Die Flucht in den Hass. Eva Reichmann

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Название Die Flucht in den Hass
Автор произведения Eva Reichmann
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783863935634



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jüdischen Gemeinschaften, zu denen sie hinströmten, durch einen niedrigeren Lebensstandard. Dieser Unterschied war in der Tat das hauptsächliche Motiv, das – zeitweise neben Verfolgungen – den Wanderungsprozeß in Gang setzte. Die osteuropäischen Juden waren noch nicht emanzipiert und lebten im wesentlichen in rein jüdischen Siedlungen in völliger Isolierung. Ihr kultureller Status entsprach demnach noch der „ersten Entwicklungsstufe“. Die Berührung der osteuropäischen Juden mit den in den Einwanderungsländern bestehenden Gemeinden wirkte überall verzögernd auf den Assimilationsprozeß. Obgleich die alteingesessenen Gruppen sich den Neueinwanderern gegenüber mehr oder minder ablehnend verhielten, weil sie fürchteten, von ihren nichtjüdischen Mitbürgern mit diesen identifiziert zu werden, konnten und wollten sie doch einen Kontakt nicht völlig vermeiden. Mochte dieser Kontakt zunächst auch nur auf karitativem Gebiete liegen und nur vereinzelt darüber hinausgehen, so war doch schon die Tatsache eines neu entstehenden jüdischen Gemeinde- und Vereinslebens, neuer jüdischer Siedlungen in bestimmten Städten oder Stadtvierteln, ja schon die Vergrößerung der jüdischen Gruppe selbst für die eingesessenen Juden nicht bedeutungslos. Derartige sichtbare Anzeichen einer lebendigen jüdischen Gemeinschaft brachten in der Tat die nichtjüdische Umwelt in vielen Fällen erst wieder zum Bewußtsein einer „Judenfrage“, die in einer gefürchteten aber unvermeidlichen Identifizierung auch die einheimischen Juden wieder als Juden erscheinen ließ. Aber das war nicht die einzige Folge, durch die die Zuwanderung von unassimilierten Juden den Normalisierungsprozeß verzögerte. Eine weitere Folge war, daß die im Einwanderungsland bereits stark verdünnte jüdische Substanz durch sie eine erhebliche Anreicherung erfuhr.8 Blieb diese im Frühstadium der Zuwanderung auf die einwandernde Gruppe beschränkt, so fand doch in der nächsten Generation bereits ein gewisser gesellschaftlicher Kontakt mit wirtschaftlich aufsteigenden Familien statt. Er bewirkte trotz der auch unter den Einwanderern bereits einsetzenden Abschleifung eine ständige Erinnerung an frühere Stadien der Assimilation und bereitete gegen eine durch die Zuwanderung ausgelöste verstärkte Abstoßung der Umwelt sozusagen eine zweite Verteidigungslinie vor, eine Linie, in der das aufgefrischte jüdische Bewußtsein den enttäuschten jüdischen Assimilanten für seine partiellen Mißerfolge entschädigte.9

      Drei Faktoren haben wir demnach festgestellt, denen die Erhaltung jüdischer Gruppen auch bei rechtlicher Emanzipation zugeschrieben werden muß: die zeitliche Begrenzung aller bisher historisch gewordenen Emanzipationsprozesse, die Haltung der Umwelt und die jüdische Wanderung.

       2. Die objektive oder „echte“ Judenfrage

      Wenn wir oben davon sprachen, daß vor dem Eintritt der deutschen Judenkatastrophe die allgemeine Situation der Juden vielfach zu unproblematisch und optimistisch gesehen wurde, so meinten wir damit im wesentlichen, daß man diesen Gruppencharakter übersah. Wir kommen nun zu den Folgen des Gruppencharakters und damit zur Problematik des Antisemitismus selbst.

      So fruchtbar es auch ist, den Antisemitismus unter der Kategorie der Gruppenfeindschaft zu betrachten – wir werden diese Betrachtungsweise noch sehr eingehend anzuwenden haben –, so enthält sie doch die Tendenz, einige wichtige Fragen zu vernachlässigen. Indem man in der Gruppeneigenschaft gewissermaßen ein Instrument zur Äußerung von Feindschaftsgefühlen sieht, die anderweitig nicht abzureagieren sind, und in der jeweiligen antisemitischen Ideologie einen reinen Vorwand, der in objektiven Tatsachen keine Stütze findet11, übersieht man den Umstand, daß in dem Zusammenstößen heterogener Gruppen sehr wohl ein objektives gesellschaftliches Problem liegen kann. Schon daß man hier ein Phänomen wie den Antisemitismus ohne Berücksichtigung seiner historischen Erscheinungsformen auf einen einzigen allgemeinen Nenner bringt, kennzeichnet die Schwäche der Theorie. Wer zu leugnen versucht, daß die Existenz der kulturell noch weitgehend fremdartigen jüdischen Gruppe zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland oder die Existenz fortwährend frisch ergänzter fremdnationaler Einwanderungsgruppen in den Vereinigten Staaten von Amerika echte gesellschaftliche Probleme darstellen, verstellt sich selbst den Einblick in die Zusammenhänge, die er zu durchleuchten versucht. Gruppenberührungen und Gruppenspannungen mögen ideale Entladungsmöglichkeiten für Haßgefühle bieten, die aus völlig anderen Quellen sich speisen, – ihre Bedeutung erschöpft sich jedoch nicht in dieser Eigenschaft.

      Es bedarf nicht des Hilfsbegriffes „Herdeninstinkt“, um zu der in unserem Zusammenhang allein wesentlichen Feststellung zu kommen, daß der Kontakt zwischen einer in bestimmten Grundzügen einheitlichen Gruppe mit einer von ihr abweichenden zu psychischen Reaktionen führt, die der Störung einer vorher bestehenden absoluten oder relativen Ruhelage entsprechen. Es wird ein Prozeß ausgelöst, der durch Wiederanpassung an die neu geschaffene Situation zu einer Wiederherstellung des gestörten Gleichgewichts hinstrebt. Der neue Gleichgewichtszustand wird eine je nach dem Ausmaß der Störung größere oder geringere Verschiedenheit von dem vorher bestehenden aufweisen.

      Der so bezeichnete Tatbestand ist der objektive gesellschaftliche Kern dessen, was wir die Judenfrage zu nennen gewohnt sind. Er ist nicht auf sie beschränkt, sondern tritt überall in Erscheinung, wo verschiedenartige Gruppen miteinander in dauernde lebensmäßige Berührung treten. Daß er auch der Judenfrage zugrundeliegt, ist ein Umstand, den die jüdische Apologetik manchmal zu übersehen geneigt war. Selbst Professor Hugo Valentin in seiner umfassenden Studie des Antisemitismus glaubt dem Problem Genüge zu tun, wenn er es wie folgt darstellt16: „Es ist nicht so, daß eine Gruppe nach objektiver Prüfung zu dem Ergebnis kommt, daß eine andere Gruppe schädlich oder minderwertig sei. Das Primäre ist der Haß. Die vom Verstand gefundenen Argumente sind sekundär.“ Das ist weitgehend, aber nicht vollkommen richtig. Ein gesellschaftlicher Konflikt hört nicht deshalb auf