Название | Der Tod - live! |
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Автор произведения | Philipp Propst |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783858827401 |
Jetzt, kurz nach acht Uhr, fuhren fast menschenleere Trams und fast menschenleere Busse durch fast menschenleere Strassen. Überall standen Armeeangehörige und Polizisten. Durch die Seitenstrassen und Quartiere fuhren Polizeiwagen mit Megafonen auf dem Dach und forderten die Bevölkerung auf, zu Hause zu bleiben. Die Fasnacht sei abgesagt und sämtliche Läden in der Innerstadt blieben geschlossen. Dies sei eine polizeiliche Anordnung.
Viele Kneipen hatten bereits seit Dienstagabend geschlossen und die Fasnächtler nach Hause geschickt. In jenen Beizen, die noch offen waren, herrschte eine gedrückte Stimmung. Nur einige Betrunkene wollten noch feiern. Doch sie wurden weggeschickt oder der Polizei übergeben.
KRIMINALKOMMISSARIAT, WAAGHOF, BASEL
«Wir haben noch einen Toten mehr», meldete Giorgio Tamine, als Olivier Kaltbrunner das Büro betrat.
«Wer ist es?»
«Ein Mann, 63. Brauchst du den Namen?»
«Nein, lass.» Kaltbrunner setzte sich auf seinen Stuhl, nahm die Brille von der Nase und legte sie auf seinen Schreibtisch. «Zum Glück kein Kind. Eines reicht.» Die beiden schwiegen.
«Kaffee?», fragte Tamine nach einer Weile. «Gerne», antwortete Kaltbrunner und beobachtete, wie sein Kollege die Kapsel in die Maschine schob, den Knopf drückte und die Maschine anstarrte. Alles war eigentlich ganz normal. «In einer halben Stunde geht es los», rapportierte Tamine und stellte Kaltbrunners «Chef»-Tasse – ein Geschenk Tamines, das Olivier Kaltbrunner schon immer blöd gefunden hatte – auf den Tisch. «Was geht los?», fragte Olivier Kaltbrunner.
«Die ganze Scheisse. Rapport an Rapport. Alle erwarten, dass wir die Mitglieder dieser sogenannten Schwarzen Clique bereits gefasst, verurteilt und gehängt haben.»
«Hey, hey», mahnte Kaltbrunner. «Das erwartet doch niemand. Was machen die Medien? Wurden wir schon für schuldig erklärt?»
«Nein. Die berichten alle relativ vernünftig, geschockt et cetera. Ausser ‹Aktuell›.»
«Oha!» Tamine brachte seinem Vorgesetzten die Mittwochausgabe. Auf der Frontseite war das Bild einer Mutter im Clownkostüm, die ihr Kind versteckte. Beide hatten weitaufgerissene Augen. Ihre Blicke waren verstört, angstvoll, verzweifelt. Die Schlagzeile lautete: Terror! Kaltbrunner blätterte die Zeitung durch. Das ganze Blatt, 44 Seiten, war ausschliesslich mit Berichten und riesigen Bildern über die Basler Ereignisse gefüllt. Selbst der Sport, das Fernsehprogramm, Sudoku und Comics, ja sogar der Wetterbericht, waren für einmal aus dem Blatt geworfen worden, um mehr Platz für die Reportagen zu erhalten.
Die Bilder zeigten die «Schwarze Clique» beim Einmarsch auf den Barfüsserplatz, das Abbrennen der Pyros, beim Abfeuern der Knallpetarden. Dann viele Fotos, wie die Angehörigen der «Schwarzen Clique» flohen. Auf grossen und langen Bildstrecken waren viele dramatische Bilder der Massenpanik zu sehen. Dann wurde der Auftritt der Polizei dargestellt: Tränengas, Gummischrot. Und das Erscheinen der Sanität. Verletzte, Tote. In Grossaufnahme. Der Kommissär schlug die Zeitung zu. «Sag mal, Giorgio», sagte Kaltbrunner. «Was haben die anderen Medien?»
«Willst du alles sehen?»
«Nein. Und das Fernsehen? Die Online-Medien?»
«Alle haben in etwa das Gleiche. Rauch und flüchtende Menschen. Aber die ‹Schwarze Clique›, die Pyros, die Verletzten, die Toten – das alles hat nur ‹Aktuell›. Die sind einfach überall.»
«So, so», machte Kaltbrunner. «Hmm, hmm.»
«Was meinst du damit?»
«Weiss man jetzt, warum das gesamte Kommunikationsnetz in Basel gestern zusammengebrochen ist?»
