Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!. Andrea Charlotte Berwing

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Название Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!
Автор произведения Andrea Charlotte Berwing
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783969530061



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Sprache ist lebendig, Familie auch. Und wir zahlen ja alles; da sollte es ja wohl keine Probleme geben mit den Behörden.“

      Iris glaubt es auch noch Tage später nicht. Zu sehr verwob sich ihr insgeheimer Wunsch mit der Realität. Sie kümmert sich liebreizend um Lea, die jetzt zu Hause von ihr gepflegt wird. Abends liest sie ihr Geschichten vor und zeigt ihr Bilder dazu. Leas Lieblingsbuch ist ein Russisches: Der Feuerdrachen. Lea, die sich ebenfalls in einem Traum befindet, saugt die neuen Eindrücke förmlich auf. Die deutsche Sprache, so befindet Lea für sich, hört sich an wie Trommelschläge auf dumpfem Holz mit einem leichten schönen Klingeln darin, wie von heiligen Glocken. So eine, die Iris immer benutzt, wenn sie zum Essen ruft. Lea fängt an, Iris zu beobachten und zu entdecken. Die feinen Linien um ihre Augen herum, die meisten sind Lachfalten, der gutmütige Blick ihrer blauen Augen. Der immerwährende Schalk in ihnen, wenn sie ihren Mann Bernd anschaut, und das Glucksen ihres Lachens. Die rundliche Silhouette gibt Lea ein Gefühl von Geborgenheit. Urplötzlich kommt Bewegung in Bernd und Iris. Lea soll eingeschult werden. In vier Wochen ist es so weit. Zuckertütenfest. Iris lernt mit Lea im Eiltempo Deutsch, sie kauft sich eigens ein Fremdsprachenbuch dafür in Leas Sprache, mit dem sie nun zusammen lernen. Morgens, mittags und abends, je zwei Stunden büffeln. Schreiben fällt Lea unendlich schwer, Iris rauft sich verzweifelt die Haare, doch sie kämpfen sich durch, Strich für Strich, Kurve für Kurve, Zeile um Zeile.

      Henriettes Mutter kommt ins Zimmer gerannt, es ist Mitternacht. Die überraschte Henriette schafft es nicht einmal mehr, die Taschenlampe unter der Bettdecke verschwinden zu lassen, doch das ist der sonst so gestrengen Mutter egal.

      „Susanne ist krank, deine Schwester.“

      Henriette hört zu und merkt, wie sie auf einmal müde wird. Bleiern. Fred, Madleen, die fehlenden alten Freunde, Tschibi und jetzt Susanne. „Sie sieht doch gesund aus“, entgegnet sie der Mutter.

      Dann fängt die Mutter an zu weinen. Von nun an kommt Henriette immer öfter am Wochenende zu ihrer Tante, die ein paar Kilometer weiter weg mit ihrem Mann in einer Datsche wohnt. Ein Apfelbaum wächst dort im Schrebergarten, außerdem gibt es Kaninchen. Einer Häsin bindet die tierverliebte Henriette eine blaue Schleife um, die soll nicht geschlachtet werden, sagt sie ihrer Tante. Die Tante nickt.

      Die Datsche hat einen Eigengeruch, den Henriette nicht einordnen kann, es ist eine Datsche aus Pappe, wie sie bemerkt. Als sie mit dem Finger gegen die Wand der Datsche pocht, klingt es so wie die Luftballons, die sie in der Schule mit nassem Papier beschichten, um Gesichter zu basteln. Und vielleicht riecht sie auch ein bisschen nach Klebstoff. Die Wand.

      Die Welt bleibt für Henriette übersichtlich. Klein. Mit Fred, ihrem besten Freund. Der für einen Rauhaardackel ziemlich stark nach Urin riecht. Nach dumpfem Hund, doch das stört sie nicht. Nach Hause mitbringen darf sie ihren Freund nicht. Und wenn sie mit ihm draußen war, besteht die Mutter darauf, dass sich Henriette im Bad die Hände wäscht.

      Für weitere Abwechslung sorgt der Intershop, an dem sie oft vorbeiläuft. Manchmal sind sie mehrere Kinder, die dort vorbeilaufen und den Geruch von Kinderschokolade und Kaffee neugierig in ihre kleinen Riechorgane einsaugen. Es riecht nach Limonenseife, vermischt mit nussigen Komponenten. Nach Riesenüberraschung. Nach Kakao. Nach geheimnisvollem, raschelndem Papier. Aus den Reisebussen, die an der Grenze stehen, werden manchmal ungefragt Nimm Zwei-Bonbons geworfen und Schokolade. Am besten schmeckt Henriette die Schokolade aus den Kinderüberraschungseiern. Die zunehmende Sorge der Mutter um ihre Schwester tangiert sie nicht. Sie kann nichts sehen, nichts fühlen. Kranke Menschen sehen anders aus, befindet Henriette.

      „Was hast du denn? Mutter sagt, du bist krank“, fragt sie eines Nachmittags, als sie zusammen Mensch-ärgere-dich-nicht spielen.

      Susanne ist gerade dabei, zu gewinnen; sie hat schon ein Haus voll. Gelb und rot ihre Farben, Henriette spielt mit den grünen und blauen Männchen. Henriette würfelt zwei Sechsen und platziert ein grünes Männchen zielsicher im Haus, dann bewegt sie eines auf dem Feld vier Plätze weiter.

