Название | Schiffbruch |
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Автор произведения | Andres Bruetsch |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783724525196 |
Lena schaute zu, wie Ivan mit der Hand behutsam über den Bootsrumpf strich, als würde er den Bauch eines grossen Fischs streicheln.
«Du bist ein besonderer Mann», sagte Lena.
«Wie meinst du das?»
«Einfach so …»
Er lachte verlegen und klopfte jetzt kräftig auf den Rumpf.
«Voilà – nach den Ferien mache ich mich an die Arbeit.»
«Wohin gehst du eigentlich?», erkundigte sich Lena.
«Sardinien. Wir fahren heute Nacht los und nehmen morgen die erste Fähre.»
Beide verliessen die Halle. Ivan versteckte den Schlüssel an einem geheimen Ort, «den alle kennen, die hier ihr Schiff einlagern», grinste er. Lena wünschte ihm eine gute Reise und machte sich auf den Weg.
Sie ging dem Seeufer entlang und dachte über die vergangene halbe Stunde nach.
Merkwürdig war das alles gewesen, irgendwie surreal, mit den kurzen, zusammenhangslosen Momenten: das aufgebockte Schiff, darunter zwei Männer. Sie auf dem Velo. Die kurze Aufregung ihres Vaters. Dann, als wär’s eine Szene aus einem Buñuel-Film, ihr Papa als älterer Herr im dunklen Anzug, der auf einem klapprigen Damenvelo aus dem öden Werftgelände in eine undefinierte Landschaft radelt. Die fast schwarze Decke über dem halbtoten Schiff.
Die Szenenfolge hatte etwas Beklemmendes, Trübes, und dies, obwohl die Sonne schien, obwohl nichts Aussergewöhnliches passiert war, ausser eben, dass ihr Vater überstürzt sein kaputtes Boot zu Piccinonno in die Werft gebracht hatte. Und dies, weil er auf fragwürdige Weise mit dem Bootshaus kollidiert war.
Was tat er eigentlich vorher – bevor er in die Mauer fuhr? Sie erinnerte sich, wie sie die Motorengeräusche aufgeschreckt hatten – das Hin- und Herrutschen auf dem sandigen Grund. Sicher, auch das musste er gewesen sein. Doch warum tat er das? War er derart betrunken gewesen? Aber warum macht das ein Betrunkener? Und jetzt diese Eile, sofort in die Werft, sofort aus dem Wasser und bitte das Schiff zudecken. Und er, als Regierungsrat, als öffentliche Person, wollte verhindern, dass davon irgendetwas an den Tag kam. Lena schien, dies alles hatte – in seiner Unsinnigkeit – eine denkwürdige Logik.
Sie kam in das leere «Haus am See» zurück und dachte kurz, dass es sie nicht überraschen würde, Ivans Stimme zu hören, wenn sie jetzt dann mit ihrem Hydrofon in die Wasserwelt abtauchte. Ihr schien, er gehörte dorthin in seiner starken und gleichzeitig sensiblen Art – in die Welt der ungehörten Töne. Dort hausten gute Geheimnisse und keine Unwahrheiten.
Sabine Herrmann war bleich und unkonzentriert. Dafür entschuldigte sie sich mehrmals bei Aline. Dennoch müsse sie sich keine Sorgen machen, alles würde wie gewohnt einwandfrei ablaufen. Sie hätte einen Ersatz für Grazia, die noch immer unter Schock stünde. Aline wollte wissen, wer Grazia sei. Das sei die junge Frau, deren Freund gestern Nacht bei einem Unfall auf dem See schwer verletzt wurde. «Wie furchtbar», sagte Aline. Und, dass deshalb Grazia nicht da sei, dafür hätte jedermann Verständnis – insbesondere ihr Mann, der ja selber ein halber Seemann sei.
Sabines Mann Robi stand bereits im Wohnzimmer. Er war wesentlich älter als sie, verwöhnte und unterstützte sie in rührender Art. In seinem früheren Arbeitsleben hatte er unermesslich viel Geld mit zu Parkbänken rezykliertem Plastik verdient.
Sie hätten Geschirr und Gläser wie üblich in der Garage deponiert und würden nun noch den Rest holen, sagte Robi, der mit seiner subalternen Funktion offensichtlich nicht das geringste Problem hatte.
Die Blumen sollten um 16 Uhr geliefert werden, relativ spät, wegen der Hitze, erklärte Sabine. Das Mobiliar sei bereits hier und um 14 Uhr kämen die Helfer, um Tische aufzustellen, die Sonnensegel zu spannen. Kurz gefasst, alles laufe nach Plan. Aline war beruhigt.
Patrick vertraute ihr blind. Er kam nicht wie ein Gastgeber zu seinen Partys, sondern so unbesorgt wie ein Gast.
