Vom Rauschen und Rumoren der Welt. Belinda Cannone

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Название Vom Rauschen und Rumoren der Welt
Автор произведения Belinda Cannone
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783949558047



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Weiler zu, von Zeit zu Zeit peitscht ein Zweig ihren Arm, sie spürt nichts, überspringt Büsche und Steine, ihre Waden durchschneiden die Luft. Sie weiß nicht, wie sie es stoppen kann, ihr irres Rennen geradewegs ins Nirgendwo.

       02

      Ihr irres Rennen geradewegs ins Nirgendwo hat sie zu ihm geführt, der vor seiner Tür in der Sonne faulenzte, die Augen geschlossen – seit dem Erwachen der Eindruck, ein wässriger Film bedecke die Welt, da kann man auch gleich nach innen schauen –, und neugierig auf die kleinen, hastig näherkommenden Schritte lauschte.

      Mit verstörter Miene hatte sie den Weiler erreicht, und als sie an seinem Haus vorbeilief, hat er sie gestoppt. Erstaunliche Intuition, wundersamer Zufall, es ist, als hätte sie ihn, Jodel, gesucht. Er musste sie sanft am Arm festhalten, ihre Beine wollten weiter ins Leere treten – schließlich sank sie vor ihm zusammen.

      An diesem Tag ihrer ersten Begegnung haben sie nur von den Fuchswelpen gesprochen. Sie hat ihm die Szene in allen Einzelheiten geschildert. Er war erstaunt über ihre Genauigkeit und Klarheit. Sie sagte Zum ersten Mal tut mir etwas weh, das nicht mir passiert ist. Sie suchte in seinem Blick zu erkennen, ob er sie richtig verstand, und er mochte ihre großen fragenden und besorgten Augen. Sie überlegten gemeinsam. Die Verantwortlichen waren Kinder, also Ihresgleichen, und deshalb ging ihr die Verletzung so nahe. Keine Erwachsenen oder gar Bauern, die einen Grund gehabt haben könnten, was immer der auch wert gewesen wäre. Nein. Ein willkürlicher Akt. Begangen von Ihresgleichen. Es war also tatsächlich ihr passiert, irgendwo in ihr.

      Jeanne gefiel ihm sehr, so mager und wach. Mit gespitzten Ohren. Ein kleines Paket aus Muskeln und Energie. Von Zeit zu Zeit schluchzte sie, dann beruhigte sie sich wieder. Sie war vielleicht elf oder zwölf.

      Erst als Jeanne zwei Tage später wiederkam, begriffen sie. Sie trank ein Glas Mandelmilch vor seiner Tür, sagte ein bisschen beunruhigt Da weint ein Baby und deutete in eine Richtung. Er antwortete Ja, das ist Joseph. Dann, ein paar Sekunden später wurde ihm bewusst, dass er stets der Einzige gewesen war, der Joseph in einem dreihundert Meter weit entfernten Haus weinen hören konnte. Wundersamer Zufall, bemerkenswerte Intuition, war eine kleine weibliche und kindliche Doppelgängerin zu ihm gelangt, um sein Leid zu teilen?

      Vorsichtig befragte er Jeanne: Ob sie gut höre? Oh, sehr gut. Ob sie besser höre als andere? Ja, den Eindruck habe sie ständig, Aber ich habe mir angewöhnt, nichts zu sagen, die Leute glauben mir nicht oder sehen mich komisch an, ich bin immer die Erste, die warnt, wenn ein Kind weint. Und Insekten, kleine Tiere? Ja, sie höre alles, alles, aber ein bisschen durcheinander. Er wischte sich eine kleine Träne von der Wange. Jeanne ging das nicht so nahe: So jung, ahnte sie nicht, wie selten Menschen ihrer Art waren.

      Seitdem kommt sie täglich am späten Nachmittag. Verbundenheit von Versehrten. Sie besucht ihn nach der Schule, mit ihrem lebhaften Gang eines Nymphenkindes, er macht ihr eine Mandelmilch, und sie reden über ihren Tag. Nie mehr über die Fuchswelpen. Um die Geräusche, die sie belästigen, zu zähmen, bringt er ihr bei, das Pochen der Ameisenkolonnen zu mögen, ihre vielfältigen, ruckartigen Schritte, die ganz sacht sind und ganz fern, den langsamen Gang der Skarabäen, so schwer, dass man selbst einen einzelnen auf der Straße laufen hört, und das Zischen der Nattern, fein wie ein Lüftchen im Laubwerk. Aber die Geräusche vermischen sich: Sie muss lernen, die Feldtiefe zu berücksichtigen, den Abstand zwischen den einzelnen Geräuschen zu bestimmen und sich erst auf das eine und dann auf das andere zu konzentrieren. Viel Arbeit. Und das braucht Zeit. Er hat Zeit. Sie ist so klein.

      Der Schleier vor seinen Augen hat sich verflüchtigt, und die Welt ist beim Erwachen wieder klar – er ist also gar nicht so sehr gealtert. Ist das Jeanne zuzuschreiben? Er hat keine Ahnung. Er sieht besser. Oder zumindest hat er das Bedürfnis wiedergefunden, sich umzuschauen – das Leben ist nicht mehr nur seine Ohrmuschel.

