Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!. Andrea Charlotte Berwing

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Название Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!
Автор произведения Andrea Charlotte Berwing
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783969530061



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Das fremde Land betritt Lea allein. Die Stimmen von vielen Menschen überfordern das Kind zeitweilig, bis sie sich vorstellt, es sind die Grillen aus der Wüste. Die vielen künstlichen Lichter schmerzen zuerst in ihren Augen, dann gewöhnt sie sich daran. Nicht gewöhnen will sie sich an die vielen fragenden Blicke. Sie überlegt sich, ob es wohl daran liegen könnte, dass sie aus einem dunkleren Haus schaut als die anderen. So ist es bestimmt der Großmutter ergangen, als sie als einzige Weiße mit ihrem Mann in Bilma blieb. Je näher Lea Berlin entgegenfliegt, umso mehr fürchtet sie, wird ihr dunkles Gesicht sehr einsam in viele weiße Gesichter schauen. Sie denkt an Kleopatra, die sie zurücklassen musste und die irgendwie einen Platz in der Familie einnimmt, den sie in ihrer kindlichen Gemütsverfassung nicht einordnen kann. Eine Schlange, ein Haustier?

      Lea tritt auf die an das Flugzeug herangerollte Treppe und schaut in die Ferne. Die bietet der Flughafen Tegel im ersten Moment. Sie kann das weiße flache Flughafengebäude nicht so recht von dem Hintergrund des Himmels unterscheiden, die Sonne blendet sie. Ihre Augen haben sich so sehr an das künstliche Licht in den Flugzeugen gewöhnt. Intuitiv läuft sie den anderen Menschen hinterher. Es wird schon so richtig sein. Die Stewardess, die sich sehr freundlich um sie im Flugzeug gekümmert hatte, ist nicht mehr da. Immer lächelte die Stewardess sie während der Stunden im Flugzeug an, während sie kleines Gebäck und Getränke an die anderen Gäste austeilte.

      Lea versteht kein Englisch, kein Deutsch; nur Französisch, und das spricht hier niemand. Sie verständigt sich mit gelegentlichem Nicken und ihren Augen. Die freundliche Stewardess fehlt ihr jetzt, wo sie verloren vor dem Gepäckband steht. Sie wartet und wartet, die Koffer ploppen auf das Band. Ab und zu wird sie von den schnell zum Gepäckband laufenden Reisenden angeschubst, die wohl Angst haben, ihr Koffer würde von jemand anderem weggeschnappt. Dann endlich fällt ihre prall gefüllte grüne Tasche auf das Band. Sie hat die Strapazen der Reise ebenfalls unbeschadet überstanden. Lea freut sich, einen vertrauten Gegenstand zu sehen. Vor zwei Tagen hielt ihre Mutter Nana die Tasche noch in der Hand und ihre Großmutter streichelte ehrfurchtsvoll und wie bittend über den festen Nylonstoff. Ihr Vater erstand die Tasche von einem der Händler auf dem Markt, er gab dafür einen Teil der kostbaren Hirsevorräte der Familie. Dann läuft sie wieder den Menschen hinterher zum Ausgang. Merde, denkt sie. Sie geht auf die geöffnete Doppeltür zu; das Licht dahinter, eine neue Welt. Eine andere, fremde Welt. Merde, ich will zurück. Merde, hier bleib ich nicht.

      Ein großes Schild, von einem kleinen dicklichen Mann gehalten, fällt ihr ins Auge. LEA in großen roten Buchstaben ist darauf gemalt. Neben dem Mann steht eine ebenfalls etwas rundliche Frau, die Haare zu einem Dutt zusammengerollt, mit freundlichen Augen. Die Augenbrauen sind etwas zu stark nachgeschminkt und um den Mund herum lässt sich ein schlecht wegrasierter Damenbart vermuten. Lea fällt das Maskenhafte an ihren Zügen sofort auf. Sie geht auf die beiden zu. Der Mann streckt ihr zuerst die Hand entgegen.

      „Ich bin Bernd und das ist Iris.“ Iris umarmt Lea sofort herzlich und fest.

      „Merde“, sagt Lea und bleibt zurückhaltend, die Tasche fest in der Hand, als wolle sie sofort umkehren.

      Iris und ihr Mann schauen sich vielsagend an.

      „Komm!“ Iris nimmt das erschöpft wirkende Mädchen an die Hand; dann gehen sie an vielen Menschen vorbei durch die großen Glastüren, die sich automatisch öffnen zum Parkplatz.

      So viele Autos hat Lea noch nie gesehen. Glitzernde bunte Dächer reihen sich endlos aneinander, fast bis zum Horizont. Jetzt wird sie neugierig. Sie staunt. An einem roten Citroen bleiben die drei stehen. Bernd hält den Schlüssel in der Hand, es piept, die Autolichter blinken, dann öffnet er zuerst den Kofferraum. Dorthinein verschwindet der grüne Nylonbeutel. Dann öffnet er die rechte Beifahrertür und für Lea die hintere rechte. Lea sitzt hinten. Zu ihrer Verwunderung fährt Bernd nicht in die Stadt, sondern bald auf einer großen Straße in immer einsamer besiedelte Landstriche. Sie sind bestimmt eine Stunde unterwegs. Bald hält Bernd vor einer Dorfkirche. Draußen ist es kalt. Iris schnappt eine kuschelige Strickjacke, die neben Lea liegt, und gibt sie ihr. Die Strickjacke ist pinkfarben. Lea zieht die Jacke an, sie passt perfekt. Die Farbe ist für das Wüstenmädchen fremd, doch sie gefällt ihr. Bernd steigt zuerst aus, öffnet daraufhin den beiden die Tür. Aus dem Kofferraum holt er zwei Körbe heraus.

