Soziale Netzwerke. Jan Arendt Fuhse

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Название Soziale Netzwerke
Автор произведения Jan Arendt Fuhse
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783846345634



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ist auch der Fokus der meisten englischsprachigen Lehrbücher (de Nooy et al. 2011; Hennig et al. 2012; Kadushin 2012; Prell 2012; Borgatti et al. 2013). Boris Holzer führt kurz in die formale Netzwerkanalyse ein und wendet sich dann der theoretischen Unterfütterung zu (2006). Um diese geht es auch in einer Einführung in die Theorie sozialer Netzwerke von Harrison White (Schmitt/Fuhse 2015). Ein von Betina Hollstein und Florian Straus herausgegebene Band behandelt die qualitative Untersuchung von Netzwerken (2006). Und ein neuer Band von Markus Gamper und Andreas Herz widmet sich der Untersuchung ego-zentrierter Netzwerke (2016).

      Die genannten Publikationen behandeln ihr Schwerpunktthema differenzierter als das vorliegende Buch. Mir geht es eher um einen Überblick über die verschiedenen Ansätze. Was unterscheidet sie, und inwiefern gehören sie trotzdem zusammen als Stränge der Netzwerkforschung in den Sozialwissenschaften? Welche Methoden bieten sich konkret an, um welche Forschungsfragen[22] zu beantworten? Am Schluss komme ich auf diese ganz zentrale Frage des Forschungsdesigns in der Untersuchung sozialer Netzwerke zurück.

      Leseempfehlungen:

      Holzer, Boris 2006: Netzwerke, Bielefeld: transcript.

      Jansen, Dorothea 2003: Einführung in die Netzwerkanalyse, Wiesbaden 2003.

      Kadushin, Charles 2012: Understanding Social Networks, Oxford: Oxford University Press.

      Scott, John 2000: Social Network Analysis; Second Edition, London: Sage.

      Stegbauer, Christian/Roger Häußling (Hg.) 2010: Handbuch Netzwerkforschung, Wiesbaden: VS.

      Trezzini, Bruno 1998: »Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkanalyse: Eine aktuelle Übersicht« Zeitschrift für Soziologie 27, 378–394. (online verfügbar unter: http://zfs-online.org/index.php/zfs/article/view/2984/2521)

      Wellman, Barry 1983: »Network Analysis: Some Basic Principles« Sociological Theory 1, 155–200.

      1 Ich bemühe mich in diesem Buch um eine geschlechtssensible Sprache. Um sperriges »Gendern« zu vermeiden, schreibe ich oft in generischen Feminina – ich hoffe, männliche Leser fühlen sich auch mit »Leserin« und »Forscherin« angesprochen. In Beispielen wechsle ich ohne weitere Erklärung zwischen männlichen und weiblichen Bezeichnungen. Der zentrale Begriff des Akteurs bleibt allerdings in diesem Buch männlich und »er«. Genau wie »die Person«/»sie« und »das Individu- um«/»es« verweist er auf weibliche, männliche oder auch queere Identitäten.

      2. Vorgeschichte: von Beziehungen zum Netzwerk

      [23]Seit mindestens 200 Jahren werden Menschen als eingebettet in soziale Strukturen und Relationen gedacht. In diesem Kapitel stelle ich die wichtigsten frühen Ansätze vor, aus denen sich die heutige Netzwerkforschung entwickelt hat: Den Ausgangspunkt bildet die formale Soziologie von Georg Simmel (2.1). Deren Anregungen wurden vom symbolischen Interaktionismus (2.2), von Norbert Elias in seiner Figurationssoziologie (2.3), wohl auch in der Soziometrie von Jacob Moreno (2.4), in der Gestaltpsychologie (2.5), im Human Relations-Ansatz (2.6) und in frühen Gemeindestudien und Surveys (2.7) weiter entwickelt. Relativ unabhängig davon hat die Sozialanthropologie einen eigenen Netzwerkbegriff entwickelt (2.8). Diese Ansätze werden hier knapp mit einigen wichtigen Grundgedanken vorgestellt.2

      Den Startpunkt für die Entwicklung der Netzwerkforschung bilden um 1900 die konzeptionellen Formulierungen in der formalen Soziologie in Deutschland, insbesondere bei Georg Simmel.