       03

      Seine Ohrmuschel bereitet ihm heute Morgen, als er in der Sackgasse vor dem Labor parkt, keinerlei Vergnügen. Ein Mopedmotor, der die kühle Luft zerreißt, weckt Mordgelüste. Nach der Stille seines Weilers fällt ihm die Durchquerung des Städtchens immer schwer: der Eintritt in den Lärm. Deshalb kommt er sehr früh, noch vor Sonnenaufgang, vor all dem Krach. Zum Glück liegt das Labor nicht in der großen Stadt. Sobald er die Tür seines Büros hinter sich schließt, ein leichtes Druckluftgeräusch, beruhigt ihn der schalldichte Raum. Die Geräte schlummern in vertrautem Durcheinander, Blätter mit Notizen liegen ordentlich gestapelt auf dem Schreibtisch, die Teekanne hält sich bereit. Ruhe des äußeren Scheins. Er setzt Wasser auf. Heute hat er zwei Diktafon-Kassetten zu analysieren. Ein Betrugsfall, wenn er sich recht erinnert. Gut. Er kopiert die erste auf den Rechner, dann legt er sie in den Schrank mit den Asservaten. Jemand wird sie abholen, um sie zu versiegeln.

      Und nun kommt trotz allem, trotz aller Routine, der Moment, in dem er auf Stille und Frieden verzichtet und sich anschickt, dem Elend der Welt eine Stimme zu geben, der Moment, in dem er sich darauf einlassen muss. Er setzt sich, schenkt sich eine Tasse Tee ein, in einer Sekunde wird die Aufnahme ihre Miasmen freigeben, werden die übel riechenden Ausdünstungen seine Ohren überfallen, er täte besser daran, sich zunächst die Akte durchzulesen. Er setzt die Kopfhörer auf, sein Zeigefinger drückt die ENTER-Taste, und der Bildschirm füllt sich mit farbigen Diagrammen, Irène? Ich bin’s, mach auf! (Raucherstimme, weiter weg, körnig, Schloss-, dann Türgeräusch) Ja was, hast du dich verrammelt? (er redet leise) – Quatsch, ich hab dich erwartet, Mann (Irène raucht ebenfalls, Schritte im Raum) – Mach schon, was wolltest du sagen? (unregelmäßige Geräusche, wahrscheinlich Reibung am Mikrophon des Geräts in einer Hosentasche) – Find deine Idee nicht gutHast du schon gesagt. Wirst dich damit abfinden. So. Die Eindringlinge haben seine innere Bühne erobert.

      Er unterbricht das Abhören. Vorhin hat er im Morgenlicht einen roten Pfeil über die Straße schießen sehen – er dachte Ein Fuchs, aber er war sich nicht sicher, zu stark von der jüngsten Geschichte beeinflusst und den Glanz der Sonne auf dem Fell hat er noch lange auf der Netzhaut behalten. Sollte es doch noch so viele Füchse geben? Ein Rest Wildnis. Irène? Ich bin’s, mach auf! Ja was, hast du dich verrammelt?Quatsch, ich hab dich erwartet, MannMach schon, was wolltest du sagen?Find deine Idee nicht gutHast du schon gesagt. Wirst dich damit abfinden. Wo ist es? Heute Vormittag Faulheit, akusmatische Faulheit. Er macht eine Kopie der Aufnahme und beginnt, in der neuen Datei, die er DIALOGE nennt, die Nebengeräusche zu unterdrücken, um nichts als die Stimmen herauszufiltern. Die ziemlich hässlich sind. Ohne Güte. Misstrauisch, würde er sagen. Vor allem der Mann. Wie gewohnt zieht zunächst der Sinn der Worte seine Aufmerksamkeit an sich. Er muss diese Anziehungskraft überwinden, um den Rest zu hören. Wo ist es? Wo ist was? Er kann sich einfach nicht erinnern, was man ihm über den Fall gesagt hat, er muss die Akte durchlesen, irgendwo in seinem Stapel. Er hat sie an dem glanzvollen Tag seiner Begegnung mit Jeanne bekommen, und alles, was nichts mit dem Mädchen zu tun hatte, ist in Gleichgültigkeit versunken. Seitdem ist jeder Tag leichter, auf ihr Treffen ausgerichtet, und er fühlt sich weniger schwermütig als zuvor. Marc klopft an seine Tür.

      — Guten Morgen, wie geht’s?

      — Danke und selbst?

      — Alles ruhig. Kann ich die Kassetten mitnehmen?

      — Nur die erste, du weißt ja, wo sie ist.

      — Okay, bis später.

      Er geht ein Stück zurück, säubert achtundzwanzig Sekunden Aufnahme und macht weiter. Es ist bei mirWo?Ist doch egalIch glaub, ich nehm es mitIch glaub nicht (Rascheln von Stoff, sie bewegen sich, Geräusch einer aufgedrückten Tür) – Ach, da versteckst du es. In der Überraschung packt ihn Brechreiz: Das Stöhnen zerreißt die Luft im Büro, obwohl es ganz leise ist. Er unterbricht, springt auf und läuft durch den Raum. Setzt sich wieder. Was er nicht ertragen würde, ganz und gar nicht ertragen würde: Wenn dieses Klagen, denn er ist sich fast sicher, dass es ein Klagen ist, aus der Kehle