Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!. Andrea Charlotte Berwing

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Название Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!
Автор произведения Andrea Charlotte Berwing
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783969530061



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erlaubt, bei ihr zu sein. Sie ist Privatpatientin und allein im Zimmer. Iris berührt die schmale feingliedrige Hand Leas sanft und lächelt ihr ermutigend zu. Der Arzt kommt herein und sie reden etwas über myoklonische Anfälle nach dem Aufwachen von der Operation und dass der geheimnisvolle Wüstendoktor richtig gehört hat. Nämlich systolische Extratöne, die auf eine Aortenklappenstenose hinweisen. Der chirurgische Eingriff ist erfolgreich verlaufen.

      „Toi, toi, toi!“, sagt der Arzt und klopft auf das Holz des einzigen Schrankes im Krankenzimmer. Lea hört nur ein noch komplizierteres Deutsch als das, das ihr Iris und Bernd täglich beibringen. An den Gesichtern ihrer Leiheltern, wie sie sie nun nennt, erkennt sie, dass alles gut ist.

      „Jetzt wissen wir auch, warum Lea Schmerzen in der Brust hatte und immer so kurzatmig war.“

      „Und das in der Wüste!“, legt Bernd nach.

      „Was weißt du schon von der Wüste?“, provoziert Iris ihren Mann.

      „Na alles, was Bernadette erzählt hat, und noch viel mehr!“, zwinkert er Iris zu.

      Diese beugt sich zu Lea herunter und küsst sie auf die Stirn.

      „Komm, unser Baby muss schlafen“, wendet sie sich an Bernd, der immer noch lacht.

      „Unser Wüstenbaby“, bekräftigt Bernd mit seiner tiefen Baritonstimme.

      Lea sieht die beiden durch die Krankenhauszimmertür hinausgehen. Sie ist umrahmt von Keksdosen, Schokolade, Apfelschorle und diversen Multivitaminsäften. Auf nichts davon hat sie Appetit. Sie wagt es nicht, zu ihrer Brust zu fassen, ihr Körper fühlt sich nicht wie ihrer an. Eher wie ein nicht zu beurteilender Teil von etwas, mit dem sie früher mal gelebt hat. In Bilma, bei ihren richtigen Eltern, die Erinnerung an sie schwebt wie auf einem fliegenden, bunt bestickten Teppich.

      Henriettes Mutter gefällt die Verbindung zu Madleen nicht. Henriette und Madleen gehen vor dem Sportunterricht, der, außer in den Wintermonaten, im Stadion der Weltjugend stattfindet, noch schnell in die Kaufhalle, die sich in der Chausseestraße befindet, und befördern dort reichlich Stangeneis von der Kühltruhe in ihre Turnbeutel. Leckeres Vanilleeis mit Schokolade drumherum. Für zwanzig Pfennige das Eis. Dann verschenken sie es auch an andere Schüler, bevor es ihnen wegschmilzt. Patrick und Pascal treffen sie ebenfalls in der Kaufhalle, deren Turnbeutel sind auch verdächtig prall gefüllt.

      „Ich möchte nicht, dass du dich mit Madleen triffst. Ich hab die Mutter bei der Elternversammlung gesehen, das sind Asis!“, schimpft die Mutter eines Nachmittags. „Seit wir in Berlin sind, machst du, was du willst, so geht das nicht. Nach der Schule kommst du sofort nach Hause!“, bestimmt sie.

      Henriette schweigt. Sie erzählt ihrer Mutter nichts. Nicht von Patrick, Pascal und Karsten und deren Verfolgungen, noch von Madleen, dem Umweg zu ihr nach der Schule, der sie rettete. Den Umgang konsequent zu verbieten, gestaltet sich für die Mutter als ziemlich schwierig, weil das ihr unsympathische Mädchen in dieselbe Klasse geht wie ihre Tochter. Die trifft sich heimlich mit Madleen und fügt dafür dem Stundenplan einfach noch eine siebente und achte Stunde hinzu. Es gibt da mehrere Möglichkeiten: Werken, Sport und noch ein zusätzlicher Basketballkurs.

      Im Spätsommer, die Blätter an den Bäumen fangen an, sich zu färben, sieht Henriette eine alte Frau, die einen Rauhaardackel an der Leine ausführt. Sie freunden sich im kleinen Park an der Scharnhorststraße miteinander an. Henriette spielt mit Fred, dem Hund.

      „Darf ich ihn auch mal alleine ausführen?“, fasst sich Henriette irgendwann ein Herz und fragt die alte Dame.

      „Tja, Mädchen, ich kann nicht mehr, so wie ich will. Der liebe Gott schaut mir jeden Tag schon beim Sterben zu. Ich weiß gar nicht, ob es richtig war, mir Fred noch ans Bein zu binden, gerne kannst du jeden Tag kommen!“

      Die alte Dame stimmt also zu? Unglaublich. Es ist für sie eine große Erleichterung, das glaubt Henriette am tiefen Seufzen nach jeder Wortgruppe und auch dazwischen herauszuhören.

