Der Tod - live!. Philipp Propst

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Название Der Tod - live!
Автор произведения Philipp Propst
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858827401



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Und noch einen. Pyros wurden gezündet. Sekunden später gab es ein riesiges Durcheinander. Fasnächtler und Zuschauer rannten in Panik davon. Einige fielen zu Boden. Kinder schrien. Eltern schrien.

      Sandra verlor in diesem Tohuwabohu den Kontakt zu Alex. Sie wurde von hinten angerempelt von einem schwarzgekleideten Kerl mit einem schwarz-weissen Totenkopfhalstuch vor dem Gesicht. Sie versuchte, den Mann zu fotografieren, drückte auf den Auslöser, doch sie stürzte. Als sie sich aufrappeln wollte, sah sie einen Waggis, eine klassische Fasnachtsfigur mit gelber Mähne und einer grossen, roten Nase im Gesicht, mit seinen schweren Holzzoggeli auf sich zu rennen. Sie spürte einen dumpfen Schlag im Gesicht. Alles wurde schwarz. Und dann war es ganz ruhig.

      STEINENVORSTADT, BASEL

      Kommissär Olivier Kaltbrunner rannte von seinem Büro bei der Heuwaage Richtung Barfüsserplatz und verfluchte sich, dass er nicht in besserer körperlicher Verfassung war. Sein Mitarbeiter Giorgio Tamine war fünf Meter vor ihm und versuchte, in der Steinenvorstadt seinem Chef einen Weg durch die Menschen zu bahnen. Da durch die Basler «Kinostrasse» Hunderte, wenn nicht Tausende von Leuten Richtung Heuwaage rannten, um sich in Sicherheit zu bringen, war fast kein Durchkommen mehr. Olivier Kaltbrunner keuchte und war nicht unglücklich darüber, dass es nur langsam vorwärts ging. So kam er wenigstens wieder zu Atem. Als er sich einigermassen fit genug fühlte, sagte er zu sich: «Ich muss weniger fressen, weniger Bier saufen und mehr trainieren, Goppeloni.» Dann schrie er: «Polizei! Aus dem Weg! Polizei!»

      Ohne grossen Erfolg. Als er mit Tamine den Barfüsserplatz erreichte, hatten die Polizeigrenadiere den gesamten Platz bereits mit Gitterfahrzeugen abgesperrt. In der Luft hing Tränengas. Als er und Tamine an drei Polizeigrenadieren in Vollmontur mit Helm und Schutzmaske vorbei wollten, wurde ihnen mit Schlagstöcken und Schutzschildern der Weg versperrt.

      «Ich bin der Kommissär, verdammte Scheisse, was seid ihr für elende Flachzangen?» Er zückte den Ausweis.

      Einer der Polizeigrenadiere entschuldigte sich auf Berndeutsch: «Sorry, wir sind nicht von der Basler Polizei, sondern vom Nordwestschweizer Polizeikonkordat.»

      «Schon gut», antwortete Olivier Kaltbrunner ruhig. «Dürfen wir jetzt durch?»

      «Ich muss erst meinen Gruppenführer frag…»

      «Jetzt reicht es aber endgültig!», schrie Kaltbrunner aus Leibeskräften. «Geh zurück nach Bern! Wir sind hier in Basel, und ich bin Goppeloni der Chef hier!»

      REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN

      Es gab selten eine Situation, in der Peter Renner nervös wurde. Jetzt aber war er es. Er versuchte seit gut einer Stunde, irgendeinen seiner Reporter in Basel zu erreichen. Doch keiner nahm seine Anrufe entgegen. Auch die Webcam, die auf den Barfüsserplatz gerichtet war, war ausgefallen. Renner wusste lediglich, dass irgendetwas passiert sein musste, aber nicht was. Und das machte ihn nervös.

      Auch seine Anrufe bei der Basler Polizei und bei der Staatsanwaltschaft hatten nichts gebracht. Ja, es sei ein polizeilicher Einsatz im Gange, aber man könne keine Auskunft darüber geben. Selbst auf den Onlineportalen der Konkurrenz gab es keine Informationen. Und die ansonsten lebhaften News-Schleudern Fa- cebook und Twitter blieben ebenfalls verdächtig ruhig.

      Chefredaktor Jonas Haberer drängte darauf, die morgige Printausgabe von «Aktuell» zu gestalten. Er wolle mit der Opfer-Story von Sandra Bosone, an der er grossen Gefallen fand, die Schlagzeile auf Seite 1 kreieren. Doch Renner vertröstete ihn, es sei wohl noch etwas Grösseres im Gange in Basel. Vermutlich müsse die Redaktion eine Nachtschicht einlegen. Jonas Haberer murrte.

      BARFÜSSERPLATZ, BASEL

      Alex Gaster hatte sich unter der Bühne der Guggenmusiken versteckt und das Geschehen fotografiert und gefilmt. Er war zufrieden. Seine Aufnahmen zeigten, wie die schwarzgekleideten Typen nach dem Abfeuern von Knall- und Rauchpetarden und dem Abbrennen von Pyrofackeln gezielt Leute attackierten, die fotografierten. Sie rissen ihnen die Handys und Kameras aus den Händen und schleuderten sie auf den Boden. Danach flüchteten sie in die Seitengassen. Zwei Männer waren nahe an Alex vorbeigerannt, hatten kurz angehalten, sich die schwarzen Kleider vom Leib gerissen und waren als gewöhnliche Zuschauer weitergerannt. Auch den Aufmarsch der Polizei hatte Alex fotografiert. Allerdings waren diese Bilder weit weniger dramatisch, denn der Tränengaseinsatz hatte auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes stattgefunden.

