Vom Rauschen und Rumoren der Welt. Belinda Cannone

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Название Vom Rauschen und Rumoren der Welt
Автор произведения Belinda Cannone
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783949558047



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dass er sich dort, wo seine Urgroßeltern lebten, ausruhen kann, dort ist es so anders als hier, dass er endlich an etwas anderes denken kann. Chaos? Ja, davon wird er ihm vielleicht später erzählen. Wiegt er sich nicht in Illusionen, wenn er glaubt, in Ulan Bator sei alles anders als hier? – Vielleicht, aber hast du schon mal in einer Jurte gelebt? – Nein – Na, dann stell dir das mal vor – Schwierig – Siehst du, ist zwangsläufig was anderes. Jodel bietet ihm ein Glas Wein an. Er hört die ganze Zeit ein leises Quietschen, das aus seiner linken Tasche kommt, und ein Kollern verrät ihm, dass der Magen des Besuchers leer ist. Essen? Er kann Reis kochen. Warum nicht. Leben dort alle in Jurten? Nein, immer weniger, die Sowjets haben Häuser gebaut, aber die Mongolen sind traditionell Viehhalter, also Nomaden, und außerdem gibt es noch Tausende Pferde (aha! eine Pferdegeschichte, hatte Jodel doch geahnt). Er spricht wirklich ein ausgezeichnetes Französisch. Ja, in Russland kennt man sich mit Sprachunterricht aus, und außerdem hat er sehr ernsthaft gelernt: Früher war Frankreich für ihn wie Ulan-Bator, dieselbe Sehnsucht.

      — Wenn du das gewaltige Reiterstandbild von Dschingis Khan zu Pferde siehst, hast du den Eindruck, dass seine Füße die Erde berühren würden, sobald er die Beine streckt. Es sind sehr kleine Pferde, und trotzdem haben sie mit ihnen die Kontinente überschwemmt.

      — Hast du die Statue gesehen?

      — Nein. Fotos.

      Er redet weiter: Kleines Land, aber stell dir mal vor, das Changai-Gebirge, die Wüste Gobi! – Nein, das kann ich mir nicht richtig vorstellen. – Leider haben sie bald alle Strom, aber das kann man ihnen schlecht vorwerfen, was? Seine durchscheinenden Augen versprühen glühende Funken. Er esse wenig, denn er zwinge sich, Maß zu halten, erklärt er, um schwierige Phasen besser zu überstehen. (Natürlich bleibt ganz viel Reis übrig.) Er sagt, die Mongolei ähnele einer stehenden Scheibe Wassermelone. Oben drüber Russland, der Baikalsee, Sibirien, und darunter China. Und alle haben sie irgendwann genervt. – Eine gerechte Umkehrung der Dinge, oder? Ich glaube mich zu erinnern, dass die Mongolen die größten Eroberer des Mittelalters waren. – Ja, einverstanden, aber sie sind nicht mal drei Millionen, weißt du, weniger als ein Einwohner pro Quadratkilometer, stell dir vor, wie du da atmen kannst, kann ich mir noch Wein nehmen? Nein, kein Maßhalten beim Alkohol, er kaufe nie welchen, nutze aber die Gelegenheit, sobald es welchen gebe. Da habe er sich noch nie beschränken können, und außerdem trinke man dort, wo er herkomme, solange der Vorrat reicht — das ist Tradition. Außerdem hindere Alkohol einen am Denken, das sei also von Zeit zu Zeit ganz gut.

      — Warum die Wut, fragst du? Wegen der Amerikaner. Ihr hier, ihr Bewohner der Reichenwelt, merkt das nicht. Das sind Raubtiere. Sie fressen alles, alle Kleinen um sie rum, sie verachten uns alle, ihr merkt das hier nicht, sie haben die sogenannte ukrainische Revolution organisiert, sie haben einen proamerikanischen Präsidenten in Georgien eingesetzt, und jetzt installieren sie Raketenabwehrsysteme in den Ländern um uns herum, sie versuchen, uns im kleinen Russland einzuschließen. Sie glauben, sie hätten den Kalten Krieg gewonnen, aber wir haben unser letztes Wort noch nicht gesprochen. Russland ist zu mächtig, um geschluckt zu werden. Russland ist ein riesiges Land, ein Land von Wölfen, so wie ich, und wir lassen uns nicht von fettleibigen, dummen Konsumenten reinlegen. Wir Orientalen werden das wieder in die Hand nehmen.

      — Orientalen?

      — Na klar, siehst du das nicht, die Russen verbünden sich mit den aufsteigenden Ländern, China, Indien. Vor kurzem hat China gezeigt, dass es fähig ist, das Computersystem des Pentagons und mehrerer Länder in Europa zu hacken. Die Macht verlagert sich, sie wandert nach Osten. Vergiss nicht, was ich dir sage: 2025 ist Shanghai die Hauptstadt der Welt, und ich bin in Ulan-Bator.