      Sie holt Fred jetzt jeden Tag nachmittags ab. Zum Halbjahr entfernt sie die zusätzlichen Schulstunden aus ihrem Hausaufgabenheft. Ab da sieht Henriette Madleen seltener. Das Mädchen und der Hund haben einen Heidenspaß zusammen, bis Fred eines Tages einem Kaninchen hinterherjagt, quer über die Straße rennt und mit einem Trabant kollidiert. Der Fahrer reagiert sofort. Fred liegt zwei, drei Minuten ohnmächtig auf der Straße, seine herabhängenden Lefzen lassen seine rosa Zunge zwischen den weißen Zähnen hindurchglänzen. Henriette und der Fahrer hocken bei ihm und schauen ihn gespannt an. Sie streichelt Fred sanft am Hals. Fred atmet normal, dann bewegen sich seine Augäpfel, sie rollen hinter den halbgeöffneten Lidern auf und ab. Plötzlich springt Fred auf und schüttelt sich. Beruhigt entfernt sich der Fahrer.

      Als er wegfährt, heult der Trabant auf und hinterlässt eine große, dunkle Auspuffwolke. Henriette nimmt ihren kleinen Freund auf den Arm und trägt ihn wie einen Schwerbeschädigten zum Park. Die ganze Straße stinkt nach Auspuffgasen.

      Obwohl Fred keinerlei Verletzungen anzumerken sind, sitzt der Schreck tief. Der alten Dame erzählt Henriette nichts von diesem schrecklichen Erlebnis. Aber sie wagt es nicht mehr, Fred auf der Straße freizulassen. Mit diesem ungebändigten Jagdtrieb hatte sie nicht gerechnet.

      Das Mädchen hat Angst um ihren guten wilden Freund. Jetzt gräbt sie für sich und Fred mit einem Stock und ihren Händen ein Loch unter dem Zaun durch zum Stadion der Weltjugend, das sie jedes Mal, wenn sie zusammen durchgeschlüpft sind, mit Brettern, die sie in den Draht klemmt, notdürftig verschließt. Im Stadion darf Fred dann wieder von der Leine; nachmittags wenn die beiden allein mit sich sind, abgeschirmt von der feindlichen Welt. Draußen tuckern die Trabis und Wartburgs vorbei, die Ost-Raritäten der Zukunft. Die schönsten Stunden, wenn das Stadion nicht mehr von sportlichen Jungpionieren bevölkert ist, verbringt Henriette mit Fred in den späten Nachmittagsstunden.

      Ina, ein Mädchen aus einer Klasse über Henriette, entdeckt den Durchschlupf und trainiert ab sofort heimlich Hochsprung im Stadion. Henriette freundet sich mit Ina an. Das Loch im Zaun zum Stadion spricht sich bald unter Inas Freunden herum; bald sind sie fünf, sechs heranwachsende Kinder, die Hochsprung auf der dicken Matte üben. Henriette erzielt dabei nach hartnäckigem Üben erstaunliche Leistungen, hält sie sich doch im Grunde für total unsportlich. Vor allem seit dem Erlebnis an der Betonwand mit Lena. Fred indes jagt fröhlich Hasen. Unwillkürlich muss Henriette an Annette denken, ein großes blondes Mädchen aus ihrer Klasse, mit dem sie sich beinahe angefreundet hätte. Katzenaugen hätte Henriette, so Annette, doch das war nicht der Grund, warum Freundschaft nicht ging. Annette hat eine süße Katze, von der sie jeden Tag erzählt. Und auch von ihren Handschuhen, die sie später haben wird, aus genau dem Fell dieser Katze, wenn sie denn stirbt.

      „Was habt ihr, eine Überschwemmung, Flutkatastrophe? In der Wüste? Matilan? Man muss es hinnehmen? Ich glaub‘s nicht. Vier Jahre, dann länger! Null Problem.“

      Bernd ist sofort entschlossen. Er schreit durch die große Wohnung, läuft mit dem Handy am Ohr von einem Zimmer zum anderen. Iris ist überrascht.

      „Matilan. Vier Jahre ist doch super, da kann sie Deutsch lernen und zur Schule gehen. Iris hat sie schon eingesackt, an Kindes statt angenommen, sozusagen“, posaunt Bernd lauthals ins Telefon. Er legt das Telefon auf den gläsernen Couchtisch am Fenster im Wohnzimmer und geht ins Bad.

      „Sag mal“, Iris steht sofort auf und läuft ihm hinterher, „vielleicht sagst du mir mal, was los ist.“

      „Hast du doch gehört“, schnauft Bernd auf der Toilette. „Süße, lass mich doch mal in Ruhe mein Geschäft machen, ist doch auch für mich aufregend. Lea bleibt die nächsten vier Jahre bei uns.“

      Die anfängliche Spannung fällt von Iris ab, ihre Knie werden weich, sie hockt sich an die Wand vor der Toilette. Wenn Träume wahr werden, glaubt man sie nicht, denkt sie, und es haut einem die Beine weg. Bernd kommt aus der Toilette raus, sieht Iris und hockt sich neben sie.

      „Süße, das hast du dir