Splitter einer vergangenen Zukunft. Eckhard Bausch

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Название Splitter einer vergangenen Zukunft
Автор произведения Eckhard Bausch
Жанр Языкознание
Серия Die Dunstein-Chroniken
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947721214



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bemerkt hatte, robbte er zu der Anhöhe hinauf, die ihm einen Blick auf die andere Seite des breiten Stroms ermöglichte. Lange Zeit verharrte er völlig regungslos. Auch im Bereich der Anlegestelle war nicht die geringste Bewegung erkennbar. Ein winziger, für menschliche Augen nicht erkennbarer Reflex genügte. Die Augenpaare zweier Ureinwohner hatten ihn sofort erfasst. Eine nur handtellergroße Scheibe, die zwanzig Meter oberhalb des lumburischen Ufers in der Luft mit irrwitziger Geschwindigkeit rotierte, schien in nebelhafter Weise eine Flüssigkeit zu versprühen. Der Fährmann tauchte blitzartig zwischen den Büschen am oberen Rand der Uferböschung hinter dem schmalen Sandstreifen auf. An seinen Lippen lag ein Blasrohr. Mulmok brauchte nicht genauer hinzusehen, um zu wissen, dass er giftige Pfeile auf die kleine Scheibe abschoss. Diese entfernte sich jedoch unglaublich schnell ins Landesinnere. Als Mulmok den Blick von der Stelle löste, an der sie soeben entschwunden war, konnte er auch den Fährmann nicht mehr sehen.

      Der Lumburier verharrte in seinem Versteck bis zum Einbruch der Nacht. Dann glitt er geräuschlos durch den Fluss zum lumburischen Ufer. Dort näherte er sich unter Aufbietung aller ihm möglichen Vorsicht dem Ort, an dem er den Fährmann zuletzt gesehen hatte. Zehn Meter entfernt hielt er bewegungslos inne. Die Stunden vergingen ohne jegliches Lebenszeichen des Uferwächters.

      Im frühen Morgengrauen lichteten sich die Nebel in der Flussniederung. Zäh stiegen sie in diesigen Schleiern hoch und verhingen die aufgehende Sonne. Mulmok tastete sich noch näher an den letzten Standort des Fährmanns heran. Und dort befand er sich immer noch! Mit eigenartig verrenkten Gliedern hing er kopfüber in mehreren durchgebogenen Baumschößlingen.

      Mulmok ließ nun alle Vorsichtsmaßnahmen außer Acht. Er erhob sich und ging zu dem reglosen Körper. Ein Griff zum Puls des Fährmanns bestätigte ihm, dass dieser noch lebte. Mulmok wuchtete seinen schweren Landsmann in den weichen Sand und untersuchte ihn. Die Lebensfunktionen des Uferwächters waren auf ein Minimum gesunken. Sein Zustand schien kritisch, aber Mulmok wusste, dass er überleben würde. Die Bewusstlosigkeit würde allerdings noch Tage andauern. Daher trug er ihn zu der Fähre und legte ihn dort ab. Danach verankerte er das Floß weit genug vom Ufer entfernt im Fluss, sodass der Körper vor wilden Tieren geschützt war. Anschließend setzte er seinen Weg fort.

      Der schmale Pfad durch den lumburischen Regenwald führte zu der kleinen Ansiedlung, an deren Errichtung der Lumburier einst maßgeblich beteiligt war. Dort hatte eine Gruppe von Leuten versucht, Rote Mondorchideen zu kultivieren, um einer anderen Gruppe von Leuten das ewige Leben zu ermöglichen. Geendet hatte das alles in einer Orgie von Gewalt und Tod. Mulmoks analytisch und akribisch arbeitender Verstand war weit davon entfernt, solche Dinge auch nur ansatzweise zu verstehen. Er hatte sich seinerzeit allein aus Freundschaft zu dem letzten Wanderpriester Qaromar an diesem Projekt beteiligt. Dabei hatte er nicht nur eine Verschwörung aufgedeckt, sondern gleichzeitig auch die damals größte Gefahr für den Kontinent beseitigt. Gedankt hatte man ihm dies mit der Verbannung aus Lumburia. Aber deswegen Groll zu hegen, kam ihm nicht in den Sinn. Er scherte sich ohnehin nicht um Verbote, sondern tat, was getan werden musste. Dabei ließ er sich von nichts und niemandem behindern.

      Während der ganzen Zeit seiner Wanderung herrschte in der Umgebung des Pfades eine sonderbare Stille. Mulmok hatte den Eindruck, als würde er auf einem endlosen Friedhof wandeln.

      Nach fünf Tagesmärschen erreichte er die Ansiedlung auf der kleinen Lichtung. Dort fiel ihm zuerst eine zusammengekrümmte Gestalt mitten auf dem Platz zwischen den teilweise bereits verfallenen Hütten auf. Mulmok drehte den Mann auf den Rücken. Es handelte sich um einen jüngeren Lumburier, den er zuvor noch nie gesehen hatte. Sein Zustand entsprach dem des Fährmanns: eine voraussichtlich lang andauernde, aber nicht lebensbedrohliche Bewusstlosigkeit.

