Название | Vom Rauschen und Rumoren der Welt |
---|---|
Автор произведения | Belinda Cannone |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783949558047 |
— Du hast gehört, was ich wollte, die Zwischengeräusche. Waren es zu viele?
— Viel zu viele.
— Noch einen Honigkuchen?
Auf der Lichtung dienen ihnen zwei Baumstümpfe als Hocker. Sie nennt sie Hörsitze und findet, dass sie zwei Dryaden gleichen, wenn sie dort würdevoll und konzentriert lauschen. Jodel staunt, was für Wörter sie kennt. Die hat sie von ihrem Vater, sagt sie, jedes Mal, wenn er sie besuchen kommt, bringt er ihr neue bei.
— Lebt er nicht bei dir?
— Nein, er lebt von meiner Mutter getrennt. Und bei jedem Besuch schenkt er mir ein paar Wörter. Machen wir weiter mit dem Großen Lauschen?
— Versuch mal die Biene zu hören, dort, auf dem großen Engelwurz.
Sie schließt die Augen und hört auf zu atmen, die Hände vor dem Bauch wie um zwei Kugeln geschlossen.
— Ich höre sie, flüstert sie.
— Und siehst du sie?
Sie öffnet irritiert die Augen: Ich soll sie auch sehen?
— Sie dir vorstellen. Das hilft, um besser zu hören.
Sie gehen zu der Pflanze. Jeanne beobachtet die geschäftige Biene.
— Jetzt hab ich’s, ich werde mich an sie erinnern.
— Und du wirst sie besser hören. Je besser du dir vorstellst, was du hörst, desto weniger wird es dich verletzen. Jetzt müssen wir nach Hause.
— Ja. Mama fragt sich bestimmt, wo ich bin.
— Kann ich sie bei Gelegenheit kennenlernen?
— Na ja! Von mir aus gern, aber du wirst es bedauern.
— Warum?
— Sie ist aufdringlich.
— Äffchen!
— Aber es stimmt: Sie ist aufdringlich. Und sie ist taub.
— Ach ja?
— Na ja, also, sie ist wie alle: Sie hört nichts.
Und auf dem Rückweg erklärt sie ihm bunt durcheinander, ohne einen Hauch von Befangenheit (er mag ihre Unbefangenheit, ihre schlichten und klaren Sätze sehr), dass sie ihn auf jeden Fall wirklich gern hat, dass er ihr sehr nützliche Sachen beibringt, dass er für immer, immer ihr Freund ist. Als sie die Landstraße erreichen, schiebt sie ihre kleine Hand mit den glänzenden Nägeln in seine, und er fühlt sich unglaublich stolz.
05
Er fühlt sich unglaublich stolz, denkt er heute Morgen, sich mit einem kleinen Mädchen angefreundet zu haben, einem außergewöhnlichen Mädchen, das es verdient, nicht durch den Geräuschdschungel zu irren, wie er selbst in seiner Kindheit lange vom Getöse misshandelt wurde, während er sich für seltsam, unnormal empfindlich hielt – warum litt er unter dem Lärm und die anderen nicht? warum hatte er solche Mühe, die Geräusche zu unterscheiden? seinem Gesprächspartner zuzuhören, ohne im Umgebungslärm zu ertrinken? warum lebte er so in Verwirrung? warum hatte er die ganze Zeit Angst? –, bis er begriff, dass er nicht die gleichen Ohren wie die anderen hatte, dass er besonders war, aber dass er Ordnung in seine Wahrnehmung bringen konnte, nicht alles an sich heranzulassen brauchte, dass sich das Grauen zurückdrängen ließ. Ja, das Grauen. Die Zeit der Kindheit war die Zeit des Grauens, weil er alles hörte, ohne etwas zu identifizieren, weil er mehr hörte, als sah; und weil er nichts sah, entschlüsselte er nichts und fühlte sich deshalb ständig in Gefahr, fürchtete vage, der Lärm könnte sich materialisieren und ein Monster loslassen, das ihn zerstören, verschlingen würde – ja, damals rauschte die Welt von starken und nicht erkannten Gefahren.
Er würde Jeanne gern methodisch lehren, wofür er ohne Hilfe Jahre gebraucht hat, sie dazu bringen, ihre akustischen Wahrnehmungen zu beherrschen – es würde immer noch genug Chaos ringsum bleiben. Als er ihr diesen Plan mitgeteilt hat, hat sie nachdenklich geantwortet, Das wird gut. Ich hatte nicht gedacht, dass es möglich ist. Aber weißt du, hat sie hinzugefügt, bis jetzt habe ich eher das schrecklich gefunden, was ich gesehen habe.