Kurz nach fünf stand er da und wollte wissen, wo Lena sei. Vermutlich in ihrem Zimmer, oder unterwegs im Garten, sie wisse es nicht, sagte Aline und schob dabei eine schwere Blumenvase etwas aus dem Weg. «Warum fragst du und warum bist du so total verschwitzt?», wollte sie verwundert wissen.
«Frag’ deine grüne Tochter … die weiss, warum.»
Für Aline war dies wieder eine dieser Sticheleien, die sie satthatte.
Mehr wollte sie nicht wissen, viel eher sich jetzt umziehen. Manche Gäste kämen ja nicht selten zu früh, sagte sie und ging.
Es beschäftigte Aline, was Sabine ihr erzählt hatte. Fast noch mehr beschäftigte sie, wie spürbar betroffen Sabine war. Aline war nicht bewusst gewesen, dass sie so eng zu ihren Mitarbeiterinnen stand. Sie war stets davon ausgegangen, dass sie ihre hübschen Serviererinnen mehr oder weniger anonym über eine Agentur buchen würde. So war das anscheinend nicht. Jetzt fiel, wegen dieses tragischen Unglücks, nicht nur diese Grazia aus, Sabine hatte sogar zusätzlich deren Freundin, auch sie wäre für den heutigen Abend als Serviererin vorgesehen gewesen, freigegeben. Ausdrücklich, um ihrer Kollegin in diesem schwierigen Moment beizustehen. Wie feinfühlig.
Ein Mann hätte das kaum getan, sagte sich Aline und entdeckte sich beim unpassenden Gedanken, heute Abend keinen BH anziehen zu wollen. «Kinderei» – sie tat die Idee ab, obwohl sie sie im Innersten als kleine Provokation witzig fand. Während sie ihre Haare bürstete, Lippenstift auftrug, ihre Nägel kontrollierte, beschäftigten sie Gedanken an Patrick, der ihr zurzeit eigenartig fremd vorkam. Zudem, hätte er sich als Vorgesetzter ähnliche Gedanken gemacht wie Sabine und sich derart gesorgt um eine Mitarbeiterin? Liess er solche Gefühle überhaupt zu? Noch zu?
Sie erinnerte sich – es lag zehn Jahre zurück – an die Szene auf der Insel Giglio, als Patrick spontan den letzten Platz auf der Fähre einem Ehepaar mit einem alten Hund abtrat. Das arme Tier litt unter einer Nierenkolik und musste notfallmässig nach Porto Santo Stefano zum «Veterinario». Dass Patrick somit seinen wichtigen Termin verpassen würde, weswegen sie die Rückreise zwei Tage vorgezogen hatten, war ihm jetzt, in Anbetracht des leidenden Hundes, unwichtig. Sie fand das seinerzeit berührend und war im Stillen stolz auf ihn. Würde er das heute noch tun?
Sein Leben als Anwalt und Politiker hatte ihn verändert. Er schien ihr oft kühl, nicht bösartig, doch in vieler Hinsicht unsensibel.
Hatte sich Ernst auch so verändert, oder hatte er sich bewahrt, was sie an Patrick vermisste? Jedenfalls, Ernst war heute Abend, an der Wahlfeier seines besten Freundes, nicht dabei. Wohl, weil ihm solche Anlässe nicht passten.
Aline hörte die Stimme von Sabine, die ersten Gäste standen bereits vor dem Haus.
Der Unfall in der Schwanenbucht war das grosse Thema beim Lokalsender «a.m./p.m.». Patrick hatte sich nur flüchtig informiert, auch in den Zeitungen nichts wirklich nachgelesen. Er wusste ja, was geschehen war.
Patrick ärgerte, wie sein Körper reagierte. Immer dann, wenn ihn etwas emotional umtrieb, innerlich aufwühlte, meldete sich sein Nacken: Er wurde heiss. Selbst jetzt, nachdem er kalt geduscht hatte. Es war eine innere Hitze, die sich hinten am Hals anstaute. Das war sehr unangenehm und hatte zur Folge, dass er optisch vieles wie durch einen Nebel wahrnahm. Sogar akustisch erschien ihm alles in der Distanz, verfilzt irgendwie, was insbesondere an einer Feier, wie der seiner Wiederwahl, störend war. Er fühlte sich abwesend, obwohl sich vieles, fast alles sogar, um ihn drehte. Man begrüsste ihn, gratulierte ihm: «Na Patrick, nochmals gut gegangen … Gratulation! Hatte keinen Moment daran gezweifelt …» usw.
Er war an diesem Abend auch nicht imstande, ein sinnvolles Gespräch zu führen, stolperte vielmehr von einem Gast zum andern, versuchte, ein paar passende Worte anzubringen und war schon bei der nächsten Runde, die sich um eines der Stehtischchen scharte. Vorwiegend