Splitter einer vergangenen Zukunft. Eckhard Bausch

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Название Splitter einer vergangenen Zukunft
Автор произведения Eckhard Bausch
Жанр Языкознание
Серия Die Dunstein-Chroniken
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947721214



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genauso sehr über den Anblick ihres langjährigen besten Freundes und ihrer „kleinen Schwester“ freute. Angesichts der Ähnlichkeit der beiden Frauen hätte es sich tatsächlich um Geschwister handeln können. Tritoria war geringfügig kleiner als die Königin und hatte die hellere Haut der Höhlen-Zogh, aber ansonsten wirkten sie fast wie Zwillinge.

      Der andere Mann am Tisch strich sich erst die langen, schwarzen Haare aus dem Gesicht bevor er umständlich aufstand.

      „Bleib sitzen, Sestor!“, rief Unitor ihm zu. „Zu viel Bewegung tut alten Männern nicht gut.“

      „Also deshalb bist du so jung geblieben, seit du dich in den Höhlen ausruhst“, gab der andere Eisgraf grinsend zurück.

      Auch die Frau, die mit dem Rücken zur Tür gesessen hatte, erhob sich. Weder Tritoria noch Unitor kannten sie.

      „Das ist Geswedika“, stellte Telimur die Frau vor. „Sie hat uns ein ganz besonderes Hochzeitsgeschenk aus Rabenstein überbracht.“ Er zeigte auf ein ungeheuer dickes, aufgeschlagenes Buch vor sich auf dem Tisch und erklärte: „Es soll eine Abschrift des „Buches der Vorzeit“ sein.“

      Geswedika sah ihn zuerst betreten an, dann berichtigte sie ihn: „Das ist eine Abschrift des „Buches der Vorzeit“. So wie Sie das gesagt haben, könnte man meinen, Sie zweifelten daran.“ Telimur überging die Äußerung mit einem Achselzucken und fuhr fort: „Geswedika und Tergald wurden mit der Herstellung einer Abschrift beauftragt. Tergald ist Geswedikas Mentor in der Schule von Rabenstein. Gleichzeitig ist er aber auch ihr Schüler in der Schriftlehre. Jeder Novize in Rabenstein muss einen Auftrag ausführen, um ein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft zu werden. Die Herstellung und Überbringung des Buches war Geswedikas Aufgabe.“ Nun wandte er sich an Octora: „Die Aufgabe muss allein ausgeführt werden. Deshalb durfte Tergald nicht mitkommen.“

      „Schade“, bedauerte die Königin von Zogh. „Ich mag den schlauen Lokhriter. Er hat mich mit einer List dazu gebracht, wegen des Schwerts der Könige nach Rabenstein zu reiten.“

      „Vielleicht muss bald wieder jemand nach Rabenstein reiten“, orakelte Telimur und setzte sich auf den Sessel gegenüber Geswedika. Quintora bat die übrigen Anwesenden, ebenfalls Platz zu nehmen.

      Telimur warf Geswedika einen langen, nachdenklichen Blick zu. Dann fragte er: „Wer hat die Sage von Schredostes und der Weißen Frau abgeschrieben? Sie oder Tergald?“

      Geswedika brauchte nicht lange zu überlegen. Die traurige Geschichte vom unglücklichen Statthalter aus Doinat, den der Hochkönig umbringen lassen wollte, und seiner unsterblichen Geliebten, die nicht alterte, war ihr in Erinnerung geblieben.

      „Ich habe die Abschrift gefertigt“, antwortete die Frau aus Rabenstein.

      Telimur tippte mit dem Finger auf die aufgeschlagene Buchseite: „Hier steht, dass nach dem Tod des Schredostes die Weiße Frau, Larradana, gefangen genommen und getötet wurde.“

      „Ja“, bestätigte Geswedika. „So steht es im „Buch der Vorzeit“. Ich habe das genauso abgeschrieben.“

      „Nein“, widersprach Telimur. „So steht das nicht im „Buch der Vorzeit“. Jedenfalls nicht in dem Buch, das ich kenne.“

      Geswedika starrte ihn fassungslos mit offenem Mund an.

      „Auch ich habe die Geschichte gelesen“, mischte sich Quintora ein. „Telimur hat recht. Larradana ist die sagenumwobene Mutter der Pylax, von der niemand weiß, wo sie hergekommen ist. Nach dem Tod des Schredostes ist sie aus Yacudac geflohen und spurlos verschwunden. Das „Buch der Vorzeit“ befand sich hier in der Harlang-Bibliothek, bevor ich es nach Rabenstein gebracht habe.“

      „Und warum ist es so wichtig, ob vor etlichen Jahrtausenden eine Frau umgebracht wurde oder fliehen konnte?“, fragte Sestor dazwischen.

