Название | Soziale Netzwerke |
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Автор произведения | Jan Arendt Fuhse |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846345634 |
W. Lloyd Warner war wie Mayo aus Australien an die Harvard University gekommen. In den USA führte er mit Kollegen die ersten großformatigen Gemeindestudien durch. Sie untersuchten mit unterschiedlichen Methoden die soziale Struktur von Newburyport, einer industriellen Kleinstadt im Nordosten der USA. Dabei fanden sie unter anderem eine starke Rolle von informalen Gruppierungen oder ➔Cliquen. In den daraus entstandenen Yankee City-Studien analysieren Warner und Paul Lunt unter anderem, inwiefern diese Cliquen nach Schichten getrennt sind (1941: 110ff; 350ff).
[34]Auch wenn Warner und seine Kollegen hier und an anderen Stellen ein Interesse an der Struktur sozialer Beziehungen zeigen, geht es hier in erster Linie um deren Verteilung: Zwischen welchen Kategorien von Personen (hier: Schichten) bestehen in welchem Umfang Sozialbeziehungen? Auf diese Weise erfährt man etwas über das systematische Muster an Beziehungen zwischen den Kategorien in einer relativ großen Population – aber nichts über die tatsächliche Struktur von Beziehungen zwischen Einzelpersonen.
Eine etwas andere Herangehensweise finden wir in den Studien von Paul Lazarsfeld, einem österreichischen Emigranten. Lazarsfeld gilt heute als Begründer der modernen Survey-Forschung. In einer der ersten breit angelegten Umfragen zeigte er mit Kollegen die große Bedeutung des persönlichen Austauschs mit anderen in der politischen Meinungsbildung (Lazarsfeld et al. [1944] 1968). Lazarsfeld und seine Mitstreiter wiesen nach: Politische Einstellungen und dann auch die Wahlentscheidung hängen viel mehr vom persönlichen Umfeld ab als etwa von den rezipierten Massenmedien (siehe auch Schenk 1995).
In einem späteren Artikel wendet sich Lazarsfeld gemeinsam mit Robert Merton dem Phänomen der ➔Homophilie zu (1954: 23ff):
Erstens bilden sich Freundschaften vor allem zwischen Personen mit ähnlichen Werten und Einstellungen. Denn hier erhalten die Beteiligten wechselseitige Zustimmung für ihre Sichtweisen, was als belohnend empfunden wird. Dies ist das Prinzip der Werte- oder Einstellungs-Homophilie.
Zweitens führt der enge und wiederholte Austausch in Freundschaften zu einer Angleichung von Werten und Einstellungen (Anpassung; siehe 10.4) oder auch zum Abbruch der Beziehung bei zu viel beharrlichem Widerspruch.
Definition: Werte- oder Einstellungs-Homophilie steht für die Tendenz, Sozialbeziehungen vor allem mit Gleichgesinnten zu bilden (und enge Beziehungen mit Andersdenkenden aufzulösen). Davon zu trennen ist der Mechanismus der Anpassung: Innerhalb von engen Sozialbeziehungen ergibt sich eine Angleichung von Werten und Einstellungen.
Diese Zusammenhänge zwischen Beziehungen und Einstellungen entsprechen recht genau Heiders Balance-Theorie. Methodisch lassen sich die Ergebnisse von Homophilie und Anpassung im Querschnitt nachweisen, wenn in einer Population mehr Sozialbeziehungen zwischen Personen mit gleichen Werten und Einstellungen bestehen, als bei einer zufälligen Verteilung zu erwarten wäre. Um diese ➔Mechanismen voneinander zu trennen, braucht[35] es aber Daten über die Veränderungen von Beziehungen und Einstellungen über die Zeit (Lazarsfeld/Merton 1954: 37ff).
Wie in den Arbeiten um Warner wird bei Lazarsfeld in statistischen Verfahren der Zusammenhang zwischen persönlichen Beziehungen und Individualvariablen untersucht. Dabei geht es aber nicht darum, zwischen welchen Kategorien sich Beziehungen bilden. Sondern der Einfluss von persönlichen Beziehungen auf individuelle Einstellungen und Verhalten (die politische Wahl) wird untersucht. Dafür müssen Netzwerke mit anderen Variablen in Beziehung gesetzt werden. Die Studien von Warner und Lazarsfeld weisen damit in eine ganz andere Richtung als die Soziometrie und die Balance-Theorie: hin zur Untersuchung und statistischen Analyse von ➔ego-zentrierten Netzwerken in Umfragen (Kapitel 8).
2.8 Britische Sozialanthropologie
Der Begriff des sozialen Netzwerks wurde allerdings erst in einem weiteren, weitgehend unabhängigen Ansatz entwickelt: der britischen Sozialanthropologie. Diese war vor allem an der University of Manchester beheimatet.