      Georg Simmel (1858–1918) gehört zur Gründergeneration der Soziologie. Wie viele Autoren seiner Zeit versuchte Simmel die theoretischen Grundlagen für die Soziologie als eigenständige Wissenschaft zu konzipieren. Dabei setzte er nicht wie Emile Durkheim auf die Gesellschaft als integrierter Einheit oder wie Max Weber auf das handelnde Individuum als Grundbaustein. Vielmehr stehen bei Simmel soziale Konstellationen im Mittelpunkt. Sein Konzept der »sozialen Form« und seine Einsichten in die Eigenlogik von Konstellationen bilden Ausgangspunkte für die heutige Netzwerkforschung.

      Grundlegend für die Netzwerkforschung wurde Simmels Gegenüberstellung von Form und Inhalt im Sozialen ([1908] 1992: 17ff). Als Inhalt bezeichnet [24] er individuelle Triebe, Interessen und Neigungen. Diese führen dazu, dass Menschen in Kontakt miteinander treten – sie bestimmen aber nicht, was dann passiert. Denn dann kommt es zu »Wechselwirkungen« zwischen den Beteiligten, und diese Wechselwirkungen führen zur Ausbildung sozialer Konstellationen des Füreinander, Miteinander oder Gegeneinander. Diese soziale Konstellationen bilden die Form – oder genauer: die Formen – des Sozialen. Sie stehen für Verfestigungen der Wechselwirkungen und bestimmen viele soziale Phänomene.

      Simmel zufolge geht es in der Soziologie genau darum, diese »Formen der Wechselwirkung […] in gedanklicher Ablösung von den Inhalten« zu betrachten ([1908] 1992: 20. Eine formale Soziologie untersucht also soziale Konstellationen und blendet dabei individuelle Neigungen und Interessen tendenziell aus. Genau das will auch die Netzwerkforschung: Soziale Konstellationen werden formal (erst einmal ungeachtet individueller Eigenschaften und Motive) analysiert mit Blick etwa auf strukturelle Vorteile oder Nachteile für Inhaber bestimmter Positionen in Netzwerken.

      Bei Simmel finden sich auf dieser Grundlage eine Reihe von relevanten Überlegungen für die Netzwerkforschung (Hollstein 2001: 60ff; Fischer 2010):

       Das genuin Soziale fängt eigentlich erst ab einer Konstellation mit drei Personen – einer ➔Triade – an (Simmel [1908] 1992: 114ff). Ab der Triade gewinnen soziale Konstellationen ein Eigenleben, die die Wechselwirkungen bestimmen.

       Individuen stehen nach Simmel am Schnittpunkt zwischen sozialen Kreisen ([1908] 1992: 456ff). Diese strukturelle Position prägt und definiert sie. Umgekehrt beeinflussen sie auch die Gruppen, in denen sie Mitglied sind (Breiger 1974).

       Simmels Gesetz der großen Zahl zufolge werden Gruppen umso unpersönlicher, je größer sie sind ([1908] 1992: 89f). Je größer die Gruppe, desto weniger wird sie durch die einzelnen Individuen, deren Eigenschaften und deren Ziele bestimmt.

       Der Konflikt oder »Streit« zwischen zwei Gruppen wirkt bei beiden hochgradig integrativ ([1908] 1992: 284ff). In der Auseinandersetzung mit einem äußeren Feind schließen sich die Reihen.

       Ein Beispiel für eine triadische Konstellation ist die Figur des »lachenden Dritten« ([1908] 1992: 134ff). Zwei Parteien konkurrieren miteinander. Eine dritte Partei kann dann als neutraler Vermittler (etwa als Richter) auftreten. Oder sie kann die Situation als mögliches Zünglein an der Waage ausnutzen, indem sie ihre Unterstützung den beiden Konfliktparteien für entsprechende Gegenleistung anbietet. Allein die strukturelle Position sorgt hier für Vorteile.

      [25]Mit seinem Fokus auf soziale Konstellationen (»Formen«) liefert Simmel einen wichtigen Grundbaustein für die Netzwerkforschung. Ihm fehlt aber ein Netzwerkbegriff für soziale Konstellationen als Muster von Sozialbeziehungen. Simmel benutzt hier noch das Gruppenkonzept. Dieses suggeriert aber eine Abgeschlossenheit und Homogenität sozialer Kontexte, die wir empirisch selten finden (Fuhse 2006: 252ff).

      Glücklicherweise gingen die Anregungen der formalen Soziologie mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht vollkommen verloren. Ein wichtiger Strang führt über den symbolischen