Vom Rauschen und Rumoren der Welt. Belinda Cannone

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Название Vom Rauschen und Rumoren der Welt
Автор произведения Belinda Cannone
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783949558047



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werde. Weiß die Dame überhaupt von seiner Existenz? Nein. Warum?

      — Hab ich dir doch gesagt: zu aufdringlich.

      Erstaunt verzieht er das Gesicht.

      — Du siehst mich an wie jemand, der keine aufdringliche Mutter hatte, das ist alles.

      Er besteht darauf, dass sie morgen dieses Treffen organisiert mit … – wie heißt sie eigentlich?

      — Jaumette. Ja, schon gut, schon gut, ich weiß, wir haben alle Vornamen mit J. Tja, siehst du, genau das gehört eben zu ihrer Art, aufdringlich zu sein – dass sie mir einen Vornamen verpasst hat, der ihrem ähnelt. Und das Schlimmste weißt du noch nicht mal, aber das darf ich dir nicht sagen.

      — Und du hast mir nicht gesagt, was sie von Beruf ist.

      — Musikerin.

      — Musikerin! Was für eine Ohrenfamilie! Welches Instrument?

      — Geige. Sie spielt im Orchester der Region. Gut. Ich sage ihr nachher, dass du morgen vorbeikommst.

      Sie zögert, aus dem Auto zu steigen, sie hat noch etwas zu sagen. Neugierig wartet er ab. Dann traut sie sich. Macht es Jodel Spaß, zu schwindeln oder etwas zu verheimlichen? Niemals. Aber vielleicht braucht er sich ja nie zu schützen? Denn in vielerlei Hinsicht ist die Situation eines Erwachsenen einfacher, hat sie häufig gedacht. – Genau. – Aber weniger aufregend. – Ohne jeden Zweifel. Also sie belüge regelmäßig ihre Mutter, ohne Schuldgefühle (zu aufdringlich) und sogar mit großer Freude. Sie erzähle ihr die unmöglichsten Sachen, wirklich zum Totlachen. Vor allem natürlich solche, die mit dem Hören zu tun hätten. Und Jaumette, die sehr wohl ein besonderes Ohr bei ihrer Tochter bemerkt habe, ohne aber zu ermessen, wie besonders, lasse sich auf den Arm nehmen. Im Übrigen sei es Jodel gewesen, durch den sie sich überhaupt erst ihres seltsamen Hörvermögens bewusst geworden sei. Bevor sie ihn getroffen habe, habe sie nur gewusst, dass sie nicht wie die anderen hört, ohne aber irgendetwas Genaues zu diesem Thema zu denken. Jetzt wisse sie es: Hyperakusie.

      — Jetzt, wo ich dir von meiner Freude am Schwindeln erzählt habe, darfst du mich bei meiner Mutter natürlich nicht verraten.

      — Kein Wort.

      — Hm! Die Erwachsenen sind manchmal so blöd solidarisch. Ich weiß noch nicht, wie weit ich mich auf dich verlassen kann.

      Er lacht, als sie aussteigt.

      — Ach, sagt sie erstaunt, der Himmel ist heute Abend endlich wolkenlos.

       10

      Der Himmel ist heute Abend endlich wolkenlos, und er erkennt schon von weitem die Gestalt, die ihn vor seiner Haustür erwartet. Seine erste Regung (Schwanzflossenklatschen eines silbrigen Fischs, der entwischt) ist große Freude.

      — Grüß dich, Bulle.

      Jodel hört in der rechten Tasche des Besuchers das Prickeln eines Getränks mit Kohlensäure und in der linken das Quietschen. An der Mauerecke verstummt eine Grille.

      — Grüß dich, Mongole. Ich heiße Jodel.

      — Nenn mich Ulan.

      Während Jodel ihm so selbstverständlich die Tür öffnet, als wären sie verabredet – Ich glaube, du hast noch ein bisschen Reis –, sagt er, er fühle sich eigentlich nicht wie ein Bulle, so wie er es versteht, und übrigens sei er auch keiner, er sei Ingenieur. Aber es wäre irgendwie lächerlich, ihm die Feinheiten der Verwaltungskategorien zu erklären.

      — Du bist doch wohl nicht zu Fuß aus der Stadt zurückgekommen?

      Er wärmt den Reis auf (kleiner rachsüchtiger Gedanke an Zélie) und erklärt ihm den Fall Irène Gaspard und die Arbeit, die er macht. Hält Ulan ihn für einen Knecht des amerikanischen Imperialismus, weil er hilft, die Entführung eines Kindes aufzuklären?

