Vom Rauschen und Rumoren der Welt. Belinda Cannone

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Название Vom Rauschen und Rumoren der Welt
Автор произведения Belinda Cannone
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783949558047



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sucht er in dem Stapel nach der Akte, wie hat er nur den Inhalt vergessen können, er muss doch einen Blick darauf geworfen haben. »FÜR JODEL PAQUINSEUL. Fall Irène Gaspard. Zwei von Madame Gaspard übergebene Diktafon-Kassetten. Sie war an einer Kindesentführung mit Lösegeldforderung beteiligt. Die Eltern haben das Lösegeld sofort gezahlt, ohne die Polizei zu informieren. Daraufhin hat ihr Komplize (sie nennt ihn Tonio, kennt aber seinen Nachnamen nicht) beschlossen, eine zweite Zahlung zu fordern. Sie hat Angst bekommen und begonnen, ihre Gespräche aufzunehmen, um sich abzusichern. Tonio hat das Kind weggebracht. Madame Gaspard hat sich gestellt, sie gibt ihre Beteiligung an der Entführung zu, nicht aber am Verschwinden des Kindes. Sie sitzt in der Santé ein. Das Kind wurde bis heute nicht gefunden. Es gilt nun, Tonio und das Versteck des Kindes ausfindig zu machen.« In einem beigefügten Dokument drei Fährten hinsichtlich Tonios Identität sowie Angaben zu früheren Fällen mit Tonaufnahmen der Stimmen von drei Verdächtigen und zu den bekannten oder möglichen von Irène Gaspard genannten Orten, allesamt in Paris.

      Er beschließt, bei Marc im Büro nebenan einen Kaffee zu trinken.

      Er sagt Noch so ein ekelhafter Fall.

      — Wir haben es selten mit Nettigkeiten zu tun.

      — Ja, aber ich bin’s leid.

      — Das sagst du jedes Mal. Aber stimmt schon, eine Kindesentführung … Sind die Kassetten heftig?, fragt Marc. (Sein Magen knurrt.)

      — Ich bin noch nicht ganz durch. Aber man hört es.

      — Das Kind?

      — Ja. Und das Schreckliche ist: Wenn ich sie höre, sehe ich sie auch. Es ist, als stünden sie alle drei vor mir, die beiden Raucher, die Stimme kaputt von all dem Dreck, den sie ihr Leben lang von sich geben, misstrauische Stimmen, die nie irgendjemandem vertraut haben … Übel wie nur was. Und das verängstigte Kind.

      Bei Marc hängen Poster an den Wänden, Berge im Sommer, tropische Kokospalmen, eine lächelnde Tahitianerin, die Luftaufnahme eines Schlosses mit Wassergräben.

      — Als ich jung war, sagt Jodel, hingen Poster wie deine auf allen Ämtern in den Büros. Es ist gut, die Tradition der Amtshässlichkeit zu bewahren. Vor allem hier. Komm, du solltest jetzt frühstücken.

      — Woher weißt du, dass ich noch nichts gegessen habe?

      Druckluftgeräusch der Tür. Er gibt sich einen Ruck und lässt zehn Minuten am Stück ablaufen, um zu erfahren, was sich darauf findet, und nicht die Zeit mit der Furcht vor dem Schlimmsten zu verbringen. In der dicken bullaugenähnlichen Luke, die sein Büro erhellt, sieht er plötzlich ein Frühlingsgewitter losbrechen, er stellt sich den Lärm in der Sackgasse vor, wo schwere Tropfen niedergehen, die aus dem Nichts kommen – oder aus einer wilden, aber einzelnen Wolke: Der Himmel ist strahlend blau.

      Irène protestiert, Wir haben doch bekommen, was wir wollten, nicht? Wir könnten aufhören – Das wär total bescheuert, die können noch blechen – Das geht schief. Sie versucht es in allen Tonarten, von Jammern bis Drohen, Tonio schert sich nicht drum, bleibt stur Ich nehm den Jungen mit, wenn du Angst hast – Nein, lass ihn bei mir, er ist noch so klein, aber Tonio schert sich nicht drum, er hat vergessen, was es heißt, klein zu sein, Überleg’s dir nochmal, aber ich glaub wirklich, ich nehm ihn mit, und er knallt die Tür zu. Irène zischt einen Fluch und schaltet das Diktafon ab. In der folgenden Sequenz kommt Tonio in Minute zwölf mit einem Komplizen, vielleicht mit zweien, und nimmt das wimmernde Kind mit, aber man versteht nichts, Irène muss versucht haben, sich dazwischenzustellen, das Rascheln des Stoffs übertönt die Geräusche. Grauenvoll. Er versucht, die Szene nicht zu sehen.

