Splitter einer vergangenen Zukunft. Eckhard Bausch

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Название Splitter einer vergangenen Zukunft
Автор произведения Eckhard Bausch
Жанр Языкознание
Серия Die Dunstein-Chroniken
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947721214



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lächelte Roxolay. „Wir befinden uns hier in meinem einstigen Gastzimmer, wie es jedem Mitglied des Inneren Zirkels zusteht. Ich habe allerdings durch einige kleinere Umbauten dafür gesorgt, dass es in Vergessenheit gerät.“

      „Warum hast du es mir gezeigt?“, erkundigte sich Ulban.

      „Es geht nur darum, dass wir hier ungestört sind“, erwiderte der ehemalige Meister der Todeszeremonie. „Außerdem ist es der ideale Ausgangspunkt für mein Vorhaben.“

      „Welches Vorhaben?“, wollte der Höchste Priester wissen.

      „Murbolts Aufzeichnungen sind nicht das einzige Dokument, das gefälscht wurde“, antwortete Roxolay. „In Rabenstein befindet sich das „Buch der Vorzeit“. Ich bin sicher, dass sogar an diesem Buch Veränderungen vorgenommen wurden.“

      Ulban starrte ihn ungläubig an: „Wie kommst du darauf?“

      Roxolay spielte geistesabwesend mit einem Federkiel, der vor ihm auf dem Tisch lag, und erzählte: „Einige der alten Geschichten berichten von den Kriegen zwischen den Sterzen und dem Volk von Dunstein. In einer dieser Geschichten wird am Rande erwähnt, dass es in Derfat Timbris und in Tirk Modon bereits bei den Ur-Sterzen Heiligtümer gegeben habe, die nur von wenigen Auserwählten betreten werden durften. Bei Derfat Timbris weiß ich nicht, um welche Gebäude es sich gehandelt haben soll. Aber bei Modonos bin ich mir ziemlich sicher.“ Er hielt inne und sah den Höchsten Priester erwartungsvoll an. Der hatte sofort verstanden: „Die Rotunde?“

      „Genau“, bestätigte Roxolay. „Manche Hinweise erlangen erst dann Bedeutung, wenn es sie nicht mehr gibt. Kürzlich habe ich an der besagten Geschichte gearbeitet. Dabei ist mir aufgefallen, dass der Hinweis auf den heiligen Status fehlt, den diese Orte bei den Ur-Sterzen hatten. Das Gleiche gilt auch für die anderen Heiligtümer wie beispielsweise Loxoterantos oder Kijanduk. Wenn sich jemand derart viel Mühe gibt, ein Buch zu verfälschen, muss es sich um eine Sache von überragender Wichtigkeit handeln.“

      „Deswegen willst du, dass ich dir die Rotunde öffne“, stellte Ulban fest, der als Einziger den Schlüssel zu diesem unscheinbaren, aber geschichtsträchtigen Bauwerk besaß. Es war bei der Errichtung des „Inneren Zirkels“ nicht angetastet und sogar als Mittelpunkt gewählt worden.

      „Möchtest du etwa nicht wissen, warum das „Buch der Vorzeit“ verfälscht wurde?“, fragte Roxolay zurück.

      „Gewiss“, murmelte der Höchste Priester zerknirscht. „Manchmal bin ich wohl etwas zerstreut.“

      Roxolay erhob sich und ging zu der Wandvertäfelung. Dort klappte er eine der Zierkassetten nach außen. Mit Hilfe des darunter angebrachten Griffelements schob er ein türgroßes Teil der Trennwand zur Seite. Durch die Öffnung betraten die beiden Priester einen Raum, der große Ähnlichkeit mit dem Zimmer hatte, das sie gerade verließen. Nur befanden sich dort auch tatsächlich Bücher in den deckenhohen Regalen.

      Roxolay schob die getarnte Tür in der Wandvertäfelung wieder in ihre Ausgangsposition zurück. Dann verließen sie auch den zweiten Raum, dieses Mal jedoch durch eine normale Tür, an deren Außenseite sich der Name Roxolays befand. Die mondänen Korridore, denen sie anschließend folgten, waren menschenleer. Tiefe, blaue Teppiche dämpften ihre Schritte. Nach wenigen Minuten erreichten sie die Rotunde, die durch ihre schmucklosen Steinwände wie ein Fremdkörper innerhalb des „Inneren Zirkels“ wirkte. Ulban fischte einen Schlüsselbund aus seinem Gewand und öffnete die schwere Rundbogentür. Er sah sich noch einmal kurz um. Dann betrat er gemeinsam mit Roxolay den karg ausgestatteten Raum mit der schmucklosen Kuppel.

      „Wonach suchen wir?“, fragte der Höchste Priester.

