Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!. Andrea Charlotte Berwing

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Название Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!
Автор произведения Andrea Charlotte Berwing
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783969530061



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am Tisch.

      „Komm, du bist schon spät dran, wir wollen anfangen.“ Immer dasselbe, denkt Henriette, fügt sich jedoch. Dann knabbert sie gelangweilt an ihrem Marmeladentoast. Das verzweifelte Kreischen des kleinen Vogels unterbricht das Frühstück, ein kleiner Körper klatscht von innen gegen die Badezimmertür und fällt mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Henriette lässt das Toastbrot auf den Teller fallen und rennt durch den Flur.

      „Ganz langsam die Tür öffnen, sonst zerquetschst du ihn“, ruft die Mutter ihr hinterher. Henriette versucht vorsichtig, die Tür zu schieben, mit der Hand tastet sie sich um die Tür herum und nimmt den kleinen Körper des Vogels vorsichtig in ihre Hand. Sie geht in ihr Zimmer und wartet mit Tschibi auf ihrem Teppich sitzend. Es ist ganz still. Ein Luftzug bewegt den hellen Vorhang, die Mutter hat die Fenster geöffnet. Der kleine Vogel kommt langsam zu sich, bleibt aber noch ein bisschen länger in ihrer Hand liegen als nötig und schaut Henriette aus seinen kleinen lustigen Augen aufmerksam an. Dann berappelt er sich, kommt auf seinen zwei Beinen wieder zum Stehen. Henriette führt ihn mit der Hand in den Käfig und setzt ihn vorsichtig auf den mit Sand bedeckten Boden. Tschibi beginnt benommen an den heruntergefallenen Hirsekörnern zu knabbern.

      Es klingelt wieder. Das wird Lena sein, denkt Henriette. Sie läuft zum Fenster und schaut weit hinaus, um unter das Vordach des Hauseinganges zu lugen. Doch sie kann nicht erkennen, ob Lena allein oder mit mehreren Freunden dort ist. Über den Sprechapparat kreischt die helle Mädchenstimme: „Kann Henriette jetzt raus?“

      „Ja, ich frag sie, wenn sie möchte. Wartet bitte. Und nicht noch mal klingeln!“ Die Mutter klingt streng. Dann geht die Tür zu Henriettes Zimmer auf.

      „Ich geh schon.“ Lustig hüpft sie auf einem Bein, um rasch ein Hosenbein über das andere zu ziehen. Schnell noch einen Pullunder und eine Jacke an, schon schlüpft sie durch die Wohnungstür, läuft die drei wendelförmig angeordneten Treppen hinunter und rennt durch den mit gelbem, inzwischen verschmutztem Linoleum ausgelegten Flur. Dann drückt sie den Fahrstuhlknopf. Das Fahrstuhlgeräusch hört sich weit weg an. Es dauert gefühlt Jahre, bis er ganz oben ankommt. Mit einem roten Pullover und der hellen Stoffhose bekleidet steigt sie ein und genauso langsam fährt der Fahrstuhl wieder hinunter. Neun, sechs, drei. Die Zahlen in den Knöpfen leuchten rot auf und zeigen die Stockwerke an. Wissbegierig hat sie sie schon ausgiebig studiert, die Fahrstuhlarmatur.

      Bleibt der Fahrstuhl stehen, und das kommt recht häufig vor, drückt Henriette meist alle Knöpfe. Die meisten im Anfall von Panik und Angst umsonst, auch den mit den entgegengesetzten Pfeilen. Der Knopf mit der Alarmglocke, den sie meistens zuletzt drückt, befindet sich ganz unten rechts. Der löst dann den befreienden Alarm aus. Kurz darauf gibt es über die Lautsprecheranlage einen Kontakt mit dem Hausmeister. Und Henriette muss nur noch auf Toilette. Schwitz. Und das Komische ist, es wiederholt sich immer wieder auf diese Art. Immer wieder.

      Diesmal kommt der Fahrstuhl ohne Unterbrechung unten an. Henriette schiebt die schwere Eisentür nach außen auf, da stehen schon Lena und ihre Freunde. Vor ihnen eröffnet sich eine Betonwüste. Die Straße vor dem Hochhaus ist noch nicht befestigt, gelber Sand liegt hier und da lose und in kleinen Bergen angehäuft herum. Kein Baum ist gepflanzt, blaue Wolken schweben über Sand und Beton. Die Kinder laufen zielstrebig zur nächsten Baustelle, die sich nur ein paar Meter von ihnen entfernt befindet.

      „Wir spielen Fangen“, schlägt Lorenz vor. Die anderen stimmen zu.

      „Ich beginne“, Lorenz stellt sich an eine Betonwand, hält seine Hände seitlich von den Augen und fängt mit Zählen an: „Eins, zwei, drei, ...“

      Er hört das Rascheln und Trappeln seiner weglaufenden und sich versteckenden Freunde. Henriette klettert über einen Holzbalken, der eine Betonwand von der anderen trennt. Unter ihr klafft ein Abgrund von vier Metern.

      Warte!“, flüstert sie Lena zu, die sich knapp hinter ihr anschließen will.

