Название | Der Tod - live! |
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Автор произведения | Philipp Propst |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783858827401 |
CLARAPLATZ, BASEL
«So, so», murmelte Olivier Kaltbrunner immer wieder. Manchmal machte er auch nur «Hmm, Hmm.» Der Kommissär hörte der Schilderung des Buschauffeurs Thomas Neuenschwander aufmerksam zu. Manchmal nahm er die Brille von der Nase, setzte sie aber nach wenigen Sekunden wieder auf. Sein Kollege Giorgio Tamine machte Notizen.
Neuenschwander erzählte, dass er die geisteskranke Frau schon mehrfach im Bus gehabt habe. Sie sei immer friedlich gewesen, auch wenn sie manchmal leise geflucht habe. Er konnte auch eine ziemlich gute Personenbeschreibung abgeben: kleine, rund fünfundfünfzigjährige Frau, kurze, graumelierte Haare.
«So, so», machte Kaltbrunner. Das, was von der Leiche übriggeblieben war, passte auf die Frau, von der Buschauffeur Neuenschwander erzählte. «Geht es noch?», fragte Kaltbrunner plötzlich. «Oder brauchen Sie eine Pause?»
Der Buschauffeur schaute etwas verdutzt, sagte dann aber: «Nein, alles klar. Was wollen Sie noch wissen?»
«Erzählen Sie mir von den Stofftieren, die die Frau immer dabei hatte.» Neuenschwander schilderte so genau wie möglich, dass die Frau normalerweise immer einen Bären und einen Elefanten mit sich trug und sich mit den beiden unterhielt. Gestern sei aber ein weisser Hase mit lustigen Lampiohren in ihrem Rucksack gewesen.
«So, so», machte Kaltbrunner.
«Meinen Sie, die Frau hat sich wirklich selbst in die Luft …»
«So, so», murmelte Kaltbrunner. «Hmm, hmm.»
STOCKERENWEG, BERN
Um 10.33 Uhr fuhr Kirsten Warren ihren Computer hoch. Die alleinerziehende Mutter eines zwölf Jahre alten Jungen konnte ihre Arbeitszeiten selbst einteilen, da sie als freischaffende Internetspezialistin praktisch sämtliche Aufträge in ihrem Homeoffice erledigen konnte. Nebst der Entwicklung von Internet- und Intranet-Lösungen für diverse Firmen, schrieb die Amerikanerin für die Gratiszeitung «Aktuell» regelmässig Artikel für die Computer-Spezialseiten. Sie testete auch die neusten Spiele, die auf den Markt kamen. Allerdings war sie keine begeisterte Gamerin. Mittlerweile konnte sie ihren Sohn Christopher für diese «Arbeit» einspannen. Er konnte besser beurteilen, ob ein neues Spiel bei den Jungen ankam oder nicht. Der einzige Nachteil dieser Mutter-Sohn-Zusammenarbeit war, dass sie ihn kaum mehr von seinem PC wegbrachte.
Christophers Vater war der Grund gewesen, warum sie überhaupt in die Schweiz gekommen war. Er war Diplomat und arbeitete bei der US-Botschaft in Bern. Nach ihrer Trennung und einer beruflich unrühmlichen Geschichte wurde er versetzt. Kirsten hatte nie genau erfahren, worum es in dieser Affäre gegangen war. Sie wusste nur, dass ihr Mann, Jeff Warren, im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen Schweizer Banken auf einer ominösen schwarzen Liste der New Yorker Staatsanwaltschaft aufgetaucht war. Und plötzlich war er weg. Kirsten wusste nicht, ob er zurück in die USA oder in eine andere Botschaft versetzt worden war. Doch die Alimente flossen. Direkt von den US-Behörden.
Sie hatte sich als Webspezialistin schon vor ihrer Heirat einen Namen gemacht und ein eigenes Geschäft aufgebaut. Die US-Botschaft gehörte seit der Sache mit ihrem Mann zu ihren wichtigsten Kunden. Das wunderte sie zwar. Doch sie war auch dankbar, damit halbwegs wieder auf eigenen Beinen stehen zu können. Erst später kamen «Aktuell» und hin und wieder andere Verlage dazu.
Sie vermisste ihre Heimat Texas. Ihre Familie. Und ihre Freunde. Aber ihr Sohn wollte in Bern bleiben. Und irgendwie wusste sie auch nicht, ob sie weg gekonnt hätte, wenn sie weg gewollt hätte. Botschaftsvertreter hatten ihr mehrmals angetönt, dass sie die Alimente und die Aufträge nur auf sicher habe, solange sie in der Schweiz wohne. Zudem gab es noch «the others», wie Kirsten sie nannte.
Schweizer Freunde hatte sie wenige. Es waren im besten Fall Bekannte. Aber vielleicht würde sich das irgendwann ändern. Allerdings tat sie nicht viel dafür. Sie ging kaum aus, engagierte sich auch in keinem Verein oder Club. Nur Golf spielte sie regelmässig. Meistens allerdings mit Amerikanerinnen, deren Ehemänner wochenlang auf Geschäftsreisen waren. Und auch mit diesen Frauen pflegte Kirsten eine distanzierte Beziehung, lehnte die meisten ihrer Einladungen ab oder ging einfach nicht hin. Es war ihr lästig, dass alle sie mit irgendwelchen Männern verkuppeln wollten. Ein so attraktives und nettes Girl könne doch nicht alleine leben, meinten die Damen.
