Red House. Andreas Bahlmann

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Название Red House
Автор произведения Andreas Bahlmann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862870752



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oder auf die teuren Teppiche abgeascht?

      Wenn Herr Mylla dann nach dem Anzünden der neuen die abgerauchte Zigarette ausmachte, drückte er sie entweder in eine leere Zigarettenschachtel oder er stellte die Zigarettenstummel, mit dem Filter nach unten, feinsäuberlich aufgereiht auf die Fensterbank neben dem Klavier. Ich habe diese Stummel nie gezählt, aber geraucht hat Herr Mylla bestimmt achtzig bis hundert Zigaretten am Tag.

      »Wow!«, dachte ich damals wohl leicht bewundernd, – »ein echter Mann!«

      Einige Jahre später sollte auch mein jüngerer Bruder Klavierunterricht bekommen. Er wollte nicht und sperrte sich laut weinend gegen den Weg zur Volksschule, aber es gab keinen Weg drum herum.

      »Du kommst jetzt mit!« – schließlich musste ich ja auch gegen meinen Willen Klavier spielen.

      Gerade deshalb gab‘s für mich keinen Grund, warum ihm dieser Horror erspart bleiben sollte. Begriffe wie »Gnade« oder »Mitleid« blendete mein brüderlicher Gerechtigkeits-Sinn völlig aus. Also brachte ich meinen heulenden, kleinen Bruder zu seiner ersten Klavierstunde. Eigentlich zerrte ich ihn mehr an der Hand dahin und überwachte genau, dass er in den Unterricht reinging.

      Er hatte keine Chance zur Flucht. Er ergab sich schluchzend seinem Schicksal und betrat verängstigt den Raum zu seiner ersten Klavierstunde.

      Mein anderer Bruder, der Mittlere, lernte inzwischen Akkordeon und eine weitere Fortsetzung des Unterrichts blieb ihm irgendwann, ich glaube nach drei Jahren und einem größeren Akkordeon, mit mehr Bässen, erspart. Diese Entwicklung zeichnete sich eigentlich ganz geschmeidig und stillschweigend ab, nach seinen mehrmaligen, hochkonzentriert und konsequent durchgezogenen musikalischen Vorträgen, anlässlich verschiedener Anlässe. Ich kann mich bei meinem Bruder eigentlich nur an den »Schneewalzer« erinnern, alle drei Strophen des »Schneewalzers« … nur die Melodie – ohne Gesang …, außer beim Refrain, da sangen alle lauthals mit: »… ja den Schnee-, Schnee-, Schnee-, Schnee … Walzer tanzen wir …!« Als der Refrain durch war, dachten alle, mein Bruder war fertig, aber dann kam die zweite Strophe …mein Bruder war erst dabei, so richtig warmzulaufen … »… ja den Schnee-, Schnee-, Schnee-, Schnee … Walzer tanzen wir …« Nach dem zweiten Durchlauf waren alle Zuhörer und Mitsinger am Klatschen, aber dann gab es ja noch die dritte Strophe …Komischerweise hat mein Bruder den Schneewalzer, obwohl er ihn so oft vortrug, nie auswendig gespielt, sondern immer mit großen Augen die Noten runtergespielt … und immer alle drei Strophen … Bei wem mein mittlerer Bruder Akkordeonunterricht hatte, weiß ich nicht, die damalige Klavierlehrerin meines kleinen Bruders war jedoch Frau Mylla, die Schwester meines strengen und kettenrauchenden Klavierlehrers. Im Gegensatz zu ihm war Frau Mylla milde, freundlich, gutmütig und Nichtraucherin. Sie empfahl meinen Eltern sogar irgendwann einen anderen Klavierlehrer, weil sie ihm nicht das zeigen konnte, was er gerne lernen wollte.

      Aus meinem kleinen, heulenden Bruder ist schließlich ein professioneller, richtig guter Jazz-Pianist geworden. Herr Mylla war als der ehemalige Leiter des damaligen jugoslawischen, staatlichen Rundfunkorchesters als Lehrkraft zur Musikschule gekommen, und er brachte diese kompromisslose, staatsautoritäre Prägung auch direkt in die Unterrichtsstunden mit ein.

      Musikalisch gesehen war er wirklich ein harter Hund, menschlich betrachtet sowieso.

      Wie oft stand er hinter mir, verdrehte meine Ellenbogen nach außen, damit die Handrücken-Knöchel der kleinen Finger mit denen der Zeigefinger eine Ebene bildeten, während ich diese doofen Klavieretüden spielte. Ich spielte und lernte Stücke von Strawinsky, Bartok, Mozart, Bach, Beethoven und anderen der großen, klassischen Komponisten, aber diese Musik interessierte mich überhaupt nicht, bis heute noch nicht. Es gibt jedoch einige klassische Melodien, die finde ich richtig, so richtig gut.

      Für den Besuch einer ganzen Orchester-Aufführung, beispielsweise im Theater, reicht es aber wiederum nicht, auch bis heute nicht.

      Ich nahm später, viele Jahre später wieder Klavierunterricht, gab es aber fluchtartig schnell wieder auf, weil ich das Gefühl hatte, mein Kopf würde zerplatzen, so sehr dröhnte es in mir …

      Ich wollte damals nur diese verdammten drei Jahre hinter mich bringen, um mir die Uhr zu verdienen und endlich Gitarre zu lernen. Mein Klavier-Aufgabenheft musste ich jede Woche von meinen Eltern unterschreiben lassen, damit sie die Aufgaben, Noten und Beurteilungen, die mir Herr Mylla nach jeder Klavierstunde schriftlich gab, auch lasen.

      Ich habe eines dieser Hefte zufällig später wiederentdeckt, … mannomann …, waren da viele Fünfen und Faulheits-Bemerkungen drin, aber ich musste auch so einen Mist spielen, der mich, neben dem Klavier, ebenfalls nicht die Bohne interessierte oder vielleicht einen Hauch ansprach.

      Ich erinnere mich besonders an einen Tag, ich war noch keine zehn Jahre alt.

      Herr Mylla war noch nicht anwesend, als ich zur Klavierstunde erschien und ich hatte die seltene Gelegenheit, alleine am Klavier einige, für mich mich neue Akkorde und Melodien auszuprobieren. Es waren Blues-Akkorde und Blues-Melodien, die ich gedankenversunken in meinem sich leise entwickelnden, inneren, musikalischen Gehör, vor mich hinklimperte und ausprobierte.

      Bei uns zu Hause hatte sich bis dahin nie die Gelegenheit geboten oder ergeben, einfach mal 'n bisschen rum zu probieren, weil entweder sofort meine Brüder dazwischenhauten oder sonst wie nervten oder einfach Kinder aus der Nachbarschaft zum Spielen da waren. Das besaß immer und unbedingte Priorität. Wir mussten schließlich ständig das Waffenarsenal unserer Bande perfektionieren, im Kampf gegen das ständige, unbefugte Betreten unseres Territoriums oder sogar Angriffe feindlicher Kinder-Banden anderer Straßen! Die Gefangenen wurden als »feindliche Spione« immer in der Gartenlaube, am Birnbaum oder im Schuppen gefesselt und »gemartert«.

      Befreiungsversuche waren chancenlos, denn wir schoben äußerst aufmerksam Wache und verfügten über gut ausgebildete Kundschafter in unseren Reihen. Wenn Erwachsenenbesuch da war, dauerte es nie lange bis zur überflüssigsten aller denkbaren Aufforderungen:

      »Gottfried, spiel doch mal was vor … Herr oder Frau Müller (oder so) möchten doch so gerne mal hören, wie schön du Klavier spielen kannst …« Das war grauenhaft!

      Ich machte zu Hause meistens einen ziemlich großen Bogen um das Klavier herum, allerdings musste ich manchmal »zwangsüben«, um mich verabreden oder draußen spielen zu können. Bei Erwachsenenbesuch blieb mir oft entweder verstecken oder die schnelle, leise und unbemerkte Flucht als letzter, rettender Ausweg.

      Eine totale Klavier-Verweigerung ging einerseits nicht wegen des so sehr gewünschten Gitarren-Unterrichts und andererseits spürte ich ja diese unbändige Gier nach dieser anderen, so unglaublich anders klingenden Musik in mir. Warum es also nicht am Klavier versuchen? Zu irgendwas musste das ungeliebte Instrument doch nütze sein. Und genau das probierte ich an jenem Tag, als ich gedankenversunken im Klassenzimmer dem Klavier ganz leise, so ganz andere Töne entlockte.

      »Red House« klopfte ganz vorsichtig instrumental in mir an, als ich plötzlich, jäh und gänzlich unvermittelt von hinten angebrüllt wurde. Ich spürte den Windzug sogar an meinem hochrasierten Hinterkopf. Tief erschrocken fuhr ich vom Hocker hoch, drehte mich um. Vor mir stand Herr Mylla, mit wutentbranntem Gesichtsausdruck und hochroten Kopf, noch im braunen, fellkragenbesetztem Mantel und blauen Schal um den Hals und schrie mich an. Er war völlig außer sich: »Ich dulde hier so etwas nicht! Was ist das? Das ist keine Musik! Das will ich hier nicht hören! …«

      Den Rest nahm ich schon gar nicht mehr wahr. Herr Mylla brüllte und tobte laut und dabei unkontrolliert Tröpfchen spuckend herum. Nachdem er mich so zusammengeschrien hatte, bog er mir wieder die Ellenbogen auseinander, während ich eingeschüchtert diese Scheiß-Klassik-Etüden spielen musste.

      Etwa fünfundzwanzig Jahre später begegnete ich Herrn Mylla zufällig in einem Herren-Friseursalon und er erkannte mich auch gleich wieder. Auf seine Frage, was denn aus mir geworden sei, entgegnete ich: »Musiker.«

      »Oh, das ist aber erfreulich! Was für Musik machen Sie denn?«

      Als ich ihm erklärte, dass ich Blues, Rock'n'Roll usw. spielte, wandte er sich brüsk mit einem verächtlich geschnauften: »… davon versteh ich nichts!«