      Mulmok schaute sich um. Das Lager schien menschenleer zu sein. Aber es waren auch keine der gewohnten Tierlaute zu hören. Bei näherem Hinsehen stellte der Ureinwohner fest, dass einige kleine Echsen und Vögel bewegungslos am Boden lagen. Das Ganze wirkte äußerst unheimlich. Mulmok besann sich auf sein Vorhaben und beschloss, es möglichst schnell zu Ende zu bringen. Er ging zu der Hütte, die nach außen hin den besten Erhaltungszustand vermittelte. Seine Mutmaßung hatte ihn nicht getrogen. Er hatte sein Ziel erreicht.

      Auf dem mit Schilfmatten ausgelegten Boden lag ein alter, weißhaariger Ureinwohner. Seine Hand umklammerte den Stab des letzten Wanderpriesters. Einige Beschädigungen der Hüttenwände unterhalb des umlaufenden Lichtdurchlasses deuteten darauf hin, dass hier ein Kampf stattgefunden hatte. Die Kratzer und Löcher stammten zweifellos von der rötlichen, immer noch ausgefahrenen Lanzenspitze des Stabes.

      Ein Griff zur Halsschlagader des alten Mannes bestätigte Mulmok, dass er tot war. Die Lumburier hatten das angesehenste Mitglied ihrer lockeren Stammesgemeinschaft verloren. Diese Gemeinschaft, die trotz ihrer losen Bindung ein unvergleichlich starkes Bollwerk nach außen darstellte, war durch das Ableben des Ältesten zweifellos erheblich geschwächt. Der Weiseste der Ureinwohner verlor nun zum zweiten Mal den Besitz des mysteriösen Wanderstabes, den Korvinag getreu seinem Versprechen nach Lumburia zurückgebracht hatte. Dieses Mal war der Verlust des mächtigen Artefakts endgültig.

      Mulmok öffnete vorsichtig die erkaltete Hand des alten Mannes und entnahm ihr den Stab mit der versenkbaren Klinge, die aus einem Material bestand, das von den Eingeweihten „Torr-barakt“ genannt wurde, die „gefrorene Flamme“. Behutsam bettete Mulmok die Leiche der wichtigsten Autorität seines Volkes auf dessen Liegestatt. Dann verließ er die Hütte und schloss die Tür. Der bewusstlose junge Ureinwohner würde nach seinem Erwachen den Toten finden und entsprechend den Riten seines Volkes bestatten lassen.

      Als der junge Mann lange Zeit später die Augen aufschlug, hatte Mulmok mit dem Wanderstab längst den Lumbur-Strom durchquert und befand sich auf seiner Rückreise durch Surdyrien nach Rabenstein.

      *

      „Da kommt ein einzelner Reiter!“, meldete Wurluwux. Die Schärfe seiner Augen entsprach ihrem stechenden Blick, der ihm den Tarnnamen „Skorpion“ eingetragen hatte.

      „Mit einer solchen Information kann niemand etwas anfangen“, grantelte der vierschrötige, narbengesichtige Mann mit dem auffälligen, zerbeulten Spitzhut. Er stand am Fuß der Mauer, auf deren Krone sich der „Skorpion“ postiert hatte.

      „Dann komm doch selbst rauf, wenn du meinst, dass eine Blindschleiche mehr sieht als ein Adler“, schimpfte der kleine Mann mit dem braunen Wuschelkopf auf der Mauer.

      Shrogotekh setzte bereits zu einer handfesten Entgegnung an, aber dann ertönten die warnenden Worte des „Skorpions“: „Das ist der alte Kerl mit dem Totenschädel und den weißen Fransen. Gib sofort Schaddoch und Rakoving Bescheid!“

      Der Räuberhauptmann am Fuß der Mauer machte auf dem Absatz kehrt und spurtete zu dem eingefallenen Langhaus, in dessen Inneren sich Baron Schaddoch mit seinen Begleitern niedergelassen hatte.

      „Der Berg kommt zum Propheten“, murmelte Rakoving, nachdem Shrogotekh die Nachricht überbracht hatte. „Ich werde ihm auf dem Vorplatz hinter der Torallee entgegentreten. Ihr könnt euch dort in den umliegenden Ruinen verstecken.“

      Sofort hasteten die Männer los. Sie hetzten durch die staubigen Straßen und altehrwürdigen Ruinen der einstmals heiligen Stadt. Rakoving begab sich hingegen ohne Eile zu dem Vorplatz, wo der Legende nach die Oberhäupter der Sterzen mit ihren Opfergaben die Prozession der heiligen Männer empfangen hatten. Inmitten dieses Platzes erwartete Rakoving mit verschränkten Armen den einsamen Reiter, der wohl gekommen war, um ihn zu töten. Offenbar hatte er mit seiner Verwandlung das Geflecht der alten Wesenheiten nicht täuschen können. Der Meister der Todeszeremonie wusste anscheinend genau, wo sein Opfer sich aufhielt. Der knochige Klepper des Meisters schien genauso alt zu sein wie sein Reiter, der sich nur noch mit Mühe im Sattel zu halten schien. Aber Rakoving ließ sich nicht blenden. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er den Mann, an dessen Seite er geholfen hatte, Rabenstein zu verteidigen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass dies gerade eben erst geschehen war. Und nun waren aus Kampfgefährten Todfeinde geworden.

      „Ich grüße Euch, Meister der Todeszeremonie“, sagte Rakoving mit seltsamer Betonung.

      Auf Roxolays Gesicht trat ein Ausdruck des Erstaunens. „Wer seid