Vom Rauschen und Rumoren der Welt. Belinda Cannone

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Название Vom Rauschen und Rumoren der Welt
Автор произведения Belinda Cannone
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783949558047



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Von wo?

      — Sierra Leone.

      — Und die Hähne?

      — Tja …

      — Vielleicht ein Restaurant.

      — Daran hab ich auch gedacht. Aber kennst du viele Gerichte mit Hahn?

      — In Sierra Leone vielleicht …

      Die Antwort wird ihm geliefert, als er ins Oiseaux geht. Auf der Schiefertafel mit den Tagesgerichten liest er Coq au vin. Was ist er doch für ein Idiot! An der Theke trinken drei Männer schweigend Weißwein aus kleinen Gläsern, und eine alterslose Frau hebt regelmäßig die Hand, wie um kraftvoll eine Rede einzuleiten, aber ihr Arm fällt zurück, die Worte kommen ihr nicht über die Lippen. Ihr Nachbar stimmt mit resigniertem Kopfnicken zu, und sein Gesicht sagt So ist es oder vielleicht Da kann man nichts machen. Würde Jodel nicht das irre Gespräch fürchten, das sich womöglich daraus ergäbe, würde er die Frau mit dem Zitat eines Philosophen trösten, dessen Name ihm nicht mehr einfällt: Das Schweigen ist eine Errungenschaft des Menschen. Aber wäre sie damit getröstet? Der Coq au vin ist köstlich. Als er auf dem Rückweg zwei Hunde sieht, die einander herausfordern, denkt er an eine andere Verwendung von Hähnen: den Kampf. Stößt der Kampfhahn einen anderen Schrei aus als sein Bruder im Hühnerhof? In der Audiothek zu überprüfen. Gibt es in Sierra Leone eine Hahnenkampftradition? Ebenfalls zu überprüfen.

      Als er sich vor seinen Computer setzt, die Hände zu beiden Seiten der Tastatur flach auf dem Schreibtisch, das Kinn gesenkt, lustlos, wird ihm klar, dass er die Geschichte nicht mehr aushält und er offensichtlich wieder mal übereifrig war, gewiss, weil zwei Ereignisse zusammentreffen, die Begegnung mit Jeanne, die ihn besonders sensibel für Kinder gemacht hat, und das Material dieses Falls. Aber er ist fast fertig. Für andere bleibt dann die Aufgabe, den Ort des Verstecks zu entdecken, für wieder andere die Aufgabe, Irènes Rolle zu verstehen. Er hat nicht die Mittel, diese Fragen zu lösen. Ingenieur ist er, nicht Ermittler.

      So vergeht der Nachmittag recht schnell, er hört sich Kampfhähne an (ihr Schrei ist nur anders, wenn sie auf dem Kampfplatz sind, was vorauszusehen war, dann wird er widerlich), erfährt nichts Besonderes über eine eventuelle Tradition in Sierra Leone (trotzdem kann es sie geben) und verfasst den Bericht. Die Vielzahl der Fährten, die er nahelegt (man wird ihm ganz sicher sagen, dass er zu viel macht), vermittelt ihm ein Gefühl der Befriedigung und der Pflichterfüllung, und er schließt die Tür zu seinem Büro ein bisschen spät, doch mit der Gewissheit, dass er auf diesen Fall nicht mehr zurückkommen muss. Selbst der Umstand, im Flur dem grässlichen Nörgler zu begegnen, der ihm ein Na, manche haben wirklich Glück, dass sie ihr Nickerchen machen können, wenn die anderen arbeiten, Privilegien, Privilegien zuruft, kratzt seine gute Laune nicht an.

      Im Auto fühlt er sich erleichtert, dass er sich Irène vom Hals geschafft hat (mögen die Schakale ihre Leber fressen), das Leben ist ohnehin schwierig genug – übertreiben wir mal nicht, sein Leben ist nicht sonderlich schwierig, aber gut, immer die Frage nach dem Rumoren der zu brutalen Welt. Von sich selbst und seinem Ärger kann man sich befreien, aber von den anderen, von der Welt: schon viel komplizierter. Er lebt so zurückgezogen, dass er bisweilen den Eindruck hat, im Abseits zu stehen, abseits der Dinge, der anderen, der Informationen. Geschützt im Grunde. Manchmal vermutet er, dass das nicht das wahre Leben ist. Das zumindest hat ihm Zélie immer gesagt. Du siehst nichts, wetterte sie. Aber was er alles hört!

      Er hat gerade noch Zeit für die tägliche Siesta, bevor Jeanne kommt. Kaum sind die Vorhänge aufgezogen, fällt ein Lichtstrahl auf das Bett. Sollte der Regen womöglich aufgehört haben? Er erkennt das wunderbare Plappern einer Amsel. Sehr viel weiter entfernt, vielleicht vierhundert Meter, eine Landwirtschaftsmaschine. Die Hunde des Nachbarn schwatzen. Die Mäuse laufen auf dem Dachboden herum. Alles ist in Ordnung. Ja, genau. Sicher ist es ziemlich schwierig, seine Sachen und Möbel in eine Jurte zu räumen. Gut. Den Ton abstellen, in sich abtauchen, die angenehme Müdigkeit kommen lassen, langsam davongetragen werden. Er wird Jeanne sagen, es ist jetzt entschieden, er wird ihre Mutter besuchen.