(a) Soziale Struktur bei Radcliffe-Brown
Impulse dafür gab wiederum der Ethnologe A. R. Radcliffe-Brown. Er formulierte in seiner Präsidentschaftsrede an das britische Royal Anthropological Institute:
»human beings are connected by a complex network of social relations. I use the term ›social structure‹ to denote this network of actually existing relations.« (1940: 2)
Radcliffe-Brown spricht eher nebenbei von Netzwerken, bestimmt sie aber recht genau. Zwei Aspekte sind hier wichtig:
(1) | Mit der Bestimmung von »sozialer Struktur« als »Netzwerk von Sozialbeziehungen« wendet sich Radcliffe-Brown gegen die häufige Konzentration von Ethnologen auf die »Kultur« der von ihnen untersuchten indigenen Stämme. Kultur sei selbst nicht beobachtbar, anders als die konkreten Sozialbeziehungen. |
(2) | Zudem fokussiert er sich auf »tatsächlich bestehende« und empirisch beobachtbare Beziehungen. Dies widerspricht etwa der Sichtweise des französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss. Auch er sieht soziale Struktur in »Kommunikationskanälen«, also in sozialen Beziehungen ([1952] 1962). Allerdings sucht er dahinter liegenden Regeln, die als »Tiefenstruktur«[36] für das beobachtbare Beziehungsgeflecht verantwortlich sind. Ein Beispiel dafür sind Verwandtschaftsstrukturen. Diese zeigen sich zwar in empirisch beobachtbaren Familienbeziehungen. Aber dahinter stehen kulturelle Regeln für das Verhältnis zwischen den Geschlechtern und Generationen. |
Die britische Sozialanthropologie folgt den beiden Grundintentionen von Radcliffe-Brown und fasst soziale Netzwerke als das Muster von empirisch beobachtbaren Sozialbeziehungen.
(b) Netzwerkbegriff bei Barnes
Ein Artikel von J. A. Barnes liefert 1954 die erste Ausformulierung und empirische Anwendung des Netzwerkbegriffs. Barnes untersucht die soziale Struktur in einem norwegischen Fischerdorf (Bremnes). Diese Struktur sieht er als ➔Netzwerk und bezieht sich explizit auf das graphentheoretische Modell einer Menge von Punkten, die mit Linien verbunden werden (Barnes 1954: 43f). In Bremnes gehören hierzu (abgesehen von formalen Arbeitskontexten) »Verwandtschafts-, Freundschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen«.
Die Bewohner von Bremnes bezeichnen ihre soziale Struktur als aufgeteilt in drei Klassen oder Schichten. Barnes findet mit seinen ethnographischen Beobachtungen eher ein homogenes und dicht gestricktes Netzwerk ohne große Rangunterschiede. Insofern folgt Barnes in seiner Studie bereits dem von Emirbayer und Goodwin formulierten anti-kategorischen Imperativ (siehe 1.3): Die Selbstbeschreibung der Bewohner mit ihren drei Kategorien von Klassen wird hinterfragt und mit der empirisch beobachtbaren Netzwerkstruktur konfrontiert. In dieser bestehen eben keine Trennlinien zwischen Klassen, sondern vor allem lokal basierte Sozialbeziehungen.
Weitere wichtige Arbeiten behandeln Netzwerke von Ehepaaren in London (Bott 1957) und die Verstädterung in Afrika. Auffällig oft geht es um soziale Strukturen im Wandel, insbesondere durch den Kontakt zwischen Indigenen und westlicher Moderne.
(c) Konzeptionelle Integration bei Mitchell
In der Folge wurde J. Clyde Mitchell der wichtigste Autor der britischen Sozialanthropologie. Schon 1974 monierte er das Fehlen einer Theorie sozialer Netzwerke, die die zahlreichen empirischen Arbeiten flankieren und leiten könnte (1974: 281ff). Zudem schlug er vor, die formale Netzwerkanalyse durch die Untersuchung von Sinn, Normen und Institutionen zu erweitern (1973: 27ff). Der Vorschlag einer Zusammenschau von Netzwerkstruktur und Kultur – genau dem Bereich, von dem sich Radcliffe-Brown mit dem[37] Netzwerkbegriff abwandte – wurde in der Ethnologie erst ab den 1990er-Jahren aufgenommen, etwa von Thomas Schweizer (1996).
Der Netzwerkbegriff in der frühen britischen Sozialanthropologie markiert also folgende Herangehensweisen:
(1) | Der Fokus wird auf die Struktur von Sozialbeziehungen gelegt
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