      Der Balken ist zu biegsam und wackelig, um zwei kleine Menschenkörper zu halten. Doch Lena muss sich auch beeilen. Paul ist gleich mit Zählen fertig. Henriette spürt, wie der Balken unter ihr nachgibt, und hält sich mit beiden Händen am Betonrand fest. Fast hat sie die rettende Betonwand erreicht. Dann spürt das blonde Mädchen, sie kann sich nicht so lange halten. Stangenklettern war noch nie ihr Ding, denkt sie in den vergangenen Sekunden. Lieber `ne Fünf kassieren. Ihre Oberarmmuskeln ziehen sich in die Länge und schmerzen, es ist ihr unmöglich, sich an der Wand hochzuziehen. Dann lässt Henriette los. Ihrem dumpfen Aufprall folgt noch ein dumpfes Geräusch: Lena.

      Henriette, noch benommen, hebt den Kopf, ihr rechtes Bein hat beim Aufkommen ein komisches Geräusch gemacht, sie spürt nichts. Noch nicht. Lena liegt ein paar Meter von ihr entfernt in einer trüben Baupfütze.

      „Wo seid ihr?“, hört sie Lorenz rufen.

      „Hier“, ihre Stimme kommt ihr eigenartig entfernt und schwach vor.

      Sie atmet noch einmal durch und versucht es lauter.

      „Hier“, es kommt keine Antwort.

      Lena atmet tief durch und bewegt vorsichtig ihre Glieder. Dann macht sie die Augen auf.

      „Mist“, ist das Erste, was Henriette mühsam und doch etwas lauter als zuvor hervorbringt. „So ein Mist.“ Nachdem sie nacheinander Hände und Füße vorsichtig bewegt hat, setzt sie sich auf. So bleibt sie minutenlang sitzen.

      Lorenz und die anderen Freunde rufen: „Wo seid ihr?“

      „Hier sind wir“, antworten Henriette und Lena im Gleichklang.

      Immer noch viel zu leise. Sie hören, wie ihre Freunde sich nähern.

      Schlangen in der Wüste sind tückisch. Sie liegen in der Sonne und passen ihre schuppige Haut der Farbe des Sandes an. Das Licht jedoch wirft Schattierungen auf die länglichen Körper, die trügerisch sind. Mal silbrig, golden, rot mit grün auf kleinen Flächen, die Farben vermischen sich und je nach Art ihrer Bewegung, entstehen verschiedenartigste Muster. Konturen der Schlangen verwischen und lassen sie durch das flimmernde Licht der Wüste plötzlich verschwinden und genauso überraschend erscheinen. Wie unberechenbare lange Götter der Wüste. Es gibt keine Anzeichen, keine Warnung, nur eine gefährliche Stille, sollten sie züngelnd zubeißen. Lea lernt früh von ihrer Großmutter, sich vor lauernden Gefahren der in unterirdischen Gängen lebenden Wüstenbewohner zu schützen. Sie lernt Achtsamkeit. Sie lernt, sich genauso zu bewegen, dass die Schlangen gewarnt werden, sie durch das Beben der Erde Lea möglichst früh fühlen werden, um dann rechtzeitig in ihren Löchern zu verschwinden. Sie trampelt durch die Wüste; ihre kleinen Füße müssen manchmal Stiche von Kakteen oder spitzen Sandkörnern ertragen, nur um nicht leichtfüßig zu laufen. Auch das scharfkantige Gras ist nicht zu unterschätzen, überall kleine Büschel, die unverhofft genau dort wachsen müssen, wo sich Karawanen durch die Wüste bewegen. Hier lernt Lea fluchen. Ihre Schuhe rutschen oft zur Seite, sind zu kurz oder schnüren sich so unerträglich in ihre Haut, dass sie sie liebend gerne auszieht. Barfuß geht sie durch das Leben. Eine dicke Hornhaut unter den Kinderfüßen ist ihr Schutz. Zu allem Überfluss sinken die Erwachsenen manchmal knietief in den Sand der Wüste ein. Lea, leichter, nur bis zu den Waden. Und manchmal zieht ihr Vater sie hoch auf Lala und dieses Gefühl wird Lea nie vergessen, dem Himmel auf einmal so nah und der Wüstensand so weit unter ihr. Und dieser Thron zwischen den beiden Höckern, den Lala ihr bietet, lässt Lea sich einmal mehr als Königin der Wüste fühlen.

      Heute, es ist Freitag, läuft sie allein in die Wüste hinein, so weit ihre Füße sie tragen, die Schlangen sind ihr heute egal. Ein kindlicher Trotz macht sich in ihr breit. Die Großmutter hat sie immer gewarnt, sollte sie von einem Schlangenwesen mit krummen Füßen träumen, so solle sie es wieder wegschicken. Sich ihm nicht hingeben. Die bringen Unglück über die Familien der Träumenden. Unglück. Lea hat nie von solchen Dingern geträumt. Kein einziges Tier hat krumme Füße. Weder die Kamele noch die Hyänen, die hungrig herumstreiften, als auch Gazellen.

      Verkrüppeltes Gesträuch, davon gab es genug hier. So weit das Auge blicken konnte; vor allem in der Nähe der wenigen