      Seine Heftigkeit beunruhigt Jodel (ein ruhiger Mann ist er, Ingenieur für Klangphysik, ein so friedlicher Mensch). Er bietet ihm nochmal Reis an in der Hoffnung, ihn zu beruhigen, indem er ihn auf andere Gedanken bringt. Der Mann sagt ihm, dass er viel zu viel gekocht hat. – Also wirklich! Du isst ja auch nichts. Der Besucher der Apokalypse verheißt noch den Untergang Amerikas, aber jetzt, wo seine Erschöpfung größer ist als die Faszination, hört Jodel nichts mehr, er muss schlafen. Er bietet ihm das Sofa statt der Garage an.

      — Ich stehe sehr früh auf, erklärt er.

      — Musst du arbeiten gehen?

      — Ja.

      — Zum Glück hast du mich nicht draußen gelassen. Hast du gesehen, was da runterkommt? Was hast du denn für eine Arbeit?

      — Zu umständlich zu erklären. Ich muss abwaschen und schlafen.

      — Ja, Entschuldigung. Ich habe keine festen Zeiten. Kannst du nicht morgen abwaschen?

      — Es stört mich, Unordnung zu hinterlassen.

      — Setzt du mich auf der Straße in die Stadt ab, wenn du fährst?

      — Ich hoffe, du schläfst gut auf dem Sofa.

      Der Mann lacht spöttisch.

       08

      Der Mann lacht spöttisch, als er aus dem Auto steigt. – Du bist also beinahe ein Bulle? Sieht man dir nicht an. Er sagt, die siebenundzwanzig Kilometer, die ihn von der Stadt trennen, gehe er sicher zu Fuß, vor Mittag werde er da sein – Ja, ich gehe ziemlich schnell, kannst du dir vorstellen, wie das ist, wenn ich dann ein Pferd habe? Danke, dass du uns aufgenommen hast.

      Als sich die Bürotür schließt, hat Jodel das flüchtige Gefühl, nach langer Abwesenheit zurückzukommen. Warum »uns aufgenommen hast«? Er setzt Wasser auf. Möglich, dass die Mongolen Tee trinken. Irène sicher nicht, der Gaumen von Rauchern ist nicht mehr fein genug, um das Aroma zu würdigen.

      Er liest seine Notizen durch. Warum bleibt Irène im Spiel? Warum ist es ihre Aufgabe, den Kontakt zu den Eltern zu halten? Aus den Dialogen hat er nicht viel erfahren. Er tut, was er kann. Auf jeden Fall muss nicht er die Ermittlung durchführen. Ja, genau. In seinen Notizen hat er vermerkt, dass man bei Minute zweiundzwanzig noch andere Stimmen in Tonios Nähe hört. Er nimmt sich seine Datei UMGEBUNG wieder vor und hört. Die Aufnahme ist undeutlich. Eines jedoch wird ihm schnell klar: Eine aufgebrachte Frau spricht englisch – ein sehr spezielles Englisch, weder aus England noch aus Amerika. Ja, genau. Aber er wird Wunder vollbringen müssen, um ein paar Worte zu verstehen. Daher hört er sich die fünfundzwanzigste Minute genauer an und erfasst inmitten von Küchengeräuschen ein paar Klänge, die ebenfalls Englisch sein könnten. Sollte das etwas mit der Nationalität oder der Herkunft von Tonio zu tun haben? Er kehrt zur Datei STIMMEN zurück und beginnt, die von Tonio zu analysieren. Der grüne Bildschirm zeigt die roten Ausschläge des digitalisierten Tonsignals: Das Spektrogramm bestätigt die Tendenz zu hohen Frequenzen (unangenehmer Effekt). Kein charakteristischer Akzent. Aber ein Tick: Eine Kehlkopfkontraktion vor manchen Sätzen, die in eine kurze Nasenausatmung übergeht. Gut geeignet für einen Vergleich mit den drei anderen Stimmen, deren Aufnahmen man ihm gegeben hat und von denen eine wohl die von diesem Tonio sein könnte. Ja, genau.

      Schließlich erstellt er eine genaue Charakteristik von Tonios Stimme, und nachdem er die Hintergrundstimmen nach vorne gezogen und eine ausführlichere Recherche in der Audiothek vorgenommen hat, erkennt er, dass es sich bei ihnen um Englisch aus Sierra Leone handelt. Gut. Verschiedene Nachrichten in seinem Computer liefern ihm die Adressen der Pariser Baustellen, die sich direkt in der Stadt befinden: keine Brache, keine abgelegene Gasse. Der von Stille umgebene Bagger auf der Kassette arbeitete also nicht in Paris. Eine letzte Nachricht vom Gericht informiert ihn, dass Irène sagt, sie glaube, das Versteck sei in der Stadt, aber das sei nicht sicher.

      Den restlichen Vormittag verbringt er mit dem Vergleichen der drei im Anhang mitgelieferten Stimmen. Keine von ihnen weist den Tick (Kehlkopfkontraktion und Nasenausatmung) auf, aber nach Gegenüberstellung der Ergebnisse des Oszillogramms und dann des Spektrogramms sieht es so aus, als wären Tonio und derjenige, den die Unterlagen als Hernandez bezeichnen, derselbe. Blöd, dass der Tick nicht zu finden ist.

      — Du weißt genau, dass man eine Stimme nie mit absoluter Gewissheit identifizieren kann, das ist keine sichere Wissenschaft, sagt Marc.

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