Название | Der Tod - live! |
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Автор произведения | Philipp Propst |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783858827401 |
Ab sieben Uhr stiegen in den Vorortsgemeinden, die vom 34er-Bus bedient wurden - Riehen, Binningen und Bottmingen - die ersten Kostümierten in Neuenschwanders Bus. Sie sahen ziemlich frisch aus. Thomas war sich sicher, dass sie zu Hause geschlafen hatten, um nun den zweiten Tag Fasnacht in Angriff zu nehmen. Aus dem von den Behörden ausgerufenen, freiwilligen Fasnachtsverzicht wird wohl nichts, dachte Thomas.
Kurz nach neun Uhr hatte er Pause. Er holte sich eine «Aktuell» aus einem Zeitungskasten und las die Berichterstattung über das Attentat von Basel. Seine Stellungnahme gegenüber dem Reporter Joël Thommen war Teil eines doppelseitigen Artikels. Beim Lesen blieb er an der Stelle hängen, an der er zitiert wurde, dass er sich gewundert habe, warum die geistig behinderte Frau für einmal keinen Plüschelefanten im Rucksack gehabt habe, sondern einen Hasen. Auch jetzt empfand er dies nach wie vor als sehr seltsam, denn er hatte die Frau in all den Jahren noch nie ohne den Elefanten gesehen. Das Stofftier war auch dementsprechend abgewetzt und schmutzig. Er überlegte sich, ob er das der Polizei mitteilen solle.
Als er anrief, wunderte er sich ein bisschen, weshalb der Beamte am Telefon sagte, die Staatsanwaltschaft habe ihn bereits gesucht, man müsse sich sofort treffen, ob er in den Waaghof an der Heuwaage kommen könne, er solle sich umgehend bei Kommissär Olivier Kaltbrunner melden. Das gehe nicht, er müsse in einer halben Stunde an der Schifflände auf die Linie 36. Darüber solle er sich keine Sorgen machen, man werde das mit den Basler Verkehrsbetrieben organisieren.
Neuenschwander erkundigte sich trotzdem zehn Minuten später beim Personaldisponenten der Leitstelle. Dieser bestätigte: «Die Polizei hat mehrfach angerufen. Wir wollten dich anfunken oder gleich ablösen, sobald du den zweiten Dienstteil in Angriff genomm…»
Thomas klickte den Disponenten weg und schlenderte über die Mittlere Brücke. Es wehte ein leichter Wind, der Himmel war bedeckt, aber – das hatte Thomas in den Nachrichten des Lokalsenders Basilisk gehört - es sollte trocken bleiben, teilweise könnte sich sogar die Sonne durchsetzen. Was für ein tolles Wetter für die heutige Kinderfasnacht und die abendlichen Guggenkonzerte. Vorausgesetzt, die Fasnacht würde überhaupt weitergehen.
Thomas blieb beim Käppelijoch, der kleinen Kapelle in der Mitte der Brücke, stehen und schaute, ob auch dieses Jahr eine Fasnachtsfigur darin platziert worden war. Ja, es war eine alti Dante, eine alte Frau, eine klassische Figur der Basler Fasnacht. Sie war allerdings kaum zu sehen. Denn an den Gitterstäben vor der Figur hingen unzählige Liebesschlösser, von Verliebten, die ein Schloss mit ihren Namen am Gitter festmachten und den Schlüssel in den Rhein warfen. Neuenschwander fand diesen Brauch albern.
«Neuenschwander?», rief jemand. Thomas drehte sich um. Ein Polizeiauto hatte angehalten. Ein Mann, nicht all zu gross, mit rundlichem Kopf und einer Brille mit feinem Goldrand stieg aus und kam auf ihn zu: «Herr Neuenschwander?».
«Ja …»
«Ich bin Olivier Kaltbrunner, Kommissär. Wir haben mit Ihnen telefoniert.»
«Ja …»
«Wie geht es Ihnen?» Der Mann nahm seine feine, goldene Brille von der Nase und schaute ihn mit grün-blauen Augen freundlich an. Der Mann hat etwas Sympathisches an sich, dachte Thomas. «Es geht gut.»
«Ist es Ihnen recht, wenn wir gleich an den Claraplatz fahren und Sie uns schildern, was Sie wie gesehen haben? Sie können uns damit ganz gewaltig helfen.»
«Meinen Sie?»
«Natürlich. Sie sind derzeit unser wichtigster Zeuge.»
Thomas konnte es nicht fassen, dass er plötzlich so wichtig war. Er kramte sein Handy hervor und wollte seine Frau anrufen. Doch der Kommissär schaute ihn immer noch an. Deshalb liess er es bleiben und stieg mit dem Kommissär in den Wagen.
REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN
Peter Renner sass in seiner Nachrichtenzentrale und starrte auf den mittleren Bildschirm der drei Monitore auf seinem Pult. Renner sass bereits seit sechs Uhr hier und hatte mittlerweile rund dreissig Zeitungen aus dem In- und Ausland gelesen. Nun überprüfte er die grössten News-Portale im Web auf irgendwelche Informationen, die er noch nicht hatte.
Peter Renner sass reglos da. Sein massiger Körper und sein kleiner Kopf bewegten sich kaum. Nur sein rechter Zeigefinger, der die Computermaus bediente, regte sich ab und zu, die Augen folgten den Buchstaben und Zeilen, hin und her. Peter Renner hatte seinen Übernamen nicht umsonst: Die Zecke lauerte auf Nachrichten, in die sie sich reinbeissen konnte.
Das grosse Thema war in allen Medien der Bombenanschlag an der Basler Fasnacht. Einig waren sich die Journalisten, dass es eine Katastrophe war. Uneinig dagegen, ob es sich um einen Terrorakt oder einen Amoklauf handelte. «Aktuell» war die einzige Zeitung, die dank Renners Reportern Alex Gaster und Joël Thommen Informationen hatte, die auf die Tat einer geisteskranken Frau hinwiesen. Diese wurden von den Nachrichtenagenturen, die ständig neue Meldungen verbreiteten, vielfach zitiert.
Da die offiziellen Mitteilungen der Basler Behörden sehr dürftig waren, hatten viele Medienleute Experten befragt. Peter Renner hatte diese sogenannten Strategieexperten alle schon am Vorabend auf diversen Fernsehstationen gehört und gesehen. Ihre Aussagen waren aber vage. Auch in Interviews mit Zeitungs- und Online-Journalisten waren sie nicht konkreter geworden. Doch die Tendenz war klar: Mit dieser «unfassbar grausamen» Tat habe der Terror endgültig die Schweiz erreicht. Oft waren die Fragen so gestellt, dass es genau darauf hinauslief. Beispielsweise wurde ein Vergleich mit dem fürchterlichen Anschlag auf die französische Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo angestrebt, weil die Basler Fasnacht ja auch aktuelle und brisante Themen karikiere. Einige Experten nahmen diesen Zusammenhang dankbar auf. Natürlich wollte niemand vordergründig auf Panik machen, aber dass nun selbst die heile und friedliche Schweiz nicht mehr von Terroranschlägen verschont wurde, war einfach eine zu ungeheuerliche Tatsache – da konnten selbst seriöse und besonnene Journalisten nicht widerstehen, die Tat in den Kontext des internationalen Terrors zu stellen. Viele Kommentatoren kamen zum Schluss: Nun hat der Terror die Schweiz erreicht.
Peter Renner zweifelte daran und nahm sich vor, seine Reporter heute auf die vermeintliche Attentäterin anzusetzen beziehungsweise auf deren Umfeld. Wenn es eine Geisteskranke war, dann müsste es für seine Leute ein Leichtes sein herauszufinden, was da passiert und wie sie zu dieser Bombe gekommen war.
Um 09.52 Uhr, acht Minuten vor der grossen Redaktionssitzung, rief er Sandra Bosone an, die eigentlich Politik-Journalistin war, sich wegen dem Anschlag aber immer noch in Basel aufhielt. «Hey, wie weit bist du?», wollte Renner wissen. «Hast du mit Verletzten reden können?»
«Nein, noch nicht.»
«Scheisse, warum nicht?»
«Ins Spital kommt man nicht rein. Zu viel Polizei und Security.»
«Kauf dir einen Doktorkittel und ein Stethoskop! Dann versuchst du es nochmals! Das Zeug kannst du in einem Geschäft am Bernoullianum … ach, wie heisst das dort? … da, wo diese Wissenschaftlerin ihr Zeugs holte, als damals dieses Virus ausgebrochen war … Warte kurz …» Renner googelte sich auf dem rechten Monitor durch die Basler Läden für Spitalbedarf. «Klingelbergstrasse. Dort kannst du solche Sachen kaufen.»
«Und was soll ich damit?»
«Was wohl?! Sandra, wo ist dein Problem?
«Ich mach das nicht.»
«Aussergewöhnliche Storys brauchen aussergewöhnliche Recherchen.»
«Das kannst du nicht von mir verlangen.»
«Und ob. Keine Diskussion jetzt!»
«Peter, ich gebe mich nicht als Ärztin …»
«Ende der Diskussion, Sandra!», sagte Renner in seinem gefürchteten Befehlston. «Oder muss dich unser Kotzbrocken Haberer darum bitten?»
«Sehr witzig», kommentierte Sandra und brach die Verbindung ab.
In diesem Augenblick flog die Türe zum Newsroom auf: Klack – klack – klack! Chefredaktor