Название | Abara Da Kabar |
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Автор произведения | Emil Bobi |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783702580773 |
Mit diesem Satz des Regierungschefs begann ich meine Ausführungen in der Sitzung. Gelächter brach los. Ein Fotograf äffte den Kanzler nach: »Also braucht man nirgendwo in diesem Land einen Kanzler, denn die Partei steht nirgends hinter ihm.« Heiterkeit. Überlegenes Schmunzeln.
Ich fuhr fort. Dahinter stecke ein großes Zeit-Thema. Wir hätten es mit einer schleichenden Sprachverarmung zu tun, die sich durch alle Schichten ziehe und viele Ursachen habe. Sätze wie »du verstehst mich nicht« oder »das habe ich nicht gesagt« zählten zu den statistisch am öftesten verwendeten Sätzen überhaupt. Für die Existenz einer Sprachkrise gebe es nicht nur zahlreiche frei beobachtbare Indizien, sondern auch viele eindeutige Beweise: Unlängst habe etwa eine Studie gezeigt, dass Kinder ihre motorischen Fähigkeiten zunehmend einbüßten, ein Schreibgerät so zu führen, dass lesbare Buchstaben zurückblieben. Sie würden die körperlichen Voraussetzungen zur Aneignung von Schrift verlieren. Die Menschen würden immer analphabetischer. Wir hätten eine neue Sprachkrise. Ein Babel 4.0.
Die Diskussion dauerte mehr als eine halbe Stunde. Sarkastische Wortspiele wurden erfunden, Beispiele sprachlicher Verwerfungen Prominenter zitiert. Weitere Aspekte der Sprachverarmung wurden erwähnt, wie die Chat-Sprache, die nur noch Satzfetzen und Abkürzungen kannte und auf das Denken selbst zurückwirke, denn die Leute begannen ihre Gedanken ihren Ausdrucksmöglichkeiten anzupassen. Es entstünde etwas wie eine Chat-Denke. Die Betroffenen erinnerten dabei an körperlich Lädierte, die schmerzhaften Stellungen auswichen und erst dadurch behindert wirkten.
Der stellvertretende Chefredakteur, der die Sitzung leitete, hatte nur schweigend zugehört und sagte jetzt: »Das ist eigentlich eine eigene Cover-Geschichte für nach der Wahl.« Ich nickte.
»Wie lautet der Titel?«, fragte er, »was steht im Vorspann?«
Ich blickte in die Luft: »Keine Ahnung. Vielleicht: ›Der Sprachfehler‹. Oder ›Sprache sprachlos‹. Oder ›Was kann Sprache?‹ Oder ›Das Babel-Gebrabbel‹.« Und nach einer Pause: »›Das Muss-Verständnis‹?«
»Das versteht man nicht«, sagte der Art-Direktor und kaute an seinem Bleistift.
Der rauflustige Fotograf schlug vor: »›Die Sprecher-Verbrecher‹!« Ein anderer: »›Die Sprach-Blase‹? Oder ›Die Entsprachung‹? Oder vielleicht straight: ›Das Ende der Sprache‹?«
Nein. Das war alles nichts. Eine Cover-Geschichte musste eine echte These haben. Dass Sprache nicht beherrscht und dennoch missbraucht wurde, war einfach nichts Neues. Dass sie Missverständnisse erzeugte und Verwirrung stiftete, dass Politiker sich wanden und nichts sagen wollten und dabei stotterten, war altbekannt und das wollte niemand lesen. Man müsse, sagte ich, viel weiter gehen und nach vorne gerichtet zuspitzen, vielleicht so: »Sprache funktioniert nicht.«
Das klinge schon eher nach etwas. Das sei eine klare Mitteilung. Etwas völlig Neues. So etwas wolle man lesen. Das habe man noch nie gehört. »Die Sprache funktioniert nicht. Sie ist defekt.« Zu sagen, die Menschen würden lügen, sei langweilig. Aber neu sei: Nicht die Menschen sind schuld, sondern die Sprache. Das betreffe jeden einzelnen und entlaste ihn von der großen Beschuldigung. Toll. Dagegen wäre »Das Ende der Sprache« ein platter Slogan, den niemand ernst nehme.