      Bernd trägt die mit Brot und Käse, Saft und Milch befüllten Körbe, die Frauen laufen neben ihm her. Über Wiesen, angelegte Wege, Kieselsteine. Die Wiesen sind feucht, die Luft ist schwer. Die Sonne arbeitet sich gerade durch den Frühnebel. Bernd steuert auf ein kleines Waldstück zu, ein kleiner Weg schlängelt sich dorthin. Jetzt müssen sie hintereinander laufen.

      Abrupt wird der kleine Weg zu einem Steg, der am Ufer eines Sees gebaut ist. Kleine hübsche Bänke sind auf dem Steg angebracht. Auf dem See ruhen sich Wildgänse aus, ihr Geschnatter erfüllt die Luft. Wenn Lea vorher lediglich erstaunt war, so ist sie jetzt begeistert. Sie beobachtet fasziniert die Wildgänse, die sich jetzt mit einem Ruck aus dem Wasser erheben und in verschiedenen Schwärmen hoch zum Himmel fliegen. Manche Wildgänse wirken verloren und füllen eilig schnatternd die Lücken in den eigenen Reihen. Lea fühlt sich im Moment wie diese Wildgänse: Schnell, einsam, aufgeregt, den Anschluss verloren, eine Lücke füllend. Nur welche?

      Karsten und Tom lauern noch öfter Henriette auf, die nun den längeren Weg über die Zinnowitzer Straße nehmen muss.

      „Gib mir einen Kuss!“, fordert Karsten, Tom steht daneben und wartet.

      „Wie bitte?“ Für Henriette ist die Situation komisch.

      Wenn sie ihre langen Haare versteckt, wird sie noch mit junger Mann angesprochen. Schmal ist sie und hochgewachsen, doch davon will sie noch gar keine Ahnung haben.

      „Einen Kuss“, wiederholt Karsten und guckt ihr gespannt in ihre blaugrauen Augen. Henriette versucht auszuweichen, indem sie zwei Schritte nach hinten geht und über die Bordsteinkante stolpert.

      Karsten und Tom nutzen die Situation und nehmen ihr blitzschnell den Schulranzen und die Jacke weg. Henriette wehrt sich, doch vergeblich, sie bleibt hilflos. Die beiden Jungs laufen hoch zur Habersaathstraße und werfen Henriettes Sachen auf die Straße. Ihr klopft das Herz bis zum Hals vor Angst, langsam holt sie ihre Sachen und geht nach Hause. Sie dreht sich noch mehrmals um, ob sie von den beiden Jungs verfolgt wird. Niemals bekommen die einen Kuss, ich hasse sie, denkt sie wütend.

      Glücklicherweise fragt Madleen, ein großes stämmiges dunkelhaariges Mädchen Henriette, ob sie Lust hat, mit ihr nach Hause zu kommen. Ohne lange zu überlegen, stimmt sie zu.

      „Los, komm!“, bekräftigt Madleen nach der sechsten Stunde ihr Angebot.

      Die ein wenig verängstigte Henriette ist froh, auf diese Weise den ihr immer wieder nachstellenden Jungs zu entkommen und läuft mit Madleen mit, über die Torstraße in die Chausseestraße. Vorbei an der Tierversuchsstation, durch deren gekippten Fenster sie Hunde winseln hören. Vorbei an einem kleinen Glaskasten mit einem Polizisten darin vor einem Gebäude. Die Ständige Vertretung.

      Madleen hat noch vier Geschwister, die sie neugierig begrüßen. Sie wohnt in der Chausseestraße in einer riesengroßen Altberliner Sechsraumwohnung. Mit Stuck an den Decken und vielen Wodkaflaschen auf dem Couchtisch und in der Küche.

      „Wo sind denn deine Eltern?“, wundert sich Henriette. „Du hast doch gesagt, sie sind zu Hause?“

      Henriette kriecht ein stechender Geruch in die Nase. Zwei Katzen schauen sie aus grünen Augen geheimnisvoll an, sie haben jeweils die Couch und einen Sessel belegt. Draußen hinter den morschen Fenstern ist der Lärm der vorbeifahrenden Zweitakter zu hören.

      „Schau mal, hier sind meine Eltern“, fordert Madleen Henriette geheimnisvoll auf und winkt sie durch einen langen Flur zu einer der vielen abgehenden Türen.

      Gemeinsam schauen sie durch das Schlüsselloch ihren Eltern beim Poppen zu, so wie es Madleen nennt. Der Vater von Madleen ist klein und dünn, die Mutter klein und dick. Irgendwie verdrängt Henriette die Bilder wieder.

      Lea