«Die Kommunikation war ja nicht in ganz Basel gestört, nur im Bereich Innerstadt, und dort gezielt am Barfüsserplatz in einem Radius von etwa einem Kilometer. Die Techniker sind daran, mehr herauszufinden. Sicher ist nur, dass die Handynetze von aussen gestört wurden. Mit einem oder mehreren Störsendern. Oder so etwas Ähnlichem. Ich müsste René fragen, der das untersucht.»
«Hmm, hmm, so, so», machte Kaltbrunner.
«Es waren aber nicht nur die Handynetze gestört», erklärte Tamine weiter. «Auch das gesamte Internet war rund zwei Stunden lang blockiert. Sagt zumindest René.»
«Wie das?»
«Auch da müssen wir noch recherchieren. Die Provider, also die Internetanbieter, vermuten, dass sie gehackt worden sind.»
«Ach was», Olivier Kaltbrunner setzte seine Brille auf. «Die waren doch einfach überlastet, zusammengebrochen, wie an Silvester. Alle tippen in ihrer Panik und bumm, Netze tot. René soll mal nicht überbeissen, der sollte vielleicht weniger hinter dieser Kiste …»
«Oh, ihr redet über mich», René trat ins Büro. «Schön.»
«Was erzählst du da von Sabotage von Handynetzen und Internet?», fragte Kaltbrunner.
«Ja, Sabotage ist wohl der richtige Ausdruck. Habe gerade von der Swisscom die Meldung erhalten, dass sie von aussen angegriffen worden war. Genau zwischen 16.55 bis 19.03 Uhr.»
«Um 17 Uhr explodierten die Bomben auf dem Barfi …», sinnierte Tamine.
«Die Petarden, Giorgio, die Petarden, es waren keine Bomben», korrigierte Kaltbrunner.
«Das ist doch kein Zufall, wenn ihr mich fragt», sagte René. «Aber ihr fragt mich ja nicht.»
«Das war Sabotage», wiederholte Tamine Kaltbrunners Worte. «Du hast Recht.»
«Es war vielleicht doch ein Terrorangriff.»
«Aus dem Internet?»
«Ich weiss es nicht.» Olivier Kaltbrunner stand auf und schaute zum Fenster hinaus. Unter seinem Büro fuhr ein gelbes 10er-Tram der Baselland-Transporte Richtung Stadt vorbei. Doch, irgendwie ist dieser Tag doch normal, dachte er. Dann knüpfte er die Fakten, Vermutungen und Spekulationen weiter zusammen: «Erst ein kleines Bömbchen einer geistig Behinderten. Dann einige Pyros am nächsten Tag. Und schon hast du eine Massenpanik.»
«Und was soll die Sabotage des Internets und der Handynetze?», fragte Tamine.
«Und warum waren nur ‹Aktuell›-Reporter anwesend?», fragte Kaltbrunner zurück.
«Na ja, also anwesend waren schon auch andere Fotografen und Reporter. Aber sie haben einfach nicht diese Bilder, weil sie entweder zu weit weg waren oder was weiss ich. Ich meine, die Abfacklerei der Pyros dauerte höchstens einige Sekunden.»
«So, so», machte Kaltbrunner. «So, so.» Er schnappte sich die anderen Zeitungen und ging auf die Toilette.
REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN
«Was meinst du, Jonas, sollten wir nicht unsere Verlegerin mit einbeziehen?», fragte Peter Renner. Er sass zusammen mit Haberer in dessen Büro, das der Chefredaktor abgeschlossen hatte. Das tat er eigentlich nie. Aber er hatte Grund dazu. Was die beiden zu besprechen hatten, war geheim und von allerhöchster Brisanz.
«Die Lemmo?», fragte Haberer und lachte. Er lag mehr, als dass er sass, auf seinem Stuhl und hatte die Beine auf den Konferenztisch gelegt. Unter seinen Boots bildete sich auf dem weissen Tisch ein kleiner Berg aus Sand und Erde. «Also die Lemmo muss nun wirklich nichts davon wissen.»
«Emma Lemmovski gehört immerhin die Zeitung, und sie sollte wissen, wenn wir …»
«Die Zeitung gehört vor allem ihrem Alten, Kamerad Dave, der hat die Kohle. Und dank uns ist seine Emmi beschäftigt und kommt nicht auf dumme Gedanken.» Haberer prustete los, der Tisch zitterte heftig, das Schmutzhäufchen wuchs.
«Solltest mal deine Schuhe putzen», sagte Renner trocken. Darauf bekam Haberer einen Lachanfall.
Plötzlich wurde er ernst: «Pescheli, wir ziehen jetzt das mit unserer Kirschtorte durch. Und wir reden erst mit irgendjemand anderem darüber, wenn die Story draussen