Der stellvertretende Chefredakteur biss sich auf die Unterlippe. »Kann man das?«, fragte er, »kann man sagen, Sprache funktioniert nicht?«
»Sicher«, sagte ich. »Sie funktioniert jedenfalls sicher nicht so, wie man sich das als Laie vorstellt.«
»Wie stellt man sich das als Laie vor?«
»Na, dass der eine etwas ausspricht, dieser Inhalt sodann durch die Luft fliegt und zugestellt wird und der Empfänger diesen übermittelten Inhalt zur Verfügung hat.«
»Nein?«
»Nein, absolut nicht.«
Der stellvertretende Chefredakteur wollte die Diskussion abgeschlossen haben, ohne sich in jedes Detail zu vertiefen und sich dem Rest des Programmes zuwenden. »Also dann vielleicht doch«, sagte er, hielt kurz inne, und fuhr fort: »Titel: Der Sprachfehler. Untertitel: Das Kommunikationssystem, das den Menschen zum Menschen macht, funktioniert nicht. Geht das?«
Ich nickte.
Damit war eine große Titelgeschichte über die neue Sprachkrise beschlossen und meine kleine Wahlkampf-Story über analphabetische Spitzenkandidaten entfiel. Mein Magen fühlte sich lau an. Von der anderen Straßenseite blitzte reflektiertes Sonnenlicht vom Fenster des Führerhäuschens eines Baukranes, der sich gedreht hatte. Ich starrte auf die eisengraue Kunststoffplatte des Konferenztisches und hörte nicht mehr, worüber nun geredet wurde. Nach einiger Zeit erhob ich mich, nickte in die Runde und verließ die Besprechung. Wohl niemand dachte, auch ich nicht, dass ich nie wieder zurückkehren würde.
Ich ging zum Lift. Ich war mit etwas völlig anderem aus der Konferenz gekommen, als ich hineingegangen war. Ich hatte mich sprechen gehört und gestaunt. Als ich mich sagen hörte »die Sprache funktioniert nicht« war mir, als hätte sich die Raumakustik verbogen oder was weiß ich. Keine Ahnung. Meine nach vorne gerichtete These war durch bloßes Aussprechen lebendig geworden. In knallige Titel-Sprache verpackt, war ihr Inhalt in Kraft getreten.
Als die Lifttür aufschwang, blickte ich in das Gesicht einer bestens gelaunten Mitarbeiterin aus der Abo-Abteilung, die nach unten wollte, was ich nicht bemerkte. Ich stieg ein, quittierte ihr Strahlen mit einem Lächeln und lehnte mich gegen den großen Spiegel gegenüber der Tür, ohne mein Ziel-Stockwerk einzutippen. Dann ging es wie im freien Fall nach unten. Ich fuhr wieder hoch und ging in mein Zimmer.
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch. Das halbe Büro lag wie nach Schneefall unter einer weißen, hügeligen Decke aus herausgerissenen Notizzetteln, Zettelteilen und geglätteten Papierfetzen und zeigte die weiß schimmernde Gelöschtheit einer Winterlandschaft, in der selbst die Stille noch etwas Gedämpftes hatte. Ich beugte mich über die Notizen, aber die Textstelle, auf die mein Blick fiel, war unleserlich. Ich wandte mich von ihr ab und einer anderen zu, fixierte eine dritte und dann noch eine. Nichts. Ich konnte meine eigene Schrift nicht lesen. Ich weitete meine Augen um zu prüfen, ob geweitete Augen am Ergebnis etwas änderten. Aber da waren nur abstrakte Muster, verbogene Haken, Schleifen und Kurven, sinnlos bekleckert mit abgerutschten Punkten, da und dort unterstrichen. Ein psychotisches Gekritzel, dessen einzige Systematik eine zeilenartige Anordnung war. Fremd wie ein archäologischer Fund starrte mich ein schriftähnliches Muster an und versperrte den Zugang zu meiner eigenen Erinnerung. Ich stand wie vor zugeknallten Türen. Meine eigenen Informationen waren zu einem Geheimnis geworden. Mein Wissen hatte sich in Unwissen verwandelt. In verschmutztes Unwissen, denn herkömmliches Unwissen war sauber wie ein leeres Blatt Papier, man wusste ja nicht, was man nicht wusste. In meinem Fall aber war es ein konkretes Unwissen, ein gewusstes Unwissen, ein verschuldetes Unwissen, ein strafbares Unwissen, das wie Sauerstoffmangel wirkte.
Ich betrachtete die Berge aus Altpapier, die ich mein Büro nannte. Die verbogenen Türme aus Akten, Ordnern, losen Papierpacken, noch original verpackten und längst verstaubten Sachbüchern, die Tassen mit den ausgetrockneten Kaffeeresten, den vor Jahren vertrockneten Gummibaum, den Teppich aus Notiz-Zetteln, die Kartons in der Ecke. Jetzt sah es nicht mehr nur aus wie eine Müllhalde, jetzt war es zu einer Müllhalde geworden.