      „Das „Buch der Vorzeit“ ist der größte Schatz der Menschheit“, erklärte Telimur. „Es ist der Schlüssel zum Verständnis der Geschichte des Kontinents und damit auch zu allem, was sich heute ereignet. Wer ein solches Werk verfälscht, will die Menschheit in die Irre führen. Warum will uns jemand etwas derart Schlimmes antun?“

      Sestor schien nicht überzeugt, war aber offenbar bereit, das Anliegen Telimurs ernst zu nehmen. „Also gut“, meinte er. „Unterstellen wir einmal, dass das Schicksal dieser Weißen Frau wichtig wäre. Woher willst du wissen, welches Buch das echte ist? Es könnte doch auch so sein, dass es sich bei dem Buch in Rabenstein um das Original handelte, und bei dem in der Harlang-Bibliothek um eine Fälschung.“

      Telimur und Quintora warfen sich einen Blick zu, dann erklärte die Königin: „Einmal davon abgesehen, dass ich das „Buch der Vorzeit“ nach Rabenstein brachte, weil es dort keines gab: Ich kannte eine Weiße Frau namens Siridindar. Sie hat mir einmal erzählt, dass die Replicas – so nennen sich die Weißen Menschen selbst – ihresgleichen bei Verfehlungen nicht töten, sondern verbannen. Aber sie nannte nur den Namen eines Verbannten, der noch lebt. Und der hieß Dorothon.“

      „Jemand hat das „Buch der Vorzeit“ gefälscht“, beharrte Telimur. „Er will, dass wir glauben, Larradana sei tot. Dadurch soll anscheinend verhindert werden, dass wir nach ihr suchen. Ich bin ein Priester des Wissens. Ich will nicht dumm und irregeleitet sterben. Und ich glaube, ihr alle wollt das auch nicht. Deshalb sollten wir die Weiße Frau suchen. Vielleicht kann sie uns Antworten geben. Aber auf jeden Fall sollte die Menschheit das echte „Buch der Vorzeit“ zurückbekommen.“ Er hielt inne, dann fügte er mit einem breiten Lächeln hinzu: „Nein, ich will es zurückhaben. Es ist mein Hochzeitsgeschenk.“

      Unitor sah seine Frau an: „Glaubst du, was ich glaube?“

      Sie grinste ihn an: „Wenn du dasselbe denkst wie ich: ja.“

      Daraufhin wandte sich der Fürst zu Drinh an die anderen: „Wo würdet ihr euch verstecken, wenn ihr in Sindra ein Verbrechen begangen hättet?“

      Telimur nickte verstehend. „So weit entfernt wie möglich, an dem Ort, wo es die besten Verstecke gibt. Und sie hatte auch schon in Yacudac in einer Höhle gelebt.“ Er blickte Tritoria erwartungsvoll an.

      „Prandorak“, murmelte sie und sagte dann etwas lauter: „Es gibt alte Legenden, wonach eine wunderschöne Frau mit goldenen Locken mehrmals Kinder beschützt hat, die in den Höhlen von Zogh in Gefahr geraten waren. Aber niemand hat sie jemals gesehen, obgleich wir unsere Höhlen bis in die entlegensten Winkel kennen. Für einen Außenstehenden mag das unvorstellbar sein, aber niemand könnte sich ohne unser Wissen in den Höhlen verbergen. Dennoch werde ich Prandorak beauftragen, nach der Weißen Frau zu suchen. Er ist der herzogliche Herold und das Oberhaupt der Boten. Er erhält nicht nur alle Nachrichten am schnellsten, sondern kennt auch die Höhlen besser als jeder andere.“ Sestor erhob sich und schüttelte mit einer Kopfbewegung die schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Ich werde mitgehen“, gab er bekannt. „Außer Octora bin ich hier der einzige Ledige. Und einer Königin der Hochebenen würde man es gewiss verübeln, wenn sie in den Höhlen herumschnüffeln würde.“

      „Ich hätte nichts dagegen“, wiegelte Tritoria ab. „Aber ich denke, meine „große Schwester“ muss ihre Getreuen in Zaum halten.“

      Ohne dies zu ahnen, hatte Sestor sich selbst dazu bestimmt, einer von verborgenen Mächten mühsam aufrechterhaltenen Ordnung den Todesstoß zu versetzen.

      *

      „Nachdem ich mich standhaft geweigert habe, den Palast von Lumbur-Seyth und die Residenz von Dirtos zu beziehen, sitze ich jetzt hier“, stöhnte Baron Schaddoch und breitete in einer hilflosen Geste die Arme aus. Mit dieser Gebärde wollte er dem Gast noch nachdrücklicher den Prunk und Pomp verdeutlichen, der ihn umgab. Die gewaltigen Ausmaße und der umlaufende Säulengang aus Marmor mit den goldverbrämten Applikationen allerorten ließen erahnen, dass diese Halle jahrzehntelang als Thronsaal der letzten Hochkönige von Sindra gedient hatte. Ganz offensichtlich spiegelte sich hier das Bestreben der Musenkönige von Doinat, ihre Vorfahren, die Kriegerkönige von Zitaxon, wenigstens in der Außendarstellung ihres Reichtums zu übertrumpfen.

      Schaddoch,