      „Nichts.“

      Henriette ist erstaunt.

      „Wie nichts?“

      Susanne zwirbelt ihre dunklen Locken und wippt mit dem rechten Fuß.

      „Na, nichts. Mutter denkt, ich bin ein bisschen blöd, kann nicht gut rechnen und schreiben. Jetzt macht sie fast alles für mich. Mir soll‘s recht sein.“

      Henriette ist jetzt schlauer als vorher. Susanne kam ihr noch nie blöd vor. Eher manchmal petzerisch, weil sie der Mutter brühwarm alles von ihrer Schwester erzählt, was sie weiß. Henriette findet Zettel mit Nachrichten wie diesen: „Henriette hat die ganze Schokolade aufgegessen.“, „Henriette hat laut Musik gehört.“, „Henriettes Freundin war hier.“ Und das auch noch ungefragt. Sie hat nie gehört, dass die Mutter Susanne dazu aufgefordert hätte.

      Und Susanne wusste Jahr für Jahr, Monat für Monat, Stunde für Stunde immer weniger, weil Henriette ihr nichts mehr erzählte. Fast nichts. Erzählen wollte. Nicht aus ihrer Welt.

      Lea hört wie aus der Ferne bekannte Stimmen und Klänge und eine Sprache die auf ihrer Haut eine Gänsehaut erzeugt. Eine Frau rast auf sie zu und umarmt sie. Lea schaut sie mit großen Augen an, die Frau kneift ihr in die Schultern und ist außer sich vor Freude. Es ist ihre Mutter. Lea nimmt die Silhouette eines großen Mannes wahr, der aufmerksam in ihre Richtung schaut. Neben ihm eine kleine gebeugte Frau, Bernadette, ihre Großmutter. Über die so viel erzählt wurde bei Iris und Bernd. Lea hält den Griff ihres lilafarbigen Koffers ganz fest, den Iris zusammen mit ihr für ihre Rückreise gekauft hat.

      „Meine Lea, du hast mir so gefehlt, du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr du mir gefehlt hast. – Okkoz – vier Jahre, Ma tolahed? Wie geht es dir? Anshahi d! Verzeih mir! Anshahi d!“

      Instinktiv erinnerte sich Lea noch daran, dass es bei dem Stamm ihres Vaters nicht üblich ist, darauf zu antworten. Ganz im Gegensatz zu Bernd und Iris. Wenn man um Verzeihung für etwas bittet, gibt es immer eine Antwort. Jetzt fallen Lea die Tränen von Iris ein, der schwere Moschusduft ihrer Haare beim Abschied. Ihre Tränen, die Tränen einer Mutter. Und Bernd, der wahrscheinlich vor vier Jahren noch nicht ahnte, wie viel es ihm bedeutete, Lea in seiner Familie zu haben, und dessen Liebe und Achtung zu Iris stetig wuchs. Wenn auch das ein ungleicher Vergleich war, hat Bernd doch Iris vom ersten Augenblick an geliebt, wie sie Lea oft erzählten. Iris dagegen hat Bernd erst lieben gelernt. Er hat sie lange und mühsam erobern müssen. Fast nicht mehr dran geglaubt.

      Lea sieht ihren Vater, der ihr wohlwollend unter seinem Turban zuzulächeln scheint, auch wenn Lea seine Nase und seinen Mund mit den markanten Wangenknochen nicht sehen kann. Er steht aufrecht und stolz in der Flugplatzhalle, deren Seitenwände immer noch offenstehen, Menschen in bunten Kleidern laufen rechts und links an ihm vorbei. Kein Wind, kein Sandsturm und kein Mensch haben ihren Vater jemals gebeugt gesehen. Lea ist vom Redeschwall Nanas überfordert. Sie ist müde und umarmt Nana sanft. Nana nimmt sie an die Hand und zieht sie zu ihrer Großmutter, die mindestens einen Kopf kleiner als Nana ist, jedenfalls kommt ihr das auf die Entfernung so vor. Doch jetzt, wo sie vor ihrer Großmutter steht, sehen sie sich auf Augenhöhe an. Die runzeligen Hände Bernadettes umrahmen das Gesicht Leas, dann küsst sie sie zweimal auf jede Wange. Lea spürt die warmherzige Art der Großmutter und langsam beginnt sie sich heimisch hier zu fühlen. Sie riecht den alten Vater Wüstenwind, der sich über das ganze herrschaftliche Land erstreckt und gibt ihrem Vater die Hand. Der Vater beugt sich urplötzlich zu ihr hinunter und umarmt sie fest.

      „Endlich bist du wieder hier, endlich! Herzlich willkommen!“

      Lea spürt es, als würde sie etwas Salziges auf ihren Lippen schmecken. Die Tränen ihres Vaters?

      Henriette schaut sich Berlins Mitte an. Die altbekannte Mauer, deren Löcher sie grau in grau die letzten zwei Jahre begleiteten. Fred trottet neben ihr her. Die Aufmerksamkeit Henriettes hat er nicht. Ab und zu wirft der temperamentvolle Rauhaardackel ein paar warme Blicke hoch