Название | Schiffbruch |
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Автор произведения | Andres Bruetsch |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783724525196 |
Für viele Jahre war Lena sein Stolz, seine Freude gewesen. Er hatte ihr die ersten Buchstaben beigebracht, hatte sie schwimmen gelehrt, später Wasserskifahren, ging mit ihr in den Nationalpark. Die Beziehung von Lena zu ihm war vertrauter, als die zwischen Lena und ihr. Bis vor ungefähr fünf Jahren, ja, so lange musste es her sein, da änderte alles.
Sie hörte Patrick, wie er im Büro neben dem Eingang herummachte, wohl nach etwas suchte. Er suchte immer etwas, erschien es Aline.
Die fast leere Kaffeetasse stand jetzt neben der elektrischen Zahnbürste im Badezimmer im ersten Stock. Wie jeden Tag trug Aline erst etwas Tagescreme auf, dann Mascara, Lippenstift. Sie bürstete ihre langen Haare, die an den Schläfen grau wurden. Dabei dachte sie: «Frauen um die fünfzig sind geschieden, haben kurze Haare und gehen ans Locarno Film Festival.» Sie war seit sechsundzwanzig Jahren nicht geschieden, hatte lange Haare, ging gerne ins Kino, aber kaum je ans Locarno Film Festival.
Lena hatte annähernd schwarze Haare, dachte Aline, nicht wie sie, auch nicht wie Patrick. Nun, er war mittlerweile kahl. Mit Bart wäre er ein Hipster, dachte sie mit einem Lächeln. Sie schaute sich genauer im Spiegel an.
«Ich habe ein ernstes Gesicht», sagte sie sich.
Tatsächlich waren es nicht Lachfalten, die ihr schönes Gesicht mit feinen Linien zeichneten, mit jedem Monat etwas präziser.
Aline zog sich den sommerlichen Hänger über, den sie sich im letzten Frühjahr in Aigues Mortes gekauft hatte.
Patrick trat ins Schlafzimmer, suchte sein Handy und verlegte dabei den Bootsschlüssel.
«Wolltest du nicht zur Werft?»
«Doch, wieso?»
«Weil du soeben den Schlüssel verlegt hast …»
Er habe Lena eine SMS geschrieben, dass sie ihn abhole. «Ich hoffe, die schläft nicht wieder bis elf Uhr …»
Lena hatte vor knapp zwei Monaten beim zweiten Anlauf – was Patrick beschämend fand – die Matura geschafft. Sie freute sich jetzt auf ihr Biologie-Studium.
«Lass sie doch – bald fängt für sie ein anderes Leben an», wandte Aline ein.
«Wird auch Zeit … mit zweiundzwanzig Jahren.»
«Was spielen zwei Jahre für eine Rolle im Leben …»
«Zwei Sekunden können entscheidend sein … Ich werde kurz vor fünf hier sein.» Patrick war weg. Manchmal fragte sich Aline, wie viel von diesem Patrick, in den sie sich vor vielen Jahren verliebt hatte, noch in ihm war. Sicher, sein Äusseres war komplett anders. Die langen Haare waren ebenso verschwunden wie die seinerzeit bewusst mehr als lockere Kleidung. Wäre auch peinlich, wenn er noch so daherkäme.
Wenn er – was fast nie vorkam – auf der Veranda im alten Rattan-Sessel sass und für wenige Minuten nachdenklich auf den See schaute, kam er ihr heute noch geradezu verletzlich vor. So hatte sie ihn kennengelernt. Doch jetzt, sobald er merkte, dass man ihn beobachtete, war dieser Mensch weg. Vielmehr, er wurde innert einer Sekunde zu dem, was er im Verlauf der Jahre aus sich gemacht hatte: Anwalt, Politiker, eloquent, effizient, erfolgreich. Ein Mann, der Probleme erkennt und sie verschwinden lässt. So radikal, wie er seine eigene Verletzlichkeit, seine Sensibilität hatte verschwinden lassen. Aline vermied gedanklich den Begriff «Achtsamkeit» – obwohl er im Zusammenhang mit dem, was sie an Patrick vermisste, gepasst hätte. Sie mochte Begriffe nicht, die für eine Zeit Mode und überall, selbst in der Werbung, zu lesen und zu hören waren – wie Nachhaltigkeit, oder eben Achtsamkeit.
Der See war spiegelglatt an diesem Sommermorgen. Weit weg dümpelten zwei Fischerboote. Patrick liess die havarierte «Aurora» zu Wasser und fuhr rückwärts aus dem Bootshaus. Es war nur noch wenig Benzin im Tank und um das Boot noch etwas hecklastiger zu machen, stellte er sich weit hinten ins Schiff. Auf diese Art bliebe das Leck während der kurzen Fahrt zur Werft über der Wasserlinie, dachte er. Zum Glück war ja nichts wirklich passiert, vor ein paar Stunden, kurz vor Mitternacht. Sachschaden. Zudem, was macht so ein Trottel ohne Licht nachts auf einem Ruderboot, oder was immer es war. Er war – das musste er zugeben – unvorsichtig gefahren und hatte das verdammte Pech, in der dunklen Bucht in das einzige Boot zu krachen, welches ausser ihm noch unterwegs war. Zudem war er leicht beschwipst, wie auch Ernst, den er kurz vorher beim Steg aussteigen liess.
