Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!. Andrea Charlotte Berwing

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Название Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!
Автор произведения Andrea Charlotte Berwing
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783969530061



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am Grenzübergang vorbei, an dem Busse stehen. Sie läuft weiter. Vorbei an ihrer Schule, an der Tierversuchsstation. Viele Bassets tummeln sich dort. Das sind die Favoriten für die Medizin. Geduldig und lieb lassen sie alles über sich ergehen. Henriette hat immer gemischte Gefühle, wenn sie dort vorbeigeht; am liebsten würde sie alle Hunde retten, mit nach Hause nehmen. Wer weiß, was hinter den dicken Mauern und den Fenstern mit Gitterstäben davor so passiert. Nichts Gutes bestimmt. Fred zerrt an der Leine und winselt. Henriette bleibt stehen. Sie versteht nicht, was dort hinter den Mauern mit den verrosteten Gitterstäben abgeht. Und vor allen Dingen, was soll das für einen Sinn ergeben? Sie weiß nur, dass es ihr einen Stich direkt in ihr Herz versetzt, was dort sein könnte. Im Namen der Wissenschaft. Sie läuft weiter zur Friedrichstraße hoch und läuft und läuft. An der Spree entlang. Etwas ist passiert, sie spürt es. Dann bleibt sie auf einer Brücke stehen und schaut auf das Wasser hinunter. Es wirkt friedlich, sanfte Wellen lassen die durchkommenden Sonnenstrahlen und das helle Licht sanft funkeln. Es weiß nichts von dem, was Menschen machen. Es glitzert und schwappt dann ans Ufer. Dunkel und unsichtbar. Eine Schallmauer aus kleinen Molekülen. Henriette erinnert sich an ein Gespräch mit ihrer Klassenlehrerin.

      „Die Plastiktüte mit der Marlboro-Werbung hat hier nichts zu suchen, das ist verboten“, fordert diese streng.

      Keine Widerrede. Ihr eiserner Blick sagt alles. Werbung mit dem Cowboy auf dem sich aufbäumenden Pferd. Der Westen und der Osten. Für Henriette ein Traum; der von Weite und Freiheit. Der Westen hinter der Mauer, hinter Polizisten, kleinen Häusern, in denen nur ein Mann saß. Umgeben von Glas. Die Spree und die Moleküle. Hier hat sie jedenfalls nicht ständig die Mauern der Grenze vor dem Gesicht. Fred hat es aufgegeben, einen Blick von Henriette zu erhaschen. Sie dreht sich um und läuft den Weg mit Fred zurück. Im Park leint sie Fred noch mal ab, doch er hat die Lust jetzt vollends verloren. Bedrückt und enttäuscht bleibt er sitzen und schaut Henriette an. Mit zuckersüßen braunen Dackelaugen.

      „Mann, los, lauf doch!“ Henriette beugt sich zu ihm herunter und umarmt ihn.

      Der Hundegeruch gräbt sich in ihr limbisches System. Rauhaardackelmännchen. Irgendwie ein herber Geruch. Fred wedelt ein bisschen mit dem Schwanz, doch bleibt er eisern bei ihr sitzen.

      Der alte Tuareg schaut in den Sternenhimmel, er hält Leas Hand.

      „Hier ist viel passiert in der Zeit, in der du nicht da warst. Unsere Stämme können nicht mehr Hirse durch die Wüste bringen, die Weißen haben viel zerstört. Durch Einmischung. Selbst der Fluss hat das nicht ausgehalten und uns überschwemmt. Die Geister sind böse mit dem, was mit unserem Land passiert.“

      Er wirkt nachdenklich und ruhig. Sein Augenweiß glänzt im Licht. Er neigt seinen Kopf, wie um seine Sinne gen Himmel zu richten, von der Seite sieht es so aus, als wären seine Augen riesig. Rund und eindringlich in das Universum gerichtet.

      „Die Überschwemmungen haben viel kaputt gemacht, viel zerstört. Wie gut, dass du in Sicherheit warst. Bist du doch unsere Zukunft. Unser Glück. Unser Schatz. Und jetzt sprichst du die Sprache deiner Großmutter und hast unsere vergessen?“

      So hatte ihr Vater noch nie mit ihr gesprochen. Wie mit einer Erwachsenen. Er wirkt hart, die Sorgen haben seine ohnehin von Wüstensand gegerbten Züge noch tiefer in sein stolzes Gesicht gegraben. Seine Augen scheinen zu lächeln. Lea spürt die Wärme über den Händen des Vaters, als sie sie kurz berührt. Als hätte er die Wärme der Wüste in den letzten vier Jahren für Lea gespeichert. Nur für sie.