       09

      Es ist jetzt entschieden, er wird ihre Mutter besuchen, sagt er zu ihr. Sie versteht nicht recht weshalb. So will es die Höflichkeit, man muss den Eltern der Kinder, mit denen man Umgang hat, vorgestellt werden.

      — Ach ja? Hast du mit vielen Umgang?

      Er gibt zu, dass sie das einzige Kind ist, mit dem er befreundet ist.

      — Ich frage mich, ob du nicht genau dem Wort entsprichst, das mein Vater mir letztes Mal zu erklären versucht hat: Formalist. Würdest du sagen, du bist ein Formalist?

      Er lacht schallend.

      Wenn es was gibt, das sie mag, stößt sie in einem einzigen Wortschwall hervor – abgesehen davon, dass er sie Äffchen nennt, also das mag sie wirklich furchtbar gern –, dann ist es sein beglücktes Lachen, wenn sie ihn mit den Wörtern ihres Vaters überrascht. Sie ist ehrlich, erklärt sie ihm, weil sie ihm verraten hat, dass sie diese Wörter nicht allein findet, sie versucht nicht, schlauer zu wirken, als sie ist. Auf Eines ist sie stolz, ja, das kann sie ihm erzählen, weil es ihr eingefallen ist, als sie vorhin auf den Hörsitzen gearbeitet haben: auf die Sprache der Geräusche, die sie erfunden hat, als sie klein war. Anfangs benutzte sie diese Sprache nur, wenn sie im Bett lag, beim Aufwachen und abends, vor dem Einschlafen. Sie identifizierte im Haus die Stimme ihrer Mutter, das Radio, die Insekten und andere Krabbeltiere, ärgerte sich aber, andere Geräusche, die sie entlang der Rohre und auf dem Dach, hinter den Scheiben, in der Abend- oder Morgenluft wiedererkannte, nicht benennen zu können, tausend Klänge, die ihr inzwischen vertraut waren, obwohl sie ihnen weder einen Ursprung noch einen Namen geben konnte. Wozu war es gut, so viel zu hören, wenn sie keine Wörter hatte, um das zu benennen – es für sich zu benennen? Deswegen hatte sie diese Sprache erfunden, die sich im Lauf der Zeit um Geräusche des hellen Tages erweiterte. Oft vergaß sie den Namen eines kurzen Geräuschs, das sie nie wieder gehört hatte, oder sie hatte noch den Namen, aber nicht mehr die Erinnerung an den Klang. Kruitsch, Zblunn, Zzzirett und das Traiern zählten zu den Klassikern: sehr häufig. Aber das Ruihs hatte sie nur ein einziges Mal gehört, und sie erinnerte sich nicht mehr, wie es geklungen hatte. Das ist ihr vorhin wieder eingefallen, und sie hat zwar eifrig gearbeitet, damit er den Mut nicht verliert, aber gleichzeitig hat sie sich amüsiert, mit geschlossenen Augen Namen für die Geräusche des Waldes zu erfinden, die sie wiedererkannte.

      — Jetzt muss ich dir was gestehen: Als du mir gesagt hast Gut, ich weiß nicht, was du genau meinst, aber bist du wirklich sicher, die drei Geräusche zu identifizieren? und ich dich beruhigt habe – also, da war ich in Wirklichkeit überhaupt nicht sicher. Als du gesagt hast: Volltreffer! Ich glaube, ich höre dieses rzhu und dieses tscheh wie du, war ich zufrieden, und doch … es ist so schwer, sich über das Hören auszutauschen. Was man sieht, kann man zeigen, aber was man hört?

      — Du hast recht: Es fehlt uns an Wörtern, um es zu erklären, und dadurch weiß man nicht, was der andere gehört hat.

      — Aber warum? Das ist doch seltsam, oder?

      — Vielleicht, weil man lange Zeit nicht in der Lage war, Geräusche festzuhalten? Einen Gegenstand konnte man immer schon nach Belieben betrachten und beschreiben oder sogar malen – während ein Geräusch flüchtig ist, man kann es nicht lange genug wahrnehmen, um die Worte dafür zu finden. Aber gerade unter diesen Bedingungen zu versuchen, sich über das Hören auszutauschen, ist doch ziemlich schön, oder?

      — Sehr schön. Und das unglaubliche Geschenk, das du mir versprochen hast, die Große Stille? Du hast gesagt, du würdest mich die Leere hören lassen, überhaupt keine Töne mehr, totale Stille. Ich kann das einfach nicht glauben.

      Dass alle äußeren Geräusche ausgesperrt sind – diesen Zustand kennt sie nicht. Den Kopf unter dem Kissen, die Finger in den Ohren, das ja. Aber der Lärm geht durch alles hindurch, er schleicht sich heran, dringt ein, verformt sich – und hält inne. Die Große Stille – wirklich?

      — Du wirst sehen.