Название | Red House |
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Автор произведения | Andreas Bahlmann |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862870752 |
Die Leute standen einfach nur sprachlos gaffend da und trotz der ganzen Geräusche war alles seltsam ruhig.
Irgendjemand versuchte noch, mir von hinten die Augen zuzuhalten, aber es war zu spät, ich hatte alles mit meinen Augen gesehen und sollte dieses Bild nie wieder vergessen. Ich weiß bis heute nicht, ob der Mann den Unfall überlebt hat. Ich habe damals aber gespürt und mit meinem kindlichen Geist erfahren und erleben müssen, dass das Nahen des Todes oder seine Gegenwart eine verdammt einsame Sache ist.
Dieses Erlebnis liegt nun schon über fünfzig Jahre zurück – ein über ein halbes Jahrhundert mich begleitendes, unerzähltes Bild …
Meine Tochter wusste nichts von jenem schon so lange zurückliegenden, tragischen Erlebnis, als ich mit ihr in Begleitung ihrer besten Freundin, der schönen holländischen Stadt Groningen einen Besuch abstatte.
Eigentlich heißt es ja korrekterweise »niederländisch«, aber früher nannten wir die Niederlande immer Holland, auch wenn es nicht richtig ist. Ich finde aber, dass »Holland« viel schöner und auch liebevoller klingt als »Niederlande« und irgendwie passt »Holland« meiner Meinung nach auch besser zu unserem kleinen, bunten Nachbarland.
Die Mädchen shoppen und durchforsten fröhlich plappernd die Geschäfte der Groninger Innenstadt und die Verkaufsstände auf dem »grooten Markt«.
Am Rand stehen dort große, treppenartige Sitztribünen. Wir setzen uns auf einer der Stufen hin, essen etwas und beobachten das Treiben um uns herum. Irgendetwas erscheint mir jedoch eigenartig und dann ist es auch schon soweit: zielsicher schweben drei beseelte und selig lächelnde, ja geradezu aufdringlich beseelt lächelnde junge Menschen auf mich zu und begrüßen mich auf Englisch:
»Hi, there is something special in your appearance and we would like to talk with you about God …«
»God? – Oh no! I don't wanna talk about God with you guys! Leave me alone!« (Übersetzung: »Hi, da ist etwas Besonderes in deiner Erscheinung und wir würden gerne mit dir über Gott reden …« – »Gott? – oh nein! Ich will mit Euch nicht über Gott reden! Lasst mich in Ruhe!«)
Die Mädchen lachen sich kaputt beim Erleben dieser Situation.
Diese Gottesanbeter hatten mich aber auch wirklich gezielt unter den ganzen anderen Menschen herausgepickt. Ich hatte mein ganzes Leben schon so viel über und von Gott gesprochen, sprechen und hören müssen, das muss dann noch für 'ne ganze Weile reichen. Ich möchte mich dann doch lieber, uneingeschränkt und liebevoll dem höchst Irdischen, teuflischen Blues hingeben, ohne Engelsgeflöte und Glaubensbekenntnisse aus erleuchteten Gesichtern.
Die Gesichtszüge der drei Wander-Prediger entgleisten, aber sie verstanden sofort und vor allen Dingen widerspruchslos und ließen mich augenblicklich in Ruhe, meine irdische Botschaft war – Gott sei Dank! – unmissverständlich ausgefallen.
Die Mädchen beschließen, ihre Shoppingtour fortzusetzen und ich schlendere alleine weiter über den »grooten Markt«.
Von irgendwoher ertönt vom Wind getragene Musik und ich gehe auf die Suche nach der Quelle.
An einer kleinen Verkehrsinsel am Rande des Marktplatzes werde ich fündig.
Ich bleibe eine ganze Weile bei »Moti«, dem Straßenmusiker stehen und höre seinen Song-Interpretationen zu Hank Williams, Bob Dylan, den Eagles, den Beatles und Rod Stewart zu. Moti spielte eine 12-saitige Westerngitarre, die er mittels autobatteriebetriebenen Verstärker elektrisch verstärkt. Moti sitzt auf einem Hocker, mit dem rechten Fuß bedient er eine kleine, offene Bassdrum, mit dem linken Fuß eine HiHat. In einer Hals-Halterung für Mundharmonikas klemmen ein Mikrofon und ein Doppel-Kazou, auf dem er manchmal Solo-Melodien trötet.
