Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!. Andrea Charlotte Berwing

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Название Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!
Автор произведения Andrea Charlotte Berwing
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783969530061



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Sie wagt es nicht aufzustehen, das Rascheln der Bettdecke könnte wertvolle Worte verschlucken. Sie versucht, ihre Ohren in Richtung Tür zu öffnen. Es ist ganz ruhig. Irgendwann hört sie den Hörer auf das Telefon klacken. Henriette denkt nichts. Es ist alles so weit weg. Am nächsten Morgen geht sie wie immer zur Schule. Sie bemerkt dunkelrote Ränder unter den Augen der Mutter.

      Dann geht alles ganz schnell. Umzug nach Friedrichshain, dort wo Lenin auf dem Platz vor einem Hochhaus steht. Ein S- und ein U-förmiger Neubau schlängelt sich durch die Stadtlandschaft. Nicht weit weg eine Kaufhalle, über die Straße der Volkspark Friedrichshain. Dort, wo sie bald Tschibi vergräbt. An einem Samstag nach einem Freitag, dem dreizehnten. Um Tschibi weint sie, ihr Vater ist weit weg. Weit weg. Unerreichbar. Sie weiß nicht, wo er ist. Die Mutter redet nicht. Henriette soll funktionieren. Nach der Schule kommt das Rührei in die Pfanne, die Pfanne wird abgewaschen. Die verglaste Durchreiche, die die Miniküche mit der Stube verbindet, wird in der Woche nur zum Frühstück und zum Abendbrot benutzt. Sie wohnen jetzt zu dritt in anderthalb Zimmern, das Zimmer der Mutter ein Durchgangszimmer; Henriette funktioniert. Und wie. Beinahe.

      Morgens jedoch läuft sie in den Keller, dort liegen eine zerfledderte Jeans und gefärbte Jacken sowie ihr schwarzes Stirnband. Dann geht sie in die Schule. Nach der Schule wieder der Weg in den dunklen Keller. Henriette hat Angst. Dort unten. Es muss sein. Einen kleinen Lichtblick muss es geben. Eine schöne Seele braucht auch eigene Sachen. Udo Lindenberg, Ideal, Konstantin Wecker. Ihr Weihnachtsgeschenk, das sie sich heimlich mit in ihr Zimmer nimmt, sendet nachts unter ihrem Kopfkissen. Musik aus dem Westen. The Doors, The Cure, The Scorpions. The Beatles. The Clash. Doch sie funktioniert. Planvoll. In der Schule und zu Hause. Susanne wird weiter und noch mehr verschont. Henriette hat die Verantwortung. Besprochen werden Frühstück, Essen, Einkaufen gehen, Freunde, die sie nicht mit nach Hause bringen darf.

      Der Nachbar wirkt freundlich, eine Familie mit drei Kindern. Zu freundlich. Oft versucht er Henriette auszufragen. Er trägt den Vornamen des Vaters nur als Nachnamen an der Tür.

      Sie kann sich der Freundlichkeit nur schlecht entziehen. Manchmal, wenn sie zu lange mit dem Schlüssel im Türschloss herumstochert – im Flur ist es immer dunkel –, reißt er freundlich die Tür auf. Als würde er auf Einbrecher achten. So ein Quatsch, denkt Henriette, die kommen doch eher durch das Fenster. Sie wohnen im Erdgeschoss. Henriette könnte nachts heimlich aus dem Fenster klettern und um die Häuser ziehen. Doch es ist niemand da und Susanne, die im hinteren Teil des Zimmers von einem Vorhang von Henriettes Bett getrennt schläft, petzt.

      Träume wiederholen sich. Sie läuft durch den Hausflur und Verfolger heften sich an ihre Fersen. Die Verfolger kann sie nicht sehen. Sie ist wie gelähmt. Das fühlt sich schrecklich an, sie spürt, wie die Verfolger sich ihr nähern. Und kann nicht weglaufen, die rettenden Treppen vor sich.

      Dann wacht sie auf. Drei Feinde auf dreißig Quadratmeter Wohnraum. Wenn andere Menschen ihren Müll im Hausflur durch die Müllrohre schicken, poltert es. Wie Klabautermänner. Viele Klabautermänner. Über Henriette hört jemand leise Konstantin Wecker – „Genug ist nicht genug“.

      Es gibt keine Zeit. Und doch befreit sich der Schmetterling aus seinem Kokon, um zu fliegen und die Blüten dieser Welt zu bestaunen. Aus Mädchen werden junge Frauen. Aus Jungen Männer. So wie die Zeit den Wind vor sich hertreibt, der den Samen vor sich bespielt und fallen lässt, verwandeln sich Geschöpfe. Die Zeit, nicht existent, ein mystischer Verwandlungskünstler in der Unendlichkeit.

      Lea schaut hinter sich. Die rote Tür pendelt leise hin und her. Dahinter das dunkel schimmernde Licht. Wie kam sie hierher, wie konnte das nur passieren? Lea läuft zur U-Bahn. Gesichter, Gesichter, Gesichter.