Sie war hübsch. Lange, blonde Haare, lange Beine, schlank und mit tollem Busen und wohlgeformtem Po. Wenn sie Jeans, Boots, eine kurze Lederjacke und einen Hut trug, verkörperte sie das perfekte Cowgirl. Boots und Jeans hatte sie oft an, die restlichen Cowgirl-Accessoires nur zweimal im Jahr. Wenn sie mit ihrem Sohn ans Country- und Truckfestival nach Interlaken fuhr. Und an die Countrynight in Gstaad. Dann genoss sie es, mit ihrem Sohn als Dreamgirl aufzutreten. Christopher war das mittlerweile allerdings peinlich.
Sie holte einen wässrigen Filterkaffee aus der Kanne – mit Kapselkaffee konnte sie nichts anfangen – und loggte sich im Internet ein. Ihre Mailbox zeigte zweiundvierzig neue Mitteilungen an. Eine davon war ein Hinweis, dass sie ins Newnetnet reinschauen solle. Newnetnet war ein geschlossenes Netz, ein sogenanntes Darknet im Deep Web, ausserhalb des bekannten World Wide Web, das nur mit spezieller Software zu erreichen war. Wie andere solche Netze war Newnetnet nur mit Username und mehreren Passwörtern zugänglich. Wer sich anmelden wollte, musste einen Bekannten haben, der bereits im Newnetnet Mitglied war und für das Neumitglied bürgte. Selbst professionelle Hacker konnten sich nicht in diesen geheimen Zirkel einschleichen. Kirsten selbst war aus Recherchezwecken – sie musste vor einem halben Jahr für die US-Botschaft in Bern einen Bericht über das Deep Web und seine Auswirkungen auf die Schweiz verfassen – darauf gestossen und war schliesslich zu Newnetnet eingeladen worden. Von wem und warum wusste sie bis heute nicht. Da ihre Aufnahme im Gegensatz zu vielen anderen Usern völlig reibungslos und schnell vonstattenging, war Kirsten überzeugt, dass die Leute, die sie eingeladen hatten, irgendwie mit den US-Behörden verbandelt waren. Sie hatte keine Angst vor diesen Leuten, aber ein ungutes Gefühl. Deshalb nannte sie sie einfach nur «the others».
Ob sich in diesem Newnetnet auch so viele Spinner, Spione, Drogendealer, Waffenschieber und Pädophile tummelten wie in anderen Schattennetzen des Deep Webs, wusste sie ebenfalls nicht. Aber spannend war es auf alle Fälle. Sie loggte sich also ein und erhielt sofort eine Mitteilung von einem User namens John Fox. Der Mann schrieb: «Möchtest du eine Story?»
«Yes», gab Kirsten ein. Sie trank ihren Kaffee und hoffte, der Kerl, der sich «John Fox» nannte, wäre online.
«Melde meinem alten Freund Haberer, dass Basel nur der Anfang war …»
«Soll das ein Joke sein? Wer bist du?»
«Kein Joke. Ich bin John Fox.»
«Sehr witzig.»
«Haberer steht sicher auf dich, Cowgirl …»
UNIVERSITÄTSSPITAL, BASEL
Irgendwie hatte sie Freude an ihrem Job als Boulevard-Ratte entwickelt. Sandra Bosone stand mitten in der Intensivstation des Universitätsspitals und hatte in ihrem Ärztinnen-Outfit Zugang zu sämtlichen Patienten. Sie klapperte alle Zimmer ab, immer auf der Suche nach den am schwersten verletzten Opfern des Bombenanschlags. Die, die sprechen konnten, erzählten ihr sämtliche Details ihrer Odyssee. Jene, die dazu nicht in der Lage waren, hatten meist Angehörige, die weinten und ihr vertrauensvoll das ganze Elend schilderten. Für Sandra war es ein «Yeah-yeah- yeah»-Effekt, so viele Schicksale auf engstem Raum zu treffen, war für eine Reporterin aussergewöhnlich. Jedes davon eine eigene Geschichte wert. Doch in der Masse gingen die meisten unter, denn unter diesen Umständen war nur noch das grösste Elend interessant. Eine schwerverletzte Mutter, der beide Beine amputiert werden mussten, und deren zwei Kinder, ebenfalls durch Splitter der Bombe verletzt, gab von der journalistischen Relevanz aus gesehen die beste Story. Peter Renner, die Zecke, würde sie lieben für diese Story. Selbstverständlich mit Bild und Video, denn Sandra hatte nicht gezögert, ihre Kamera beim Interview auszupacken und die Szenerie aufzunehmen. Ob die arme Frau je in «Aktuell» erscheinen würde, darauf hatte sie keinen Einfluss. Das würden Peter Renner, Jonas Haberer oder die Anwälte