Er setzt Wasser auf, bummelt ein bisschen rum, die Aussicht, zu den Stimmen der Gauner zurückzukehren, begeistert ihn nicht gerade, er denkt wieder an das Große Lauschen gestern – wenn sich Jeanne konzentriert, die Hände vor dem Bauch wie um Kugeln geschlossen, kneift sie die geschlossenen Augen zu, und das macht sie unglaublich hübsch, chinesisch. Er muss wirklich ihre Mutter treffen, bevor sie ihm die Bullen schickt, die ihn fragen werden, was er mit der Kleinen im Wald treibt – Lauschen. – Ach ja? – Ich bin einer von Ihnen – Ja, ja, wir sind alle Brüder – Sie hat nie mein Haus betreten – Die Wälder sind tief.
Der Himmel macht weiter mit seinem Theater. Niemand weiß, wann diese melodramatischen Gewitter aufhören.
Er muss nur auf die Enter-Taste drücken, und Irène taucht auf, pünktlich zur Stelle, selbst tot wäre sie da, was für eine Idee, Irène sterben zu lassen; aber für Jahrhunderte im Computer gefangen ist sie, nicht übertreiben, sie verströmt jetzt schon die Nostalgie von alten Fotos, Schwarzweißfotos, wie keiner sie mehr macht, höchstens noch ein paar Profis, ein paar Künstler. Ihre Stimme auf der Diktafon-Kassette ist rau und schäbig. Manche leben im Kontakt mit der Schönheit, Jodel nicht – die Gefahr besteht nicht, wenn man für die Polizei arbeitet. Diese Diktiergeräte mit Kassetten sind selten geworden, veraltetes Material, ja, das ist es, Irènes gierige Stimme hallt in der Ewigkeit, Pass auf, später Kümmerst du dich? und noch weiter Morgen sieben Uhr, Tonios kalte Stimme antwortet ihr kaum, Mach keine Witze und Bin nicht bescheuert, und Irène wieder Die Eltern stellen sich tot, sieh an, da sind die Toten, sicher aus Angst, aus Sorge, das Kind ist fünf, so klein, man würde viel dafür geben, dass es nicht in Irènes Geschichten verwickelt wäre, man möchte sich davon abwenden wie von einem widerlichen Anblick, und weiter der erbärmlich armselige Dialog, Pass trotzdem auf – Hmm – Heult er nicht zu viel? – Nur wenn er mich sieht, der Rotzbengel! – Pass auf, in einem anderen Leben wäre er Geräuschejäger, er würde aufs Meer fahren, um die Krabben laufen, die Delphine singen, die Brandung rauschen oder in den Flüssen die silbrigen Hechte gleiten zu hören – heute aber klammern sich die schlimmsten Geräusche der Welt an seine Ohren.
Er hört das Band noch einmal ab und konzentriert sich auf die Umgebungsgeräusche, um Hinweise auf das Versteck zu finden. Er hört erneut das Pass auf, mit dem gleichen Erstaunen – diese Banalität der Worte, die Dürftigkeit der Gefühle, das Kind weint, und Irène fällt nichts anderes ein, als Pass auf zu sagen. In der fünfundzwanzigsten Minute fader, sachlicher Dialoge, Wann – Sieben Uhr dreißig – Isst er was? – Halt dich raus, vernimmt er auf Tonios Seite, wie er glaubt, ein ungewöhnliches Geräusch im Hintergrund. Er lässt es nochmal laufen: ein Hahn. Guckt auf die Begleitnotiz: Tatort: Paris – ein Hahn in Paris?
Er legt eine dritte Datei an, UMGEBUNG, in der er nur die Hintergrundgeräusche behalten will. Etwas Methodik, um die Arbeit ernsthaft anzugehen. Ab morgen wird er abwechseln: Transkription der Dialoge, Identifizierung der Stimmen, Beschreibung der Orte. Genau. Ist weniger schlimm. Er beginnt zu arbeiten. Im Magma der aufgenommenen Welt Klangeinheiten einzugrenzen macht mehr Spaß – weniger brutal. Er stellt fest, dass man schon in der siebzehnten Minute einen Hahn hört, aber weit weg. In der zweiundzwanzigsten redet eine Frau leise, aber eindringlich auf Tonio ein, während er mit Irène über die Gesundheit des Kindes spricht. In der fünfundzwanzigsten bewegen sich Leute hinter ihm, vielleicht kochen sie. Von der neunundzwanzigsten bis zum Ende hört man in der Ferne eine Baumaschine, ja, ganz sicher.
Während des Essens im Oiseaux hat er plötzlich eine so blitzartige Eingebung, dass ihm die Gabel aus der Hand fällt, eher eine Frage, deren