      „Ich habe nichts vergessen“, antwortet sie leise. Der Vater hat für die Familie ein neues kleines Haus gebaut. Auf Sand. Lange schliefen sie wie Reisende an den Ufern des sich immer mehr ausdehnenden Wassers. Das alles von Menschenhand Gestaltete unter sich begrub. Immerhin haben sie überlebt, die Flut überraschte sie nicht in der Nacht. Auch wenn Nana mit allem hadert. Das Jammern Nanas überdeckt die geschäftige Betriebsamkeit der ganzen Familie, menschliches Leben zu erhalten und die täglichen Bedürfnisse für die biologischen Vorgänge des Körpers zu gewährleisten. Obwohl Bernadette sich ein anderes Leben als das, das sie lebt, gar nicht vorstellen kann, staunt sie. Über die Wüste und so viel Wasser. Das hatte sie noch nicht gesehen in all den Jahren. Und es waren viele Jahre, die ihre Haut gegerbt und ihre Zweifel mit der Zeit zerstreut hatten. Zweifel an ihren Entscheidungen, die damals so klar waren, um dann doch in den schweren Zeiten der mühsam aufgebauten Sicherheit zu weichen. Und den vielen Gedanken. Zu viele Gedanken. Zu viel Sand und zu viel Wasser. Zu viel Wind. Zu viel Sonne. Zu viel Licht, zu viel Erleuchtendes. Die Höcker der Kamele einzig ragen prall in die Luft. Die veränderten Umstände sind ihnen nicht anzusehen. Gleichmütig schauensie in die Ferne und mahlen mit ihren großen Zähnen.

      „Kleopatra?“

      Lea schreit laut angesichts der fünf Meter großen Schlange vor dem Haus.

      „Ihr habt sie nicht weggebracht? In die Wüste? Das habt ihr doch versprochen?“

      Ungehalten stürmt sie auf ihren Vater zu und trommelt mit ihren Fäusten gegen seinen beigefarbigen Umhang und spürt seinen drahtigen kräftigen Körper. Ihr ist mulmig zumute. Dann geht sie zu ihr und setzt sich vor das große mächtige Tier. Der alte Tuareg setzt sich neben sie.

      „Deine Großmutter wollte sie um jeden Preis behalten. Deinetwegen!“

      „Du lügst!“

      Lea weiß es sofort.

      „Nein, ich lüge nicht. Vielleicht verschweige ich etwas, weil ich es selbst nicht weiß. Du kannst nur noch Bernadette fragen. Nur noch Bernadette. Ich weiß, es ist ungewöhnlich. Die Leute reden über uns. Schwarze Magie sollen wir machen, wir seien Todgeweihte, so heißt es. Niemand würde je einer Schlange vertrauen. Jedoch, Lea, manchmal tun wir Dinge, die verstehen wir selbst nicht. Und doch wir müssen sie tun. Wir müssen, Lea.“

      Mit diesen Worten steht er auf und geht zu den Kamelen, die hinter dem kleinen neuen Haus einen eigenen Weidegrund haben. Lea weiß, mehr gibt es nicht zu sagen. Die Großmutter sieht Lea und dem alten Tuareg, ihrem Schwiegersohn, aus der Ferne zu. Nachts streicht sie Lea wie früher über die Stirn.

      „Sie hat genug zu fressen, Lea, genug. Das weiß sie. Sie ist eine Göttin.“

      Das Wort grausam behält sie für sich. Zu genau hat Bernadette zugesehen, wie Kleopatra ihre Opfer verschlang Bei lebendigem Leib und ganz langsam, Stück für Stück. Manchmal wunderte sich Bernadette selbst über sich, dass sie die Opfer beneidete. Nicht um die Art und Weise des Todes, den sie starben, sondern um den Tod an sich. Das Ende. Das unendlich schön sein müsste.

      Bernadette spürt in sich eine unheimliche Müdigkeit. Bleiern hat sie sich auf sie gelegt und will nicht weichen. Sie kann nicht mehr. Sie kann einfach nicht mehr. Allein der Anblick Kleopatras reißt sie aus der Monotonie des Lebens, der Mühsal, die das menschliche Leben mit sich bringt. Und das fängt mit der morgendlichen Wäsche an, dem Essen, dem Trinken, dem Besorgen von allem. Wäsche waschen, aufhängen. Feuerholz besorgen. Abwaschen. Essen zubereiten. Die Toilette. Saubermachen. Betten reinigen. Die immer müderen alten Hände. Das Gefühl, langsam auszutrocknen. Und das ist nicht nur ihre Haut. Nicht nur die müden Knochen. Nicht nur der Rücken, das Gedächtnis, das immer mehr von der Vergangenheit weiß und sich immer weniger für die Zukunft zu interessieren scheint. Auf sich achten. Und dann wieder von vorn. Immer wieder alles von vorn. Sie ist einfach nur noch müde. Und sie liebt diese Schlange. Kleopatra. Diese grausame geheimnisvolle Schönheit. Stille. Ihre Erlösung.

      Sie hört es flüstern. Erwachsene haben Geheimnisse. Immer wieder, fortwährend. Henriette liegt im Bett und sieht das Licht vom Flur durch die Ritzen der Tür schimmern.

      „Mit einem Schwan?“, jetzt kann sie die unterdrückte Stimme der Mutter hören.

      „In den Westen. Und jetzt in Bautzen, im Knast.“

      Sie scheint jemanden zu wiederholen.

      „In den Westen mit einem Schwan, schiefgegangen.“

      Die Mutter