      — Du stellst die Frage falsch. Das Problem ist nicht, was man konkret macht, sondern ob man drin ist oder nicht. Ich bin draußen und versuche, drinnen Chaos zu stiften.

      Jodel lacht. Das ist etwas pauschal. Aber in Zeiten, wo sich in jedem Büro, an jeder Straßenecke und in jeder Fernsehsendung mindestens zwei bezahlte Rebellen und drei angestellte Aufrührer verbergen, ist ein so authentisch wilder und ungebundener Typ wie Ulan auf jeden Fall eine angenehme Überraschung. Allerdings steht keineswegs fest, dass er nicht tatsächlich gefährlich ist.

      — Wie stiftest du denn Chaos?

      — Das ist meine Sache.

      — Beunruhigend.

      — Nicht doch … Ich bin ein Schwadroneur. Ich rede und säe Sturm.

      — Schwadroneur heißt aber etwas anderes.

      Ein toller Plauderer ist er allerdings, sehr gut informiert, und seine – detaillierten – Nachrichten aus der Welt gehen von den Beziehungen zwischen China und Japan bis zum Vater aller Bomben.

      — Das ist eine russische Bombe, so stark wie eine Atombombe, durch die Druckwelle zerstört sie in zwei Etappen.

      — Hältst du dich für den Boten der Apokalypse?

      — Nein, aber ich versuche dir zu erklären, dass deine Welt gerade zerbröckelt. Und da eh alles im Arsch ist, fördere ich den Untergang, indem ich die größten Chaosstifter eurer Welt unterstütze. Das Morgen gehört euch nicht mehr.

      — Komm, nimm noch ein bisschen Reis. Ich bin sicher, Mongolen lieben Reis. Wo schläfst du denn in der Stadt?

      — Willst du das wirklich wissen?

      — Reine Neugier.

      — Gib mir Reis, aber nicht zu viel. Du findest mich durchgeknallt, oder?

      — Ein bisschen.

      — Und du bist naiv, mein Guter.

      — Es ist nett, dass du nochmal zum Essen zu mir gekommen bist.

      — Ich mag dich eben.

      Dann schweigen sie eine Weile. Das wundert Jodel nicht. Er weiß, dass Männer, wenn sie sich ihrer gegenseitigen Zuneigung versichern, danach stumm bleiben müssen, um den allzu gewichtigen Worten Zeit zu lassen, sich in der Nachtluft aufzulösen.

      In diesen friedlichen Minuten denkt Jodel, dass Ulan vielleicht gar nicht so gefährlich ist, dass er vielleicht wirklich nur ein Schwadroneur ist. Er sagt es ihm.

      — Ich bin einfach nur wütend, antwortet Ulan. Jeden Morgen wache ich wütend auf.

      — Andere werden mit dieser Wut beim Aufwachen zu Serienmördern.

      — Na siehst du, ich bin gar nicht so schlecht. Ihr merkt einfach nichts.

      — Sag nicht ihr, wenn du mit mir sprichst.

      — Doch! Du bist wie alle Bürger der Reichenwelt.

      Und wieder legt er los: Jodel erfährt, dass die Russen und die Chinesen durch den Handel mit ihren Rohstoffen derart viel Geld haben, dass sie bald alle westlichen Banken und großen Unternehmen aufgekauft haben werden. Ulan sagt, das seien Staatsfonds, und die chinesischen beliefen sich aktuell auf Tausende Milliarden Dollar – Das sind Summen, die mir gar nichts sagen: zu riesig – und mit diesem Geld kauften sie gewaltige Beteiligungen an den Unternehmen, mit denen sie bald die Politik im Westen beeinflussen würden.

      — Ist das klar? Ihr habt zwar die Weltwirtschaft, so wie sie jetzt existiert, erfunden, aber die anderen haben das Geld, deswegen sind sie bald die Herren in eurem Haus. Die Globalisierung, die euch solche Angst macht, wird von diesen Riesenmächten untergraben, die dabei sind, die Macht zu übernehmen, und dann werdet ihr euch nach der ungeordneten Freiheit des Marktes zurücksehnen. Ich sage dir, sogar eure Ängste sind falsch, und ihr seid auf dem Baumweg.

      — Wir sind auf dem Holzweg, dem Holzweg. Ich frage mich, ob ich ein guter Gesprächspartner für dich bin … Noch ein bisschen Reis?

      —