      Gegen elf geht er in sein Stammrestaurant, Les Oiseaux, das zu dieser Zeit menschenleer ist (es hat doch seine Vorteile, wenn man alles früher als seine Artgenossen macht) und vor allem ohne Musik, weshalb er es sofort ausgewählt hat, als er im Labor anfing. Vielleicht auch, weil die Wirtin, eine strenge, aber freundliche alte Frau, leise und ohne Eile spricht, die Stammgäste haben sich darauf eingestellt und unterhalten sich mit gedämpfter Stimme, als müssten sie sich ihrer Ruhe anpassen. Langsam kehrt er durch die nassen Straßen zurück. Der Asphalt glänzt. Das Wasser fließt im Rinnstein.

      Er macht weiter bis zum Ende der dreißigminütigen Aufnahme. Ständige Anrufe von Irène, die Tonio auffordert, das Kind rauszugeben, er weigert sich zu sagen, wo er es versteckt hält, bei Minute achtzehn sagt er, das Kind sei krank, dann ruft er an, um sich Ratschläge zu holen und zu fordern, sie solle Druck auf die Eltern machen, die Klangqualität – mit dem Diktafon aufgezeichnete Telefongespräche – ist extrem schlecht, Jodel entgehen zahlreiche Wörter, er wird alles entrauschen müssen, ja, genau. Aber zumindest kennt er den Inhalt der Dialoge auf dem ersten Band. Er muss allerdings noch überprüfen, ob die Kassette authentisch und keine Montage ist, denn die Aufnahmelautstärke ändert sich so häufig, dass man auch eine Manipulation durch Irène vermuten könnte – er wüsste nicht, warum, aber man muss alles in Betracht ziehen –, und danach wird er eine Fassung ohne Stimmen machen und die Umgebungsgeräusche verstärken, ein Versuch, Tonio und das Kind zu lokalisieren.

      Um punkt fünfzehn Uhr hört er angewidert auf. Es wird schon werden. Er ist als Ingenieur für Geräuschphysik angestellt, nicht als Nationalheld. Zeit, nach Hause zu fahren, Siesta zu halten, um das frühe Aufstehen auszugleichen. Es muss nochmal geregnet haben, ohne dass er es bemerkt hat, über die erfrischte Vegetation rinnen glänzende Tropfen. Jeanne, sein niedliches Double, wird wie immer nach Schulschluss vorbeikommen. Sie hat kleine Ohren ohne Ohrläppchen, die kleben am Schädel, der obere Rand ist leicht gefaltet und ein bisschen spitz, die Windungen fein, man würde nie glauben, dass sie zu gut hört, man hielte sie für gefeit. So viel Anmut tröstet ihn. Um fünf ist sie bei ihm.

       04

      Um fünf ist sie bei ihm. Sie sagt, dass sie das tägliche Treffen mit Jodel um nichts in der Welt verpassen wolle, erst recht, seit er angefangen habe, sie das Hören zu lehren. Das finde sie toll. Es sei so anstrengend, sich vor dem Lärm der Welt zu schützen, das könne er sich nicht vorstellen.

      — Seit einiger Zeit schaffe ich es, meine Ohren zu verschließen, ganz tief in mir zu versinken und zur Schlafwandlerin zu werden. Aber wenn ich danach in das Tohuwabohu zurückkomme, ist es noch schlimmer, dann bin ich stundenlang, ich sage dir, stundenlang wie betäubt.

      Er behauptet, dass die Geräusche angenehmer und weniger aggressiv wären, wenn sie sie unterscheiden, sortieren, in der Umgebung einordnen könnte.

      — Du hörst mehr als die anderen: Also musst du lernen, besser zu hören.

      Er bringt ihr ein Glas Mandelmilch. Ob sie etwas essen mag? Er hat etwas Gutes gekauft. Sie hat unterwegs schon was gegessen, aber sie möchte trotzdem, aus Verfressenheit – Bist du verfressen? Er gibt ihr einen Honigkuchen mit Orangenmarmelade, und sie machen sich auf zu der Lichtung, wo sie arbeiten. Sie sagt, sie übe sich im Großen Lauschen.

      — Hörst du den Grünspecht in dem Baum?, fragt er.

      — In diesem?

      — Ja.

      — Was macht er für ein Geräusch?

      — Er klopft mit dem Schnabel an den Stamm, sehr schnell und regelmäßig, tiptiptiptip, trommelt er.

      — Ich höre ihn.

      — Würdest du ihn wiedererkennen?

      — Ja.

      — Dann konzentrier dich, denn da drüben ist noch einer. Lausch jetzt in die Ferne und such ihn.

      Sie schließt die Augen und konzentriert sich.

      — Kein Grünspecht, sagt sie etwas verwirrt.

      — Versuch’s nochmal, länger.

      Und nach ein paar Minuten lächelt sie. Sie sagt, dass sie seinen zu weit entfernten Grünspecht nicht hört, aber die tschilpenden Vögel, die rauschenden Blätter, den Galopp kleiner Tiere auf dem Boden, Krallen an den Ästen (Eichhörnchen), Knacken (vielleicht Nüsse), Klappern,