschlenzte. Vor allem an das zischelnde Geräusch des Krawattenstoffs konnte sie sich erinnern und an den Satz:

      «Was soll denn das? Sie ist doch kein Kind mehr …» Nicht: «Du bist doch kein Kind mehr.» Und Lena wusste seit dieser Nacht: Sie war kein Kind mehr. Nicht mehr das Kind ihres Vaters.

      In der Folge entwickelte sich ihre Liebe für das stille Universum der ungehörten Töne. Sie wusste, dass sich die Forschung mehr und mehr für die «stummen Fische» interessierte, man bereits wusste, dass Fische untereinander kommunizieren und sich in ihrem Gehirn eine Art neuronales Sprachzentrum befindet.

      Ein lautes Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Verwirrt streifte sie den Kopfhörer ab und hörte jetzt das dumpfe Gurgeln eines schweren Motors im Wasser. Was geschah, konnte sie nicht erkennen, das Schilf stand dicht, zudem war es dunkel.

      «Das muss ein Motorboot sein. Es hat sich vermutlich im sandigen Boden festgefahren», dachte sie. Jedenfalls tönte der Motor, als würde das Boot auf wenigen Metern hin- und herfahren. Lena packte ihr Equipment zusammen.

      Das Motorengeräusch wurde ruhiger, dann leuchtete kurz ein Suchscheinwerfer auf. «Das kann eigentlich nur das Schiff meines Vaters sein», überlegte sie sich, und tatsächlich drang wenig später Licht aus der hölzernen Bootshütte, welche auf dem Grundstück ihrer Eltern lag. Dann krachte es, Holz zersplitterte, der Motor wurde abgewürgt. Stille.

      Lena war beunruhigt, was war da geschehen? Mit ihrem Vater konnte das nichts zu tun haben. Der könnte das Boot blindlings unbeschadet in die Hütte fahren. Doch wer sonst könnte es sein? Nicht mal die Mutter liess er ans Steuer seiner geliebten «Aurora». Obwohl sie sich ängstigte, schlich Lena, geschützt vom hohen Schilf, seitlich an die Hütte heran. Sie vernahm das vertraute Quietschen der Ketten, das Boot wurde hochgehievt.

      Ruhe. Später das leise Geräusch von Wasser, das vom Schiff abtropfte. Jetzt das Knarren der Tür, Licht aus – Schritte auf dem Holzsteg. Die Silhouette eines Mannes, Lena glaubte, ihren Vater zu erkennen, verwarf diese Vermutung. Sie verhielt sich ruhig und wartete. Eine, zwei Minuten – reglos. Dann ging sie vorsichtig zur Bootshütte, schob die dürre Holztüre auf.

      Das Schiff hing wie üblich in den Gurten, einen halben Meter über Wasser. Also musste das doch ihr Vater gewesen sein, der soeben über den Steg gegangen war. Niemand sonst hätte in der kurzen Zeit das schwere Boot fachgerecht versorgen können. Doch was hatte er gemacht? Der Bug war eingeschlagen, aus dem grossen Leck tropfte noch das Wasser. Er musste heftig den Steinsockel der Hütte gerammt haben, vermutete sie. War er betrunken? Doch so wirkte er nicht, wie er da über den Steg gegangen war. Das alles passte nicht zusammen, wunderte sich Lena.

      2

      Freitag

      Es würde kein gewöhnlicher Freitag werden. Aline wird zwar wie üblich um neun in der Bibliothek sein, Philip wird wie üblich ein Croissant zu viel bringen, da er wie üblich vergessen wird, dass Doris am Freitag nur nachmittags arbeitet. Auch wird sich kaum etwas Unerwartetes ereignen. Bücher werden geholt, andere zurückgebracht, DVDs ausgeliehen, CDs angehört. Vermutlich wird auch eine Schulklasse auftauchen, um zu erfahren, wie es heute in einer modernen Bibliothek zu- und hergeht. Und bestimmt wird Herr Moos – als Kläusi Moos stadtbekannt – schon beim Eingang warten, um anschliessend in der Zeitungsecke in seiner verwahrlosten Art die anderen Besucherinnen und Besucher zu nerven.

      Ungewöhnlich wird sein, dass sie selber bereits um elf Uhr die Bibliothek verlassen wird, um zu Hause Frau Herrmann zu treffen, die einmal mehr das Catering für den Abend zubereiten wird. Wie Alines Mann Patrick meinte, werden an die achtzig Leute aus Politik-, Finanz und Wirtschaft auftauchen. «Sogar ein halbes Dutzend aus dem Kulturkuchen», fügte er an.

      Noch stand Aline in der modernen Küche in ihrem Haus, braute sich einen Kaffee und freute sich darauf, ihn wie jeden Morgen stehend auf der Veranda zu trinken. Sie liebte die halbe Stunde für sich allein, kurz nach sechs Uhr. Dazu hörte sie die Nachrichten am Radio.

      Erst dann erschien üblicherweise Patrick, der seinerseits die Nachrichten beim Rasieren im Badezimmer bereits gehört hatte. Zu einem gewöhnlichen Tag passte auch der Duft seines Rasierwassers, der Patrick gleichsam voranschwebte und ihn so ankündigte.

      Heute war das anders. Das Aftershave war intensiver und Patrick stand bereits vor halb sieben auf der Veranda. Zudem schwatzte er viel. Insbesondere ärgerte Aline, dass er – rücksichtslos, wie sie fand – das Radio abdrehte und meinte: «Können wir kurz den Abend besprechen? Ich habe heute ein sehr enges Programm. Zudem ist mir ein Malheur passiert.» Den letzten Satz sagte er, als handle es sich um eine Nebensächlichkeit.

      «Was für ein Malheur?», wollte Aline wissen.

      «Mit dem Boot», erklärte er. «Irgendwie war wohl das Gaskabel verklemmt. Jedenfalls, beim Hineinmanövrieren ins Bootshaus ist’s passiert. Ich habe den Bug eingedrückt.»

      «Und was hat das mit dem heutigen Tag zu tun?», fragte Aline nach.

      Er werde das Boot gleich heute Morgen zu Piccinonno in die Werft bringen, da der heute Nacht noch in die Ferien fahre.

      «Und er hat heute Morgen noch schnell Zeit, dein Boot zu reparieren?»

      «Sieht so aus.»

      «Da kann ja der Schaden nicht gross sein. Hast du dich verletzt?» Sie schaute kurz auf die Wunde oberhalb seines linken Auges.

      «Nicht weiter schlimm … das Schilf, ich müsste es längst zurückstutzen.»

      Aline nahm ihre halbvolle Kaffeetasse zur Hand:

      «Kurz nach elf kommt Sabine Herrmann, um den Raum für den Abend vorzubereiten. So weit ist alles organisiert. Ich wäre froh, wenn du vor fünf Uhr hier wärst», sagte Aline und ging zurück in die Küche. Patrick rief ihr hinterher:

      «Könntest du mich in einer Stunde in der Werft abholen?»

      «Unmöglich – frag’ Lena … vielleicht hat sie Zeit.»

      «Warum in aller Welt sollte sie keine Zeit