      Abends sitzt sie im Hinterhofgarten, vor sich ein Glas Wein. Sie hört den Specht gegen einen Baum klopfen, folge deinem Herzen, sagt er ihr. Soll das ihr Herz sein? Wenn sie das ihrer Mutter erzählte, an ihren Vater darf sie gar nicht denken. Niemals sollten sie dies erfahren. Niemals. Wie crazy eigentlich. Sie mit ihrer romantischen Seele, ihrem zarten Herzen, hat sich heute zum zweiten Mal vorgestellt. Sie schaut die Fenster des Hofes hoch. Die meisten haben keine Gardinen. Auch keine schwedischen. Sie fühlt sich so kriminell, so schrecklich kriminell. Alle Menschen um sie herum würden sie verachten, wenn sie das wüssten, da ist sie sich ganz sicher. Auweia. Auweia. Auweia. Dann fällt ihr Blick wieder auf die Fenster. Die Wohnung dahinter ist unbezahlt. Noch ein Monat, dann fliegt sie raus. Und wie soll es dann weitergehen? Obdachlos, unter Brücken schlafen, bei Freunden ab und zu, die dann auch nicht mehr lange ihre Freunde sein würden.

      Morgen wird sie anfangen, außerdem hat sie sich ja das Beste rausgesucht. Geführt von einer Frau, sie kann nein sagen, sie kann durch den Vorhang schauen, ob die Männer, die hereinkommen und in den Empfangsraum gebeten werden, ihr zusagen. Und selbst, wenn sie sich vorstellt und ihr der Mann nicht zusagt, kann sie der Hausdame Bescheid sagen, dass sie den nicht wollen würde. Die Hausdame regelt das dann mit dem Gast. Außerdem stellen sich ja mindestens noch zehn andere vor, das heißt noch lange nicht, dass der sie dann auch nimmt.

      Lea atmet tief durch, wenn sie die zwei rückständigen Mieten bezahlt hat, dann macht sie ganz ruhig. Dann ist das Erste geschafft. Die Steuernummer ist besorgt, für Massagen. Und alles ist geschützt. Nie ohne Kondom, weder oral noch so. Sie zuckt bei dem Gedanken oral zusammen. Was ist das für ein schreckliches Wort. Das würde sie sowieso nicht machen, auch wenn es in ihrer Beschreibung steht, genauso wie anal. Wie ekelig. Das ist nur zum Anlocken, bei den Männern findet viel mehr im Kopf statt, als in Wirklichkeit. Das ist doch Wahnsinn. Was für eine Welt. Was für eine Welt, in die sie da hineingeboren wurde. Warum eigentlich muss, soll man das Leben meistern müssen? Wofür? Sie könnte sich doch auch einfach aufgeben. Genau heute. Jetzt. Einfach sterben, nicht mehr atmen. Nie mehr. So allein und verlassen hat sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Von der Wüste in den Puff. Lea muss lachen. Welch Farce. Wie absurd. Oder ist es was anderes?

      Sie erinnert sich an die Worte ihrer Großmutter zu ihrer Mutter, sie hatten sich ihr eingebrannt, waren sie für das sanfte Wesen Bernadettes doch ungewöhnlich:

      „Manchmal denke ich, du bist zwar eine schöne Frau, doch irgendwie, wo ist das Feuer? Warum so normal? Auch ich war einmal schön, doch auch rebellisch und natürlich, musste ich dafür bezahlen. Teuer. Doch wo ist dein Feuer? Immer den Ball flach halten, klein bleiben, normal. Ängstlich. Wie öde, Nana, wie öde.“

      Nein, öde wollte sie nicht sein, aber ist das der richtige Weg?

      Ist nicht eigentlich so gut wie alles falsch, egal wie herum man etwas macht? Oder ist irgendwie alles richtig, weil es nur falsch sein kann. Die Erde rund oder flach, egal.

      Eigentlich wollte sie mal studieren. Hätten doch ihre Pflegeeltern es nicht vergessen, den Termin beim Notar vor sich hergeschoben. Immer und immer wieder. Im vollsten Vertrauen, das es Zeit gäbe. Noch. Genug Zeit. Ihr Erbe, das versprochene Testament, so gewonnen wie zerronnen. Sie traf keine Schuld, weder Bernd noch Iris noch sie. Der Tod kam zu überraschend, sie dachten, sie hätten noch Zeit, alles zu regeln. Sie hat sie doch gepflegt, erst Bernd, mit Iris zusammen, und dann Iris. Gewaschen, gefüttert, zum Klo gehievt, die Kacke, die danebenfiel, aufgesammelt, Würgkrämpfe unterdrückend. Die Hände gehalten, in liebende traurige Augen geschaut und alles Ekelige sofort wieder vergessen. Lea atmet tief durch und gießt sich noch ein Glas ein. Dann trinkt sie einen Schluck. Und dann das. Einfach vergessen. Und wirklich vergessen. Da kann keine Bosheit dahintergesteckt haben, Iris und Bernd haben bestimmt nicht gewollt, dass der Staat, den sie nie mochten, ihr Geld bekommen würde. Bestimmt nicht. Sie haben es einfach vergessen. Erst Bernd und dann Iris. Dann sie selbst. Wir haben es vergessen. Es war keine Zeit mehr, zum Schluss ging alles zu schnell. Erst mit Bernd und dann mit Iris. Das Sterben; der Tod kam unverhofft und plötzlich. Das Bessere ist der Feind des Guten. Der Tod, er nahm sich erst Zeit mit den beiden, als würde er es auskosten wollen, das Leid und die Traurigkeit des Abschiednehmens. Als hätte er seinen Spaß daran. Als fände er es lustig. So, als würde er sich dafür rächen wollen, dass sich Iris und Bernd wirklich geliebt haben und auch viel Spaß in ihrem Leben hatten. Wie viel haben sie miteinander gelacht, wie lustig war es hier immer. Lea kullern die Tränen die Wangen herunter. Und jetzt das. Dann ging es