Moti hat eine lange, graugelockte Haarmähne, unter der ab und zu ein Ohrring hervorschimmert, und er trägt einen »Musketier-Bart«, mit Schnäuzer und Bartdreieck unter der Unterlippe, wie in den Mantel- und Degen-Filmen.
Moti lächelt mir zu und spielt und spielt und spielt und genießt meinen Einzel-Applaus.
Er freut sich, dass ihm jemand zuhört, sich Zeit für ihn und seine Musik nimmt und nicht einfach an ihm vorbeigeht.
Moti schafft es – wie viele andere Straßenmusiker auch – jedes, aber auch wirklich jedes Lied im gleichen Groove zu spielen … dadda – zzt – dadda – zzt … Aber es klingt nie tölpelhaft, Moti verbreitet einfach eine positive Stimmung um sich herum, die Songs für sich geradezu »skrupellos« passend gemacht.
Mit einem »take care, man …« verabschiede ich mich von Moti, ich treffe die Mädchen wieder und wir betreten das Disco-Hotel-Café »de drie Gezusters«, wo wir das hausgemachte »Appelgebaak met slagroom« genießen.
Nach einer »Chillstunde« bei Smartphone, Cola, Saft, Kaffee und Kuchen, gehen die Mädchen wieder auf Shoppingtour.
Ich stehe auf und wechsel den Tisch und gleichzeitig wechselt auch – endlich! – die Musik.
Aus den Lautsprecher-Boxen an der Decke ertönt »Hound Dog« von Elvis, endlich was zum Versinken oder zumindest zum gerne Hinhören, nachdem mein Kaffee- und Kuchengenuss zuvor über eine Stunde lang mit immer wieder sich wiederholenden Songs aus Stevie Wonders »Songs from the key of life« – Album bearbeitet worden war.
Und ich bin an einen ganz bestimmten Tisch gewechselt.
An diesem Platz, in diesem Laden saß ich vor über dreißig Jahren schon einmal. Ich kann und werde diese Situation nie vergessen, weil es selten Momente gab, wo Glück und Verzweiflung für mich so nah beieinanderlagen.
Ich hörte damals ständig »Sweet Virginia« von den Stones aus dem »Exile on Mainstreet«- Album, für mich eigentlich bis heute das stärkste Lied dieses Meisterwerk-Albums der Rolling Stones. Diese Eingangs-Melodie, dieser Garagensound und dann das unnachahmliche Reinrumpeln von Charlie Watts in diesen Song!!
Später, mit »Faraway Eyes« auf dem »Some Girls« -Album ist den Stones übrigens noch so ein relativ unbeachteter, aber umwerfender und kaum gespielter B-Seitenhit gelungen, ein echter Grinsgesicht-Song.
Zurück zum »de drie Gezusters«, denn vor über dreißig Jahren saß ich genau hier, mit meiner damaligen Freundin, die ich über alles liebte, an diesem Tisch und ich war so unglaublich glücklich, …aber »Red House« schob sich unaufhaltsam, unaufhörlich und schon körperlich schmerzhaft dazwischen, zwischen uns. »Red House« bohrte erste Risse in diese Liebe hinein. Ich spürte unbestimmt und von ganz weit und tief her, dass diese, unsere Liebe zum Scheitern verurteilt war und ich wehrte und stemmte mich innerlich so sehr dagegen. Aber es gelang mir nicht, es war, als ob mich irgendeine, von mir nicht zu steuernde Kraft antrieb, weitertrieb und wegtrieb, … unaufhaltsam auf die nächste Biegung zu?
Ich wollte aber gar nicht wissen, was dahinter liegt, ich wollte nicht alleine weiter, um alleine dahinter zu schauen, … ich wollte nur bei ihr bleiben, endlich zur Ruhe kommen.
Es war ein sonniger Tag, ein klarer, sonniger Vormittag in Groningen und wir hatten die Nacht so gut wie gar nicht geschlafen. Ein Zustand, der einen alles noch extremer aufnehmen und fühlen lässt, man ist buchstäblich mit Haut und Haaren durch und durch sensibilisiert, beinahe »psychotisiert«.