      Jetzt kramte Alex sein Handy hervor, um seinen Chef anzurufen. Nach etlichen Versuchen musste er feststellen, dass er keinen Empfang hatte. Das irritierte ihn. Warum gab es am zentralsten Platz in Basel keinen Handyempfang?

      FALKNERSTRASSE, BASEL

      Zur gleichen ZeitversuchteJoëlThommen, von der Falknerstrasse her wieder auf den Barfüsserplatz zu gelangen. Er hatte einige Mitglieder dieser schwarzen Clique verfolgt, musste dann aber aufgeben, weil die Leute in der Masse der Flüchtenden untergetaucht waren. Auch hatte er etwas Tränengas abbekommen, was ihn einige Minuten ausser Gefecht setzte. Auch er hatte festgestellt, dass sein Handy tot war.

      Der Weg zum Barfüsserplatz war durch Polizeigrenadiere und Gitterfahrzeuge versperrt. Die Polizisten standen breitbeinig da. Einige hielten Gummischrotgewehre und Tränengaskanonen in den Händen. Joël zückte seinen Presseausweis und zeigte ihn den Beamten. Sie wiesen ihn jedoch strikte ab, und befahlen ihm zu verschwinden. Joël versuchte zu diskutieren, keiner der martialisch aussehenden Polizisten ging darauf ein.

      Joël beschloss, sich einen anderen Weg zu suchen und ging ein Stück zurück. Plötzlich explodierte etwa zwanzig Meter vor ihm eine Rauchpetarde. Er fotografierte. Dann allerdings geriet er in Panik und rannte zurück, wieder auf die Polizisten zu. Dort bin ich sicherer, dachte er.

      «Zurückbleiben! Zurückbleiben!», hörte Joël. Er riss den Presseausweis in die Höhe und schrie: «Ich bin Fotograf, lasst mich durch!» Dann hörte er einen Knall und kurz darauf das Niederprasseln von Gummischrot auf den Asphalt.

      «Ich bin Fotograf!» Joël rannte. Dann ein weiterer Knall und ein brutaler Schlag ins Gesicht, den Joël schier umhaute. «Scheisse, Scheisse, Scheisse», haspelte Joël. «Ich bin getroffen.»

      Weitere Schüsse. Joël warf sich auf den Boden und schützte seinen Kopf mit den Armen.

      BARFÜSSERPLATZ, BASEL

      «Lass gut sein», sagte Flo Arber zu Fotograf Henry Tussot, der nach der Knallerei in der Falknerstrasse wegrennen wollte. Die beiden waren vor etlichen Minuten zur Tramhaltestelle geflüchtet, zusammen mit vielen anderen Menschen. «Keine Ahnung, was da abgeht», ergänzte Flo. «Aber das ist kein normaler DemoEinsatz mehr. Möglicherweise ist das hier alles ernst, also ein wirklicher Terrorakt.»

      «Merde!», kommentierte Henry. «Dann ist das ja etwas wie Krieg. Auf in den Kampf!» Er packte seine Kamera, hielt sie wie ein Sturmgewehr vor sich und rannte in geduckter Haltung mitten auf den Platz. «Du spinnst doch», rief Flo ihm nach und schaute zu den anderen Menschen im Tramhäuschen. Erst jetzt bemerkte er, dass sich diese umarmten, an den Händen hielten, weinten oder mit offenen Augen ins Leere starrten. Erst jetzt hörte er, dass irgendjemand das Vater unser betete.

      FÄRBERSTRASSE, SEEFELD, ZÜRICH

      «Gute Show, was?», tippte Kilian Derungs in seinen PC. «Wir haben dafür gesorgt, dass ihr alles exklusiv habt. Aber eben, das war erst der Anfang.» Er schickte das Mail durch die undurchsichtigen Kanäle und Wellen des Deep Webs an Kirsten Warren.

      BARFÜSSERPLATZ, BASEL

      Weit musste Henry Tussot nicht rennen, bis er die ersten Objekte für seine Kriegsreportage vor die Linse bekam. Er war zwar noch nie in einem Krieg gewesen, doch er wäre gerne Kriegsreporter geworden. Dafür war er allerdings zu spät auf die Welt gekommen: In Zeiten der Digitalfotografie, des Videobooms und des Internets war die Zeit professioneller Kriegsfotografen abgelaufen. Die brutalsten und mörderischsten Bilder wurden heute mit Handykameras aufgenommen und innert Sekunden weltweit verbreitet.

      Trotzdem: Dieser Platz war nun sein Schlachtfeld. Da lag ein Fasnächtler mit einer klaffenden Wunde am Kopf am Boden, dort ein Kind, das schrie, daneben eines, das nicht schrie, auch nicht jammerte, aber immerhin atmete.