Normalerweise wäre er an dieser Stelle im Schritttempo gefahren, also nach Vorschrift, schon wegen dem Strandbad gleich nebenan. Aber nachts um halb zwölf! Er hatte Licht, bei ihm war alles in Ordnung.
Die «Aurora» pflügte sich mit geringer Geschwindigkeit durch das ruhige Wasser.
Es waren an die zwanzig Holzschiffe gewesen, alle mindestens fünfzig Jahre alt, die sich gestern zum traditionellen Stelldichein «Barrique» beim alten Hafen versammelt hatten. Wie jedes Jahr trafen sich die selbsternannten Seebären mit ihren «Oldtimern» anschliessend zum Nachtessen im «La Veduta», und wie jedes Jahr begleitete ihn dabei sein alter Freund Ernst. Und, ebenfalls wie jedes Jahr fuhr Patrick ihn kurz vor Mitternacht zurück zum Steg, wo Ernst jeweils seinen Roller parkte. Alles gut, alles friedlich, die Temperatur hochsommerlich mild. Dann, er war eben erst vom Steg weggefahren, aus dem Nichts der Dunkelheit der Aufprall, ein dumpfer, hohler Schlag. Wasser schlug ihm ins Gesicht, das schwere Boot stieg wie ein wildgewordenes Pferd unkontrolliert in die Höhe, um nach wenigen Sekunden schräg und mit durchdrehendem Motor auf das Wasser zu klatschen. Ihn selber schleuderte es beinahe aus dem Boot, wobei er heftig mit der Stirne auf der Windschutzscheibe aufschlug. Letztlich warf es ihn rücklings auf den Hintersitz. Den Schmerz spürte er noch immer. Der alte V8-Motor blockierte und starb ab. Einige Momente der Ruhe, Wassergeräusche, dann eine stöhnende Männerstimme, lauter werdend, hilferufend. Wenige Sekunden später die Stimme einer Frau, von weiter weg: «Marius?» – erst besorgt, dann laut. Schrie sie? Ja – letztlich war es ein Schreien. In heilloser Panik, versuchte Patrick drei-, viermal das dümpelnde Schiff zu starten, fluchte. Da, endlich brüllte der Motor auf und das Boot brauste mit ihm am Steuer in einer wilden Kurve davon.
Von dieser Sekunde an gab es für ihn nur noch einen Gedanken: Es ist nichts passiert. Nein – es ist nichts passiert.
Jetzt, an diesem Sommermorgen, sah er sich allein auf dem weiten See. Ihm war recht, dass er niemandem auffiel mit dem kaputten Bug. Vor allem ein Polizeiboot hätte gerade noch gefehlt. Am linken Arm hatte er sich verletzt. Ein langer, geschwungener Schnitt war’s, der liess sich durch das Hemd verdecken. Aline hasste Kurzarmhemden … Und die Verletzung an der Stirn, die gestern unangenehm stark geblutet hatte, die, würde er behaupten, habe er sich in der Dunkelheit zwischen Bootshaus und Steg eingefangen. Ja, genau so legte er sich das alles zurecht.
Und ab jetzt: «Weiterdenken», sagte sich Patrick, «weiterdenken».
Heute war sein Abend. Seine Wiederwahl in den Regierungsrat würde gefeiert werden. Sie war letztlich knapp ausgefallen. Die Kandidatin der Öko-Partei – zugegeben eine sympathische Frau – war ihm bedrohlich nahegekommen. Doch er gewann mit einem kleinen Vorsprung und so blieb die bürgerliche Mehrheit im Rat gesichert. Ernst hatte ihm gestern anvertraut, dass er für die Grüne gestimmt habe … so wie er, Patrick, das früher auch gemacht hätte.
Tatsächlich waren sich Ernst und Patrick an einer AKW-Protestaktion erstmals begegnet – vor mehr als dreissig Jahren.
Der umstrittene geplante Autobahnzubringer, fand Ernst, müsste ja vor allem ihm ein Dorn im Auge sein. Mit diesem Stelzenbau würde das Seeufer über mehr als zwei Kilometer für Generationen verunstaltet. Auch in dem Punkt hatte Ernst recht.
Piccinonno stand am Steg, als Patrick in die Bucht einbog.
«Hoppla … hast du einen deiner Barrique-Kollegen gerammt …», rief Piccinonno ihm zu.
«Zum Glück nicht, dafür die eigene Bootshütte …», antwortete Patrick schalkhaft.
Ivan Piccinonno war