      „Das weiß ich auch noch nicht so ganz genau“, gestand Roxolay und ließ seinen Blick über die Decke, die Wände und schließlich den Boden schweifen. Dabei stutzte er. Das durch schmale Einlässe unterhalb der Kuppel einfallende Licht zeichnete eine kreisrunde Fläche in der Mitte des Raumes in einem unmerklich abweichenden Farbton. Das Rot des Sandsteins wirkte dort geringfügig heller.

      „Das ist das Licht“, bemerkte Ulban, der dem Blick des Mannes aus Rabenstein gefolgt war. Anstelle einer Antwort hielt dieser seinen Arm über die runde Fläche. Eine Veränderung war nicht feststellbar.

      „Es ist nicht das Licht“, staunte der Höchste Priester.

      „Der Farbunterschied wird durch den Hohlraum bewirkt, der sich darunter befindet“, bestätigte Roxolay. „Das ist eine Abdeckplatte. Wir müssen die Vorrichtung finden, mit deren Hilfe wir sie bewegen können.“

      „Wenn es überhaupt eine gibt“, zweifelte Ulban und deutete mit einer raumgreifenden Geste auf die kahlen, glatten Wände. „Ich glaube nicht, dass es eine gibt. Wahrscheinlich sollte mit der Platte der darunter liegende Schacht endgültig verschlossen werden.“

      Roxolay nickte nachdenklich.

      „Da muss ich dir zustimmen. Die Platte wurde völlig fugenlos eingesetzt. Das legt den Schluss nahe, dass sie nicht als Abdeckung erkannt werden sollte. Wir müssen sie wohl zerstören wenn wir den Schacht öffnen wollen.“

      Ulban starrte ihn entgeistert an.

      „Das ist ein Heiligtum. Es wurde selbst beim Bau des Inneren Zirkels nicht angetastet“, stammelte er.

      Roxolay verschränkte die Arme vor der Brust.

      „Jemand hat das wichtigste Buch der Menschheit und damit unsere Geschichte verfälscht“, rief er in Erinnerung. „Man kann es auch anders ausdrücken: Wir sollen in die Irre geführt werden. Ich betrachte das zugleich als Bedrohung. Glaubst du wirklich, ich ließe mich von einer lächerlichen Steinplatte davon abhalten, die Wahrheit herauszufinden?“ In diesem Augenblick ging von dem ehemaligen Meister der Todeszeremonie etwas Bedrohliches aus. Der Höchste Priester wich einen Schritt zurück.

      „Besorge das notwendige Werkzeug!“, forderte Roxolay ihn in einem Ton auf, der keinen Widerspruch duldete.

      Ulban wandte sich der Tür zu, aber Roxolay rief ihn noch einmal zurück: „Lass den Schlüssel hier!“

      Ohne Widerspruch händigte der Höchste Priester dem Mann aus Rabenstein den Schlüssel zur Rotunde aus, den dieser eigentlich nicht besitzen durfte. Dann verließ er den uralten Kuppelbau, um eine Spitzhacke und einen schweren Hammer zu besorgen.

      Nachdem es ganz still im Inneren der Rotunde geworden war, kniete sich Roxolay auf die kreisförmige Platte. Dabei fand er bestätigt, was er bisher eher geahnt als gefühlt hatte. Nur er als Spiritant konnte die feinen, für andere Menschen nicht wahrnehmbaren Schwingungen spüren, die offensichtlich aus der Tiefe des Schachts kamen und die Abdeckplatte durchdrangen.

      Roxolay wartete zwei Stunden. Der Höchste Priester hätte längst zurück sein müssen. Schließlich fand sich der ehemalige Meister der Todeszeremonie mit den nicht mehr zu leugnenden Tatsachen ab: Ulban würde nicht mehr kommen; ihm war etwas zugestoßen.

      Roxolay verließ die Rotunde und verschloss sie. Er begab sich zu seinem verborgenen Zimmer und von dort aus durch den Geheimgang zu der unscheinbaren Scheune auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

      Vorerst waren seine Nachforschungen gescheitert.

      *

      Die schwarzhaarige Frau in dem braun gestreiften Gewand kam Ulban gerade recht.

      „Würden Sie mir bitte eine Spitzhacke und einen schweren Hammer besorgen?“, bat er sie.

      Die nette Dame mit der schlimmen Narbe im Gesicht nickte freundlich und entfernte sich mit einem „Gerne, Eminenz“, obwohl ein gewisses Erstaunen in ihrem Gesichtsausdruck nicht zu übersehen war.

      Ulban öffnete die für den Höchsten Priester bestimmte, jedoch lange Zeit unbewohnte Zimmerflucht. Sein Vorgänger, Saradur, hatte nach seiner Beförderung weiterhin die Räume des Ordenssprechers beibehalten, und dessen Vorgänger, Berion, hatte sich fast nie mehr als ein paar Stunden in Modonos aufgehalten.

      Auf dem Tisch stand ein Becher mit klarem Mineralwasser, das noch leicht perlte.

      Gedankenverloren