Abara Da Kabar. Emil Bobi

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Название Abara Da Kabar
Автор произведения Emil Bobi
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783702580773



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aus, dass das Hirnprogramm »Sprache« nicht als Missgeburt auf die Welt gekommen war, denn das machte nun wirklich keinen Sinn. Das Menschengehirn war doch nicht eine Million Jahre lang gewachsen, um sich in die Lage zu bringen, die massenhaften Schaltungen der Sprachverarbeitung zu bewältigen, nur um dann nicht zu funktionieren. Ich glaubte an die Intelligenz der Natur und an die komplexe Sinnhaftigkeit ihrer Funktionsweisen. Nein, bei der Geburt der Sprache musste alles noch geklappt haben. Es musste unterwegs eine Panne aufgetreten sein. Vielleicht etwas wie ein Ur-Missverständnis, das sich fortgepflanzt und ausbreitet hatte wie ein Virus. Dann wäre das Problem kein technischer Defekt, sondern die Folge falscher Anwendung oder so. Wie konnte es überhaupt sein, dass die Sprache Lügen zuließ? Und wozu wurde sie denn erfunden? Weil den Hominiden langweilig war und sie ihre Nachbarn ausrichten wollten? Wohl kaum. Die Erfindung oder Entdeckung oder wie immer der Beginn der syntaktischen Laut-Kommunikation zu nennen war, musste doch im Kern dem Bedürfnis gefolgt sein, die Welt zu erklären. So dachte ich jedenfalls.

      Ich sah mich bei einem Naturvolk, von dessen Sprache ich kein Wort verstand und es dennoch kennen und verstehen lernte, ohne eine Vorstellung zu haben, wie das funktionieren sollte. Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich zurück musste zum Ursprung. Ich benötigte einen Lokalaugenschein bei den Anfängen der Menschen-Sprache. Aber wie das gehen sollte, wusste ich noch weniger. Der Weg zurück war nicht nur versperrt. Es gab ihn nicht. Genauer gesagt war er nicht einmal denkbar. Sprachen kamen und gingen und die meisten von ihnen hinterließen schon deshalb keine Spuren, weil sie keine Schrift kannten. Und Wörter waren Muster aus Schallwellen, die im Wind verschwanden. Gesprochene Sprache war deformierte Luft. Davon blieb nichts als Luft. Da gab es nichts auszugraben, von dem man rückschließen konnte.

      Na, viel Glück, dachte ich in der Morgendämmerung auf der Straße stehend. Ich schüttelte den Kopf. Entschuldige, fragte ich mich, bitte um Verzeihung, Herr Ober-Reporter, wo geht es hier zurück zum Ursprung der Sprache? Gehst du da vorne an der Ecke links oder rechts?

      Es wäre untertrieben zu sagen, ich sei vor dem Nichts gestanden. Einmal verschwundene Sprachen waren so verschwunden, dass sie eigentlich nie existiert hatten. Nicht nur die Sprache als solche war Vergangenheit, auch ihre Geschichte hatte sich aufgelöst und selbst die Erinnerung an ihre Geschichte war verloren, weil auch Erinnerung nichts als gespeicherte Sprache war. Ich stand vor einer Sprach-Vergangenheit, die selbst nicht mehr existierte. Wie sollte ich rekonstruieren, was früher war, noch vor meiner eigenen Sprache? Abertausende von ihnen waren gekommen und gegangen. Sie verzweigten sich wie die Äste einer Baumkrone, hielten einige Jahrhunderte, veränderten sich und ihre Benutzer und verschwanden wieder. Sie starben ab und hinterließen keine Hinweise auf ihre Existenz. Sogar die meisten Sprachen der Gegenwart kannten übrigens keine Schrift und verschwanden eine nach der anderen mit ihren Sprechern noch spurloser als die Sprecher. Wo sollte ich also in der Vergangenheit einen Fehler finden, wenn es das Umfeld selbst nicht mehr gab, in dem er passierte?

      Ich ging nach rechts. Hinunter zum Schwedenplatz und über die Brücke auf die andere Seite des Donaukanals, wo ich mein Fahrzeug geparkt hatte. Ich nahm den Strafzettel nicht von der Windschutzscheibe, er würde von selber verschwinden, sobald ich den Scheibenwischer einschaltete. Denn es begann wieder leicht zu regnen.

       4

      Ich startete den Wagen nicht. Ich griff nach dem Hebel rechts am Sitz, legte mich mit der Rückenlehne flach und schlief sofort ein. Ich träumte und der Traum war von großer Klarheit und Lautstärke. Da war ein junger Niederösterreicher, den ich aus dem wirklichen Leben kannte, ich meine, kennen ist ein bisschen viel gesagt, ich hatte ihn nur einmal getroffen, als ich ihn vor Jahren in einem Gefängnis in Bangkok besuchte, das man Bangkok Hilton nannte, um über ihn zu berichten. Ich schrieb eine Serie über im Ausland inhaftierte Österreicher, die auf der ganzen Welt verstreut mit ihren geplatzten Träumen im Gefängnis saßen. Der noch kindlich wirkende Niederösterreicher war bei der versuchten Einreise von Laos nach Thailand mit einem Kilo Heroin festgenommen und zu hundert Jahren Haft verurteilt worden. Als ich ihn besuchte, hatte er sieben Jahre abgesessen und der thailändische König hatte seine Strafe im Zuge einer Amnestie halbiert. Er hatte also noch dreiundvierzig Jahre zu sitzen und weil er aus einer Familie stammte, die sich seit seiner Kindheit nie um ihn gekümmert hatte und er von ihr also nichts, nicht einmal einen Brief, erwarten durfte und auch sonst niemanden in seiner Heimat hatte, er also wirklich allein war, hielt er sich mit der Vorfreude am Leben, mit den Jahren einer der einflussreicheren Langzeithäftlinge zu werden und in den Genuss eines Privilegs zu kommen, das nur solchen Häftlingen vorbehalten war: eine ein bis zwei Quadratmeter große Bodenfläche im Gefängnishof bebauen zu dürfen und eines Tages seine eigenen Tomaten zu ernten. In meinem Traum tauchte er nun als Richter auf.

      Er thronte inmitten der Beisitzer wie auf einer Kanzel im Hintergrund, vor der sich ein Meer befand. Eine Wasserfläche jedenfalls, über die man zum Gericht hin blickte. Gerichtsdiener trugen Akten herein und entfernten sich wieder. Einzelne Mitglieder des Senates besprachen sich stehend, andere hatten bereits Platz genommen. Da bemerkte ich erst, wer es war, der über die Wasserfläche hin auf das Gericht blickte: Ich selbst. Ich war es, der hier vor Gericht stand. Und ich realisierte, dass ich weit, weit weg von Zuhause in einem Traum aufgewacht war, der kein Traum war, sondern Wirklichkeit, die nicht weg ging, auch wenn ich noch so oft weg- und wieder hinschaute. Ich presste die Augen zusammen und öffnete sie wieder, um mich in der heilen Welt meines Schlafzimmers wiederzufinden. Doch ich stand vor Gericht. Die Beisitzer sprachen miteinander. Sie schienen Formelles abzuklären. Dann wendeten sie sich mir zu, aber ich verstand kein Wort. Ich folgerte aus der Situation, dass ich der Angeklagte sein musste und mein Gefühl des unbeteiligten Zaungastes verschwand. Ich stand im Zentrum des Geschehens, aber mehr verstand ich nicht. Ihre Sprache klang hart und abgehackt. Völlig gefühllos, weder kalt noch warm und ohne merkliche Betonung oder Farbe wurde sie silbenweise ausgestoßen wie trocken knackendes Gebell. Sie war voll mit Lauten, die aus zusammengepressten Lippen hervorbrachen oder von einer krachenden Kehle her über den Gaumen rollten, bevor sie von einer schnalzenden Zunge abgeschossen wurden.

      Es wurde gegen mich in einer Sprache verhandelt, von der ich nicht ein einziges Wort verstand. Alles andere lief so ab, wie ich es von Gerichtsprozessen kannte. Der Richter verlas stehend etwas, warf immer wieder den weiten Ärmel seines Talars zur Seite, der immer wieder zurückrutschte und sein Dokument halb verdeckte. Sein Oberkörper neigte sich ein wenig seitwärts und er las sehr schnell, als gebe es ohnehin keine Widerrede. Er strahlte die Souveränität und Entschlossenheit eines unnahbaren Regimes aus, das alle Rechte hatte und gegen mich vorging. Der Richter hielt inne und blickte auf. Eine sehr übergewichtige Person in ziviler Kleidung hatte sich von einer Sitzreihe zur Linken des Gerichtes erhoben und sagte zwei, drei kurze, unbeteiligte Sätze. Dann hob er die Hand zum Zeichen seiner Bitte um Geduld und blätterte mit der anderen Hand in seinen Unterlagen, ohne die erhobene wieder runterzunehmen. Dann zog er ein Blatt aus dem Aktenberg, hob es präsentierend hoch und kommentierte es mit einigen Knacklauten. Der Richter durchwühlte mit schnellen Bewegungen einen seiner Ordner, schien nichts zu finden und blickte wieder den Übergewichtigen an, der nun mich anschaute, während er ein kehliges Schleifgeräusch ausstieß, das mit einem abgewürgten Stöhnen endete. Ich entnahm seinen Lauten nicht einmal, ob es eine Frage oder eine Mitteilung war. Er wartete zwei Augenblicke und als von mir nichts zurückkam, wandte er sich gleichmütig wieder an den Vorsitzenden und nickte. Alles schien vorbereitet. Aber ich wusste nicht, was. Das einzige, was ich zu verstehen dachte, war das Nicken des Übergewichtigen, das wohl ein Ja bedeuten musste, obwohl nicht einmal das gesichert war, denn die Inder etwa schüttelten den Kopf, wenn sie etwas bejahten. Der Übergewichtige sah jedenfalls aus wie ein Verteidiger, vielleicht mein Pflichtverteidiger, der etwas bejaht hatte. Sonst wusste ich nichts. Ich wusste nicht, was man mir vorwarf, nicht einmal, ob man mir überhaupt etwas vorwarf. Sicher schien nur, dass es ein Strafgericht war, aber nicht einmal dafür hatte ich eine Bestätigung. Theoretisch konnte es auch ein Verfahren zur Gewährung eines lebenslangen Luxusurlaubes sein, aber dagegen sprachen die schwer bewaffneten Justizbeamten, die bewegungslos links und rechts neben mir standen und mit dem Kinn auf den Richtersenat zeigten. Sie erstickten meine Fluchtgedanken im Keim. Ich nickte Kontakt aufnehmend und einladend in Richtung des Gerichts. Ich bot gestisch meine volle Kooperation an. Vielleicht hatten sie